ZWEIUNDDREISSIG

Es ging alles viel zu leicht.

Während die Polizei mit seinem Haus beschäftigt war, versteckte er sich einfach in einem Nachbarhaus. Die Besitzer hatten ihn gebeten, ihren Hund zu füttern, so lang sie im Urlaub waren. Er mochte Hunde und das Heim seiner Nachbarn war das perfekte Versteck, von dem aus er zuschauen konnte, wie die Polizei sein Haus umstellte. Sogar seinen Wagen hatte er in die fremde Garage gefahren.

Zum Glück bedeutete er seiner Mutter wenigstens noch so viel, dass sie ihn angerufen und gewarnt hatte.

Am Telefon hatte sie ziemlich unsicher geklungen, sich vermutlich gefragt, ob sie das Richtige tat. Wie üblich hatte er sie beschwatzt, ihr über seine Beteiligung an den laufenden Fällen Lügen aufgetischt und behauptet, die Polizei wolle ihm etwas anhängen, weil er Daves Bruder war. Er hatte ihr weisgemacht, er würde mit der Polizei sprechen und alles in Ordnung bringen.

So leichtgläubig. Das waren alle Frauen.

Selbst die unnahbare Dr. Campbell.

Völlig arglos hatte sie ihm abgenommen, Detective Callahan wolle sie zu ihrer eigenen Sicherheit von der Straße weghaben. Er solle sie im Auftrag des Detectives in ein Haus bringen. Die Polizisten an der Absperrung waren von den Ereignissen weiter hinten in der Straße abgelenkt gewesen. Weil sie für alles andere keinen Blick hatten, bemerkten sie auch nicht, dass Lacey aus dem Truck stieg und mit zu einem Haus ging. An einem kurzen Aufflackern in ihrem Blick sah er, dass er ihr bekannt vorkam. Aber wann und wo sie ihn schon einmal gesehen hatte, fiel ihr in dem Moment noch nicht ein. Mit der dunkelblauen Mütze und der dunkelblauen Windjacke sah er aus, als gehöre er irgendwie zu den Polizeikräften. Wahrscheinlich nahm sie an, sie hätte ihn schon einmal zusammen mit den Detectives gesehen. Ohne dass ihr eingefallen wäre, woher sie sein Gesicht tatsächlich kannte, folgte sie ihm.

Als sie durch die Haustür traten und er ihr die Hand ins Kreuz legte, fiel es ihr plötzlich ein.

Aber jetzt war es zu spät. Die Tür hatte sich bereits hinter ihr geschlossen. Was nun folgte, würde dasselbe sein wie bei der Harper-Frau: Lappen aufs Gesicht, zum Einatmen zwingen, ab in den Wagen.

Aber die hier wehrte sich. Wie eine wütende kleine Katze. Zwei Bilder schlug sie dabei von der Wand, eine kleine chinesische Statue zersprang. Die zierliche Frau ging mit Zähnen, Fingernägeln und Füßen auf ihn los.

Behutsam betastete er sein Gesicht. Den Kratzer auf der Wange und die Bissspuren am Arm würde man in einer Woche noch sehen. Schlampe.

Kein Polizist hatte auch nur in seine Richtung geschaut, als er aus der Garage gefahren war. Die zahllosen Abdrücke der Polizeistiefel und die Reifenspuren der Streifenwagen würden seine eigenen Spuren überdecken.

Während er den Kaffee in sich hineinschüttete, sah er sich im Hauptraum der Hütte um. Er musste sich vorbereiten. Die Polizei hatte sein Haus gefunden und hierher würden sie auch kommen. Genau wie er es haben wollte. Hier draußen, mitten im Wald, war er allein. Die windschiefe Hütte hatte er schon als Kind geliebt und zusammen mit Dave während der Jagdsaison oft Monate hier verbracht. Ganz gleich, ob sie Menschen oder Tieren nachstellten. Hier hatte sein Bruder ihn in seine geheime und ganz besondere Welt eingeführt, was ihm natürlich sehr geschmeichelt hatte. Zusammen hoben sie einen Keller aus, versahen ihn mit Betonwänden und einer schweren Tür, damit sie ihre Frauen darin einsperren konnten.

Damals war ihm aufgefallen, dass sein Bruder mit den Frauen schlampig und nachlässig umging. Keine Finesse. Kein Gefühl für technische Details. Dave erledigte die Sache nur einfach irgendwie.

Er hingegen hatte gemerkt, dass Töten so viel mehr sein konnte. Erst der Kick beim Belauern der Beute und während der Jagd – später das Machtgefühl, wenn die Opfer in seiner Hand waren. Auch sich ein Markenzeichen zuzulegen, hatte seinen Reiz. Den Mädchen, die Dave entführte, die Oberschenkel zu brechen, war seine Idee gewesen. Und bei seinen eigenen Morden behielt er das Ritual bei. Einerseits konnte das Opfer dann nicht mehr fliehen, andererseits war der Oberschenkelknochen der längste und einer der stärksten Knochen des menschlichen Körpers. Ihn zu brechen, war ein Ausdruck von Allmacht. Mit zunehmenden Fertigkeiten hatte er ein weiteres Erkennungsmerkmal hinzufügen können, das ihn von nachlässigeren Killern unterschied: Er verwendete Gegenstände aus dem Umfeld der Opfer. Damit zeigte er, dass er sie beobachtet und seine Handlungen exakt geplant hatte. Er lächelte hinter der Kaffeetasse. Seine heutige Perfektion war das Ergebnis jahrelanger Vorarbeit. Die drei letzten Morde waren echte Kunstwerke.

Dass er das Mädchen aus Mount Junction mit ihrem Wagen in den Fluss geschoben hatte, bedauerte er noch immer. Das war sein erster Mord ganz ohne David gewesen, und er hatte sich Sorgen wegen der Spuren gemacht. Deshalb hatte er die Leiche loswerden und alle Hinweise beseitigen müssen. Außerdem fehlte ihm im Südosten Oregons ein abgelegener Ort, an dem er jemanden ein paar Tage lang verstecken konnte. Trotz der Eile hatte er immerhin an sein Markenzeichen, die gebrochenen Oberschenkel, gedacht. Dass der Reporter vom The Oregonian endlich die richtigen Schlüsse gezogen hatte, war ein später Triumph. Er wollte Anerkennung für seine Arbeit, hatte aber keine Möglichkeit gefunden, damit gefahrlos an die Öffentlichkeit zu gehen. Danke, Mr Brody.

Er zog ein Fotoalbum aus dem obersten Fach des Küchenschrankes und blätterte vorsichtig darin. Die Bilder verfärbten sich zunehmend. Seine Lieblingsfotos hatten Eselsohren von den vielen Berührungen im Lauf der Jahre. Eigentlich hatte das Album selbstklebende Seiten, auf denen die Fotos halten sollten. Doch inzwischen musste er sie mit Klebestreifen oder Klebstoff befestigen.

Mit geschürzten Lippen betrachtete er einen Schnappschuss von Amy Smith auf einem Schwebebalken. Warum er es damals geklaut hatte, wusste er selbst nicht genau. In dem Glauben, die Turnerin sei zu Hause, war er in ihre Wohnung eingebrochen. Aber er hatte sich getäuscht. Das machte ihn wütend. Er wollte sie aus tiefster Seele. Seit er sie auf einer Plakatwand am Highway in Mount Junction zum ersten Mal in dieser herausfordernden Pose gesehen hatte. Von da an war er den Turnerinnen überall hin gefolgt, hatte Amys Namen herausgefunden und wo sie wohnte. Dann war er endlich bei ihr und sie war nicht da. Deshalb hatte er in ihren Sachen gewühlt und sich über die Banalität des Lebens eines College-Girls gewundert. Es gab Poster von Rockbands, billige Stofftiere von irgendwelchen Jahrmärkten, Kleider, Kleider und noch mehr Kleider.

Die Bilder von Amy, Suzanne und Lacey hatte er sich so intensiv eingeprägt, dass er irgendwann geglaubt hatte, er hätte sie selbst aufgenommen und die lachenden Mädchen wären seine Freundinnen, die für ihn vor der Kamera posierten. In eng anliegenden Trikots, die kaum etwas verhüllten, in Stellungen, die ein ungeheures Gleichgewichtsgefühl und phänomenale Geschmeidigkeit verlangten. Seine Faszination für Turnerinnen rührte aus dieser Zeit. Jahre später hatte er seinen Besuch bei Dave in Oregon so gelegt, dass er mit dem Turnwettkampf in Corvallis zusammenfiel, bei dem auch das Team der Southeast Oregon University antrat. Er hatte seinem Bruder die Bilder gezeigt, eine Turnerin als nächstes Opfer vorgeschlagen, und Dave dafür begeistern können. Das Ergebnis war Suzanne.

Es hätte auch Lacey sein können.

Er strich über die raue Wand seines Verstecks. Kein fließendes Wasser. Nur ein einfacher Ofen zum Heizen und Kochen. Und Ruhe. Hier fühlte er sich eins mit der Natur, lebte das Leben eines Siedlers von vor zweihundert Jahren. Jagen. Fallen stellen. Von Generatoren, fertig gekauftem Feuerholz, Gaslampen und Dosenöffnern wollte er nichts wissen.

Die Polizei hatte nie eine Verbindung zwischen dieser Hütte und seinem Bruder hergestellt. Eigentlich hatte die Bude einem Bekannten seiner Mutter gehört, der den Jungen erlaubte, sie zu benutzen. Vor Jahren hatte er den alten Mann überredet, ihm die Hütte zu verkaufen. Schließlich interessierte sie den Alten schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Zwanzig Jahre lang waren die beiden Brüder die einzigen gewesen, die die Hütte benutzt hatten.

Inzwischen gehörte sie ihm allein. Auf der Suche nach einem Job oder einem Mann, der sie aushielt, war seine Mutter mit ihm durch sämtliche Staaten des Westens gezogen. Er hatte sich immer nach einem echten Zuhause gesehnt. Das war die Hütte für ihn schließlich geworden. Hier fühlte er sich verwurzelt.

Obwohl es im Wald recht einsam sein konnte. Er vermisste seinen Bruder, die Gespräche über Fesselspiele, Sexsklavinnen und Waffen. Der Zorn darüber, dass sein Bruder im Gefängnis sterben würde, hatte ihm die Kraft gegeben, sich an denen zu rächen, die ihn in den Knast gebracht hatten. Hier in der Hütte hatte er den perfekten Plan geschmiedet.

Welche Rolle sein kleiner Bruder beim Tod der College-Girls gespielt hatte, hatte Dave nie jemandem verraten. Auch über Suzannes Schicksal hatte die Polizei nichts gewusst, denn sie war sein ganz spezielles Projekt gewesen, nicht Daves. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte er mit der Idee gespielt, sich eine Sexsklavin zuzulegen. Eine Frau, die verfügbar war, wann immer er sie wollte, und verschwand, wenn er genug hatte. Er war ein frustrierter Teenager gewesen, mit dem Mädchen nichts zu tun haben wollten, und hatte bereits bezweifelt, dass er je Sex haben würde. Dave hatte die Idee mit der Sexsklavin nicht gefallen. Aber er hatte sich nicht davon abbringen lassen. Sie hatten dann einen Onlinenewsletter für Leute angezapft, die mit Sexsklaven handelten, ihre Gewohnheiten studiert und wie sie vorgingen. Er hatte Suzanne für immer behalten wollen. Dieses wunderschöne Haar, das Temperament.

Als er spürte, dass sich zwischen seinen Beinen etwas regte, ballte er die Hände zu Fäusten.

Es hatte nicht funktioniert. Sein großer Bruder hatte recht behalten. Suzanne ging ihm mit ihrer großen Klappe auf die Nerven und wehrte sich erbittert gegen alles. Dann war sie schwanger geworden und ihn hatte der plötzlich aufkeimende Wunsch nach einer Familie überrascht. Mommy, Daddy und ein Baby. Aber Suzanne war dafür nicht gefügig genug gewesen. Für so etwas hatte er sich die falsche Frau ausgesucht. Nach der Geburt des Babys hatte er sie beseitigt und tief im Wald begraben. Dave hatte die Opfer immer an Stellen abgelegt, wo sie gefunden wurden. Aber er wollte Suzanne für sich haben. Wenn schon nicht im Leben, dann wenigstens im Tod.

Er dachte an Lacey, die gemütlich und still im Keller der Hütte lag. Wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn sein Bruder Lacey statt Suzanne entführt hätte? Hätte sie ihn genauso wie Suzanne dazu getrieben, sie zu töten? Oder gäbe es heute eine Familie?

Fragen. Fragen. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich mit dem Was-wäre-wenn-Spiel zu quälen.

Auf der Fahrt von Molalla zur Hütte hatte er Lacey eine Spritze gegeben, weil er wusste, dass das Mittel, das sie eingeatmet hatte, nicht lang wirken würde. Sie war leichter zu transportieren gewesen als die Harper-Frau. Vermutlich wog sie kaum mehr als fünfundvierzig Kilo.

Er fläzte sich in einen zerschlissenen Polstersessel und dachte an Melody Harper. Sie zurückzulassen, war die reine Verschwendung gewesen. Aber immerhin hatte sie ihren Zweck als Köder erfüllt. Harper und Lacey waren aus ihrem Versteck gekrochen, als hätte er sie persönlich angerufen. Genau wie er es vorhergesehen hatte. Perfekte Planung.

Es wäre nett gewesen, einige der pikanten Szenarien, die er sich für Melody ausgedacht hatte, in die Tat umzusetzen. Ihr Name gefiel ihm. Melody. Das klang nach Musik. Nach Klavier- und Gitarrensaiten. Nach Geigenbögen und Trommelstöcken. Er wählte gern ein Thema für seine Arbeit. Das steigerte seine Kreativität.

Er hörte ein Summen.

Ärgerlich sprang er auf und warf zwei perfekt zugesägte Holzstücke ins Feuer. Einen Moment lang schaute er auf ein Knie gestützt zu, wie die roten und gelben Flammen an den neuen Holzscheiten leckten. Anfang und Ende.

Er war beinahe am Ziel. Manchmal kam es ihm vor, als arbeite er seit Ewigkeiten an der Umsetzung seiner Pläne. Sorgfältig hatte er Suzannes Knochen ausgegraben und sie dann zusammen mit der Dienstmarke in dem Kellerloch unter dem Mehrfamilienhaus versteckt. Zwar war nicht immer alles exakt nach seinen Vorstellungen gelaufen, doch er war immer noch gut in der Zeit und saß jetzt genau da, wo er sich am Ende hatte sitzen sehen wollen.

Seine Liste von fünf Opfern hatte er weitgehend abgearbeitet. Drei waren tot, eines wartete im Keller und eines kannte er leider nicht. Wenn es ihm doch nur gelungen wäre herauszufinden, wer die fünfte Person war. Derjenige, der Dave mit dem HI-Virus infiziert hatte. Wegen dem er an Aids gestorben war. Dann hätte er die Schwuchtel erledigt. Stattdessen musste er einfach annehmen, dass der Homo langsam an der Krankheit verrecken würde. Vielleicht war er auch schon krepiert.

Er schloss die Augen. Heute war der zehnte Jahrestag von Daves Verurteilung. Ein Nachhall des Schmerzes, der ihn in dem Moment durchzuckt hatte, als der Richter den Hammer niedersausen lassen und seinen Bruder in den Knast und in den Tod geschickt hatte, ließ ihn mit den Zähnen knirschen.

Der Cop, die beiden Anwälte und die Zeugin. Schade, dass der Richter bereits gestorben war. An einem Lungenemphysem. Kein schöner Tod. Man rang verzweifelt nach Atem, während die Lunge langsam ihren Dienst quittierte und der Körper nach Sauerstoff schrie. Gut.

Eine Zeitlang hatte er überlegt, ob er Jack Harper und Michael Brody ebenfalls auf seine Liste setzen sollte. Die beiden hatten ihm immer wieder das Leben schwergemacht und seine Pläne ein paarmal fast durchkreuzt. Aber das reichte nicht aus, um sie zu eliminieren. Brody hatte so schön über seinen Kreuzzug geschrieben. Robert liebte die Artikel über seine Taten und über die Unfähigkeit der Polizei, die ahnungslos im Dunkeln tappte. Und Harper hatte ihn immer wieder vor Herausforderungen gestellt und damit zu neuen Höchstleistungen angespornt. Harpers Mietshaus hatte er ganz bewusst als Ablageplatz für die Knochen ausgesucht, um die Ermittlungen in die falsche Richtung zu lenken. Immerhin hatte Harper eine Zeitlang zum Kreis der Verdächtigen im College-Girl-Killer-Fall gehört. Er stützte die Hand gegen den Kaminsims und verzog das Gesicht. Dass Harper und Lacey Campbell zusammen im Bett landen würden, war allerdings nicht Teil seines Plans gewesen.

Kelly Cates hatte ebenfalls für eine Überraschung gesorgt. Er kniff die Lippen zusammen. Vielleicht hatten die Morde ihr Angst gemacht und sie versteckte sich jetzt. Immerhin war sie auf ihre ganz eigene verquere Art in die ursprünglichen College-Morde verwickelt.

Sie hatte gute Gründe, nervös zu sein.