SECHS

Die zahnmedizinische Fakultät auf dem Hügel über Portland nahm nur einen kleinen Teil des weitläufigen Campus’ der Oregon Health Sciences University ein. Auf jedem Behandlungsstuhl zwischen den altersgrauen Mauern saß ein Mensch mit offenem Mund.

Lacey sah zu, wie ein Student die kariösen Stellen vom Zahn eines kleinen Mädchens entfernte. Nicks hochgezogene Augenbrauen und die weit aufgerissenen Augen sagten ihr, dass er kaum fassen konnte, wie groß das Loch war. Ihr ging es genauso. Das Ding sah aus wie ein Mondkrater. Mit seinen zehn Jahren war dieses Kind noch nie bei einem Zahnarzt gewesen. Aber wenigstens hielt die Kleine still und ließ Nick seine Arbeit tun. Manchmal zappelten die jungen Patienten wie … Verdammt! Lacey rückte näher, damit sie Nick etwas in Ohr flüstern konnte.

»Wenn Sie noch tiefer bohren, wird eine Wurzelbehandlung draus und keine Füllung.«

Beim Klang von Laceys Stimme riss Nick das Instrument geradezu aus dem Mund des Kindes und richtete sich auf. Lacey sah, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Sie verkniff sich ein Grinsen. Solche Reaktionen waren bei ihren Studenten nicht selten. Nick schluckte. Lacey sah unterhalb der blauen Chirurgenmaske seinen Adamsapfel hüpfen. Das kleine Mädchen blinzelte Nick verwundert an.

Braves Kind. Hat viel Geduld mit seinem Nachwuchsdentisten.

Lacey schaute auf die Uhr und betete, dass die Praxisübung, die jeden Montag stattfand, bald zu Ende war. Aber sie musste noch zwei Stunden durchhalten. Sie verzog das Gesicht. Das gleißende Neonlicht der betagten Praxisräume verschlimmerte die stechenden Kopfschmerzen hinter ihren Augen.

Auch der Stress vom Wochenende war nicht spurlos an ihr vorbeigegangen.

Schließlich identifizierte man nicht jeden Tag das verschollene Skelett der besten Freundin. Nach der stundenlangen Befragung durch die Polizei am Samstag hatte sie den ganzen Sonntag verschlafen.

Die Alpträume hatte sie sich mit Tranquilizern vom Hals gehalten.

Und damit gegen ihren eigenen ehernen Vorsatz verstoßen. Diese Art von Flucht war zu einfach.

Seit Samstagmorgen befand sie sich auf einer emotionalen Achterbahn. Ein derart heftiges und schmerzhaftes Auf und Ab hatte sie seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr erlebt. Lacey rieb sich die Schläfen. Die Gefühle, die sie so sorgfältig unter Verschluss gehalten hatte, drohten nun zu explodieren.

Das ganze Wochenende über war sie nicht ans Telefon gegangen. Ihr Vater hatte einige Nachrichten auf ihren Anrufbeantworter gesprochen – aber nicht halb so viele wie Michael. Sie nahm an, dass Michael bereits am Samstagmorgen von Suzanne erfahren hatte. Als Reporter einer namhaften Zeitung hatte man gewisse Verbindungen. Michael kannte Laceys Geschichte so gut wie Suzannes. Bis ins kleinste grässliche Detail.

Aber Lacey wollte noch nicht reden.

Michaels letzte Nachricht auf dem Anrufbeantworter hatte gelautet, er würde kommen und an ihre Tür wummern, wenn sie nicht sofort ranginge. Und das am Sonntagmorgen um zwei. Lacey wusste, dass er nicht bluffte. Für einen zum guten Freund mutierten Exfreund war Michaels Beschützerinstinkt eindeutig zu stark ausgeprägt. Sie hatte ihm eine SMS geschickt: »JETZT NICHT.« Seither ließ er sie in Ruhe.

Sie hätte mit Michael reden sollen. Er hätte sie darauf vorbereitet, dass der Knochenfund heute auf sämtlichen Titelseiten Thema sein würde. Mit der Kaffeetasse in der Hand hatte sie die Zeitung von der Veranda geholt und die Schlagzeile hatte ihr die Kehle zugeschnürt. »Überreste des letzten Opfers des College-Girl-Killers in Lakefield gefunden.« Doch beim Anblick von Michaels Namen unter dem Artikel hatte sie durchgeatmet. Die Zeitung landete ungelesen im Altpapier. Lacey wusste, dass Michael sich eher die Hand abhacken würde, als in einem seiner Artikel ihren Namen zu erwähnen.

Sie ließ die Augen über die quirlige Schar von Studenten, Patienten und Lehrpersonal in dem übervollen Behandlungsraum schweifen. Weil sie keine panischen Blicke von Studenten auffing, machte sie sich auf den Weg zum Personal-Aufenthaltsraum. Dort warteten in ihrer Tasche die Kopfschmerztabletten.

Auf dem Weg zur Tür bemerkte sie hilflos fummelnde Finger im Mund einer älteren Frau. Lacey blieb stehen. Seufzend zog sie sich Handschuhe über und legte ihre Hände auf Jeffs. Er versuchte gerade äußerst zögerlich, einen Abdruck von den Zähnen im Unterkiefer der Patientin zu machen. So konnte das nichts werden.

»Sie müssen die Lippe beiseite ziehen und der Löffel muss auch seitlich gut aufliegen. Dann halten Sie ihn ruhig, sonst sieht der Abdruck hinterher völlig anders aus als das Gebiss der Patientin.« Mit sicherem Griff zog Lacey die Unterlippe der Frau beiseite und brachte den Löffel mit der Abdruckmasse in die richtige Position. Jeff runzelte angespannt die Stirn. Er warf einen Blick auf die Uhr.

»Wie lang muss ich warten, bis das Zeug fest ist?«

»Arbeiten Sie nicht nach der Uhr.« Lacey tippte mit dem Finger auf die klebrige pinkfarbene Masse, die über die Lippe der Patientin quoll. »Prüfen Sie einfach etwa alle zwanzig Sekunden die Beschaffenheit. Wenn das Material nicht mehr klebrig ist, sondern sich fest anfühlt, ist der Abdruck fertig. Normalerweise dauert das nicht länger als ein oder zwei Minuten.«

Jeff nickte ernst und fing an, das Material alle fünf Sekunden zu testen. Lacey gab sich Mühe, nicht die Augen zu verdrehen.

Sie zwang sich zu warten, bis der Abdruck fertig war, und nicht an ihre bohrenden Kopfschmerzen zu denken. Aus purer Gewohnheit schaute sie sich die Röntgenaufnahme auf dem Leuchtschirm an. Am Rand war handschriftlich das Aufnahmedatum vermerkt.

»Die Aufnahme ist neu? Die haben Sie heute erst gemacht?«

Das Bild zeigte, dass die Patientin im Oberkiefer keine Zähne mehr hatte und dass die verbliebenen Zähne im Unterkiefer jeweils nur noch von knapp sechs Millimetern Knochensubstanz gehalten wurden. Einem Bruchteil der üblichen Stärke. Jahrzehntelang unbehandelte Zahnfleischerkrankungen hatten den Knochen zerstört und die Zähne saßen nun sehr, sehr locker.

Jeff nickte und tupfte noch einmal gegen die Abdruckmasse. »Die Aufnahme ist von heute Morgen. Ich brauche einen Abdruck der Zähne im Unterkiefer. Nächste Woche ziehen wir sie und bereiten alles für die Unterkieferzahnprothese vor.«

Lacey biss sich auf die Lippe und versuchte, nicht zu grinsen. Sie sah sich nach einer anderen Lehrkraft um. Sie brauchte Zeugen. Verflixt. Es war niemand greifbar.

Die Abdruckmasse war inzwischen fest und Jeff ruckelte halbherzig an dem Löffel im Mund der Patientin. Die starke Saugwirkung sorgte dafür, dass er unverrückbar an seinem Platz saß.

In den hellen Augen der alten Frau lag ein seltsamer Ausdruck, aber Lacey wusste, dass das, was gleich passieren würde, nicht wehtat. »Schieben Sie die Fingerkuppe unter den Rand, damit Luft eintreten kann. Dann heben Sie den Löffel an.« Lacey konnte nur nuscheln, weil sie sich beim Sprechen innen auf die Wange beißen musste, um nicht laut loszulachen. Jeff entfernte den Löffel mit einem beherzten Ruck.

»Oh Kacke!«

Jeffs Aufschrei übertönte sämtliche anderen Geräusche im Raum. Er ließ den Löffel in den Schoß der Patientin fallen und sprang von seinem Stuhl. Alle Augen richteten sich auf ihn. In der pinkfarbenen Abdruckmasse steckten fünf blutige Zähne.

Die Patientin machte keinen Mucks.

»Alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?« Lacey legte der Frau eine Hand auf die Schulter.

Die Frau rubbelte sich ein wenig Abdruckmasse von der Lippe und betrachtete die Katastrophe in ihrem Schoß mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich habe fast nichts gemerkt. So leicht hat mir noch keiner einen Zahn gezogen.« Sie betastete die drei restlichen Zähne in ihrem Mund. »Können Sie die auch so rausmachen?«

»Hmm.« Lacey tippte mit dem Fuß auf den Boden. Sie spürte, wie ihre Kopfschmerzen verflogen. »Mal sehen. Aber die Behandlung heute ist für Sie auf jeden Fall kostenlos.«