NEUNZEHN

Im Barrington Drive parkten die Streifenwagen dicht an dicht. Für Zivilfahrzeuge war das vornehme Viertel im Augenblick gesperrt. Er ließ den Blick über die Szenerie schweifen. Gemeinsam mit den Nachbarn und den Medienvertretern stand er so dicht wie möglich an den gelben Absperrbändern. Cops in Uniform sicherten das Band im Abstand von jeweils zwei Metern. Wie viele Einsatzkräfte brauchte man, wenn das Opfer schon tot war?

Er wischte sich das Grinsen aus dem Gesicht. Die medienwirksame Mordserie sorgte dafür, dass die Cops aus allen Ritzen krochen. Aber wo waren sie, wenn das Opfer sich zwei volle Stunden lang buchstäblich die Seele aus dem Leib schrie?

Nur ein Mord trieb bei diesem Wetter Schaulustige auf die Straße. Er zitterte. Immer wieder fielen Schneeschauer aus den grauen Wolken. Doch vor allem der eisige Wind machte der neugierigen Meute zu schaffen.

Er wandte sich an die Frau neben ihm. Sie trug eine signalrote wollene Jagdmütze, war groß, aber vom Alter gebeugt. Das Treiben auf der Straße beobachtete sie mit lebhaftem Interesse. Die Mützenoma brabbelte aufgeregt in ihr Handy. Dabei betonte sie fortwährend, wie erstaunt sie sei, dass direkt gegenüber ein Mord passiert war.

»Haben Sie den Verstorbenen gekannt?« Er mochte das Wort Verstorbener. Es klang so professionell. Laut dem gefälschten Namensschild an seiner Jacke hieß er Jeff Thomas und schrieb für das Wochenblatt Portland Tribune. Er lächelte sie aufmunternd an.

Irritiert über die Störung runzelte die Frau die Stirn. Doch als sie seine Requisiten, den gezückten Stift und den Notizblock, bemerkte, wurden ihre Augen gierig. Sie schmolz unter seinem interessierten Blick.

»Ich muss Schluss machen, Shirl. Die Presse will mit mir sprechen.« Sie steckte das Handy in die Tasche des Nickibademantels, den sie unter der dicken Skijacke trug und wandte ihm ihre volle Aufmerksamkeit zu.

»Kannten Sie Richard Buck persönlich?«, fragte er zum zweiten Mal. Er registrierte das begeisterte Funkeln in den Augen der Frau. Es gab nichts Schöneres als Tratsch. Wie nett er doch sein konnte. Eigentlich hatte er für die Freude, die er dieser betagten Mitbürgerin bescherte, eine Auszeichnung verdient.

»Ja, natürlich. Ich wohne schließlich seit Jahren direkt gegenüber.« Sie zeigte auf eine Minivilla, in deren Vorgarten sage und schreibe sieben Vogeltränken standen. Blinzelnd stellte er fest, dass jede einzelne vom Schnee befreit und mit frischem Wasser gefüllt war. Wie schaffte sie es, dass die Dinger nicht zufroren? An zahllosen Zweigen ihrer Birken baumelten bunte Futterspender.

Die Frau bemerkte seinen Blick. »Jemand muss sie doch füttern, wenn es schneit. Wissen Sie, nicht alle Vögel fliegen im Winter in den Süden«, sagte sie spitz.

Er bezweifelte, dass sie die Futterspender im Sommer abnahm.

Ihre vornehmen Nachbarn liebten sie sicher heiß und innig. Ganz offensichtlich hatte das Eigentümer-Komitee des Viertels vergessen, eine Klausel über Futterspender und Kitsch im Vorgarten in die Statuten zu schreiben.

Er zeigte ihr beim Lächeln seine perfekten Zähne. »Was Sie da tun, ist wirklich lobenswert. Ist Ihnen in den letzten zwölf Stunden irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Ach? Ist es vor zwölf Stunden passiert?«

Der Ausrutscher nahm ihm eine Sekunde lang den Atem. »Ich habe zufällig aufgeschnappt, wie ein Cop diesen Zeitraum erwähnte.« Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, ob das stimmt.« Oh doch. Die hatte er.

»Nein. Ich habe nichts mitbekommen. Irgendwann heute Morgen hat ein UPS-Mann geklingelt. Er hat ein Päckchen vor die Haustür gelegt und ist wieder gegangen.« Sie zeigte über die Straße auf die Villa, um die die Cops herumwuselten. Das UPS-Paket lehnte noch immer neben der Tür. In der Nähe standen zwei Bullen in Zivil mit angespannten Gesichtern. Heftig diskutierend zeigten sie auf das Päckchen.

Er erinnerte sich daran, die Türglocke gehört zu haben. Ganz kurz hatte sie ihn aufgeschreckt. Dann hatte er durch die Jalousien im Obergeschoss gespäht, einen der üblichen braunen Lieferwagen gesehen, und den Fahrer, der bereits wieder durch die Eiseskälte zu seinem Fahrzeug zurückjoggte. Er hatte seine Arbeit zu Ende gebracht und war Minuten später aus dem Haus verschwunden.

Seine Quelle plapperte unbefangen weiter. »Buck hatte im Lauf der Jahre ein paar spektakuläre Fälle. In Corvallis hat er damals den Serienkiller verteidigt, der die College-Studentinnen umgebracht hat. Mit Erfolg, finde ich: Dieses Monster landete lebenslang im Knast.« Sie lachte gackernd.

Bei genauerem Hinsehen erkannte er die beiden Zivilbullen wieder. An den zwei vorigen Tatorten hatte er sie ebenfalls gesehen. Er nahm sich vor, ihre Namen herauszufinden und ihnen als Dank für ihre harte Arbeit ein Geschenk zukommen zu lassen. Wie es sich für einen guten Bürger gehörte. Die Polizei erfuhr viel zu wenig Wertschätzung.

»Soweit ich gehört habe, waren Bucks Beine gebrochen. Genau wie bei dem alten Cop vor ein paar Tagen und bei dem ermordeten Staatsanwalt, der damals auch mit dem Serienkiller-Fall zu tun hatte.« Die Frau rückte näher, versicherte sich mit hektischen Blicken, dass sie nicht belauscht wurden, und flüsterte: »Jemand nimmt Rache, weil der Mörder damals verurteilt wurde und in den Knast ging.« Sie nickte energisch.

»Schon möglich.« Wie war die Information über die gebrochenen Beine so schnell durchgesickert? Soweit er wusste, sagte die Polizei den Schaulustigen auf der Straße kein Wort über den Zustand der Leiche. Aber anscheinend sprangen die grausigen Details irgendwie von Mund zu Ohr.

Seine Brust wölbte sich fast automatisch vor und er drückte den Rücken durch. Alles lief perfekt. Genauso hatte er es geplant. Die Öffentlichkeit verfolgte begierig das Geschehen und die Polizei tappte im Dunkeln. Er fragte sich, wann die Sache mit der Angelausrüstung durchsickern würde. Jemanden mit einer Angelrute zu töten, war nicht einfach. Aber er benutzte gern Gegenstände aus dem näheren Umfeld des Opfers. Etwas, was dessen Beruf oder Hobby symbolisierte. Mit der Rute hatte er getan, was er konnte, und versucht, mit den Angelhaken kreativ zu sein. Vor einer Weile hatte er Cops mit grünen Gesichtern aus dem Haus stolpern und würgend in die Büsche laufen sehen. Er konnte also annehmen, dass er gute Arbeit geleistet hatte. Die Detectives diskutierten immer noch über die UPS-Lieferung. Vermutlich hielten sie das Ding für eine Bombe.

Hmmm. Mit explosiven Postsendungen hatte er lang nicht experimentiert. Früher hatten sie ihn fasziniert. Man mischte ein bisschen was zusammen, packte es hübsch ein und WUMM. Was für ein Hochgefühl. Baumstümpfe, Briefkästen, sogar ein paar Katzen waren Opfer seiner Sprengstoffversuche geworden. Aber beim Gedanken an sein letztes Explosionsopfer wurde ihm ganz schummrig.

Dabei war die Teenager-Schlampe selbst schuld, die ihm in der Highschool ins Gesicht gelacht hatte, als er ihr Hilfe bei ihrem Physikprojekt angeboten hatte. Er wusste, dass sie Gefahr lief durchzufallen, und hatte geglaubt, sie würde das Angebot des Klassengenies dankbar annehmen. Doch da hatte er sich gründlich getäuscht. Sie war vor ihm zurückgewichen, als wären seine Strebermarotten ansteckend. Und dann hatte sie ihn ausgelacht. Und ihren Freundinnen davon erzählt, die natürlich auch lachten. Highschool-Matratzen. Sie stolzierten herum, ließen ihre BHs und Slips unter den Kleidern hervorblitzen und verpassten dann hämisch jedem eine Abfuhr, der in ihre kleinen Nuttenfallen stolperte.

Ihr hatte er den Sprengstoff auf die Veranda gestellt. Ein echtes kleines Kunstwerk. Er war wirklich stolz darauf gewesen, denn er hatte Stunden damit verbracht, es akribisch genau zusammenzumischen. Eigentlich hatte er ihr nur ihr gemeines Gelächter heimzahlen und ihr ein bisschen Angst machen wollen. Wie hätte er wissen sollen, dass das Haus Feuer fangen und ihre kleine Schwester, ein Baby, bei dem Brand umkommen würde? In die Schule kehrte die Schlampe nie zurück. Es hieß, ihre Eltern hätten so weit wie möglich wegziehen wollen, damit die Erinnerung sie nicht immer quälte. Monatelang hatten seine Mitschüler damals hinter vorgehaltener Hand geflüstert und einen großen Bogen um ihn gemacht. Einige hatten gewusst, dass er mit Sprengstoff experimentierte. Und alle wussten, dass die blöde Schnalle ihn gedemütigt hatte.

Das winzige Grab hatte er oft besucht, war dort voller Unbehagen von einem Fuß auf den anderen getreten, hatte den kleinen Grabstein betrachtet und sich gefragt, ob das Baby gelitten hatte. Die Schuldgefühle hatten ihn überrascht. Dass er eine Schwäche für Babys hatte, war ihm damals noch nicht bewusst gewesen.

»Kennen Sie Tony McDaniels?«

Die alte Frau hatte er beinahe vergessen. Schnell wandte er sich ihr wieder zu. »Wen?«

Sie studierte noch einmal sein Namensschild. Ihre Augen verengten sich. Ihr Hirn arbeitete schneller, als er ihr zugetraut hatte. »Tony McDaniels. Er ist Sportreporter bei der Tribune und mein Großneffe.«

»Ach der Tony. Ja, sicher. Ich sage ihm, dass wir uns kennengelernt haben.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss los. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Ihm prickelte vor Schreck das Rückgrat. Er musste verschwinden, bevor die Alte ihr Handy zückte, ihren Großneffen anrief und ihm sagte, sie hätte mit Jeff Thomas gesprochen. Er wich zwei Schritte zurück, dann wandte er sich ab.

»Ich heiße Evelyn Wakefield«, rief sie ihm hinterher. Dann buchstabierte sie laut ihren Nachnamen.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, hob er die Hand als Zeichen, dass er sie verstanden hatte. Er hoffte, dass sein hastiger Abgang niemandem auffiel. Warum bewegte er sich so schnell? Er zwang sich, langsamer zu gehen, tat, als würde er sich Notizen machen. Ein paarmal schaute er zwischen dem Haus und seinem Block hin und her, damit es aussah, als notiere er sich eine Beschreibung. Einer der Detectives sah zu ihm herüber, wandte sich dann aber wieder dem Päckchen zu.

Er hatte sein Glück herausgefordert. Warum war er vom ursprünglichen Plan abgewichen? Dumm, dumm, dumm.

Sein Verlangen, das Nachspiel mitzuerleben, war einfach zu groß gewesen. Bis in die Fingerspitzen durchrieselte ihn das wohlige Machtgefühl. Die verwirrten Cops, die aufgeregte Menge: sein Werk! Jeder rätselte, wer er war. Er blieb stehen, atmete heftig aus – befreite sich von dem zersetzenden Stolz. Wenn er Erfolg haben wollte, musste er sich besser unter Kontrolle haben.

Von jetzt an würde er keine Fehler mehr machen.

Obwohl einiges dagegensprach, beschloss Mason, das Päckchen gleich an Ort und Stelle öffnen zu lassen. Der Kampfmittelräumdienst durchleuchtete es und erklärte es für unbedenklich. Er hatte immerhin gewartet, bis jemand da war, der sich mit so etwas auskannte. Jetzt sah er zu, wie eine Frau das Päckchen fotografierte, das glänzende Klebeband auf Fingerabdrücke untersuchte und das Ding dann vorsichtig öffnete. Auf dem UPS-Aufkleber stand die Adresse des Opfers. Die Absenderadresse war ein Postfach in Portland.

Er und Lusco hatten sich nicht einigen können, ob das Päckchen geöffnet werden sollte oder nicht. Lusco wollte es erst ins Labor schicken. Mason wollte sofort wissen, was drin war. Die leitende Kriminaltechnikerin der Spurensicherung hatte es ebenfalls nicht am Tatort aufmachen wollen, doch Mason hatte ihr eine Dienstanweisung gegeben. Das Gemetzel im Haus trug dieselbe Handschrift wie bei Trenton und Cochran. Mit einem Unterschied: Es gab keinen Gegenstand, der auf ein vorausgegangenes Verbrechen hinwies.

Der Täter ließ immer etwas zurück. Trentons Dienstmarke an Mills’ Fundort. Trentons Haar am Cochran-Tatort. Selbst die DVD auf Dr. Campbells Veranda und der Ring in ihrem Laborkittel entsprachen halbwegs dem Muster.

Am liebsten wollte Mason das Päckchen einfach aufreißen. Er trat von einem Fuß auf den anderen, konnte einfach nicht stillstehen. Lusco warf ihm einen seltsamen Blick zu. Wahrscheinlich glaubte sein Partner, er müsste mal. Mason stellte das Gezappel ein und drehte die Fäuste in die Manteltaschen. Sein Atem hing in Wolken in der Luft.

Was zum Teufel ging hier vor? Es sah aus, als hätten sie jetzt einen dritten Mord, der irgendwie im Zusammenhang mit diesem verdammten Serienkiller DeCosta stand. Jemand wollte ihnen eindeutig etwas sagen. Die gebrochenen Oberschenkel in allen Fällen waren eine klare Botschaft an die Polizei, dass immer derselbe Täter am Werk war.

Hatten sie damals den Falschen eingesperrt? Einen Komplizen übersehen? Und wer war als Nächstes an der Reihe?

Diese Fragen verfolgten ihn bereits im Schlaf. Er knirschte mit den Zähnen. Dr. Campbell konnte die Nächste sein. Sie hatte bei der Überführung DeCostas eine wichtige Rolle gespielt. Zum Glück war der vorsitzende Richter von damals, Stanley Williams, bereits vor ein paar Jahren gestorben. Wenigstens eine Person, um die sie sich keine Sorgen mehr machen mussten.

Richard Buck hatten sie vor zwei Tagen gewarnt. Ihm vorgeschlagen, er solle Urlaub machen oder die Stadt für eine Weile verlassen. Sie hatten ihm dasselbe geraten wie der kleinen Zahnärztin. Aber Buck hatte gerade einen wichtigen Fall. Über Masons Vorschlag, sich vertreten zu lassen, lachte er nur.

Mason hätte gern gewettet, dass Buck ihm jetzt glaubte.

Endlich. Das Päckchen war offen. Diese Frau war eine Schnecke! Er zog den Kopf ein und öffnete die Fäuste. Die Technikerin machte nur ihre Arbeit und sie machte sie gründlich. Aber verdammt noch mal, er wusste, dass der Inhalt wichtig war.

Einige Nachbarn hatten der Polizei gesagt, sie hätten den UPS-Lieferwagen gesehen. Sie beschrieben ihn als völlig normal und unverdächtig. Die Auslieferung eines Paketes war leicht zu überprüfen. Bei einem so komplett computerisierten Unternehmen ließ sich jeder Schritt nachverfolgen. Mason war sicher, dass es sich bei dem Paket um eine Standardsendung handelte und dass die Absenderadresse ihnen nicht weiterhelfen würde. Es war in einem Paketcenter aufgegeben worden.

Er beugte sich vor und spähte über die Schulter der Technikerin. Der Anblick überraschte ihn nicht. Das Haar in der kleinen Tüte stammte ganz sicher von Joseph Cochran, doch dazwischen glänzte etwas Goldenes. Mit einer Pinzette hielt ihm die Kriminaltechnikerin die Tüte vor die Augen.

Mason starrte den Goldring in der Plastikhülle an und spürte wie sein Herz aussetzte. Dass der Ring Dr. Campbells Initialen trug, konnte er sich denken. Wieder eine Verbindung.

Scheiße.

Er zog sein Handy aus der Tasche, fuhr zu einem der Uniformierten auf der Veranda herum und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Schicken Sie einen Streifenwagen zu Dr. Campbells Haus. Jemand soll nach ihr schauen, seinen Hintern vor ihrer Tür parken und sich nicht von der Stelle rühren, bis wir dort sind. Sobald wir hier fertig sind, fahren wir hin.« Während er Dr. Campbells Nummer wählte, betrachtete er die riesenhafte Villa des Strafverteidigers. »Sagen Sie, es könnte eine Weile dauern.«