SIEBZEHN

»Ach Jack, verdammt!«

Lacey wühlte in dem Stapel Ordner auf ihrem Schreibtisch in der zahnärztlichen Fakultät. Die Beurteilungen, die sie noch fertig machen musste, fand sie nicht. Sie hatte Jack überredet, sie hier abzusetzen. Den Protest dagegen hatte er erst aufgegeben, als sie ihm demonstriert hatte, wie sicher sie hier war. Ins Gebäude gelangte man nur mit einer Schlüsselkarte und die Fahrzeuge des Sicherheitsdienstes standen gut sichtbar davor. Er hatte selbst etwas im Büro zu erledigen, würde sie aber in einer halben Stunde abholen. Sie hatte ihm versprechen müssen, am Fahrstuhl des Uni-Parkhauses auf ihn zu warten. »In exakt dreißig Minuten«, hatte er geknurrt.

Jack wollte unbedingt, dass sie die Stadt verließ, aber das kam nicht infrage. Sie würde eine Zeitlang im Hotel wohnen. Das war der Kompromiss, auf den sie sich eingelassen hatte. Er bestand darauf, sie zuerst zur Fakultät und dann zum Packen nach Hause zu fahren. Es ist bloß ein Hotel und nur für ein paar Tage. Sie würde weder Portland verlassen noch bei der Arbeit fehlen. Jack war der Meinung, sie bräuchte einen Leibwächter. Für Lacey sah es aus, als hätte er den Job bereits selbst übernommen.

Darüber sprechen wir noch mal.

Sie riss die untere Schreibtischschublade auf. Da lagen die Dinger ja. Jetzt erinnerte sie sich wieder daran, dass sie die Beurteilungen gestern dort hineingesteckt hatte, als ein Student vorbeigekommen war, um sie nach seinen Noten zu fragen. Sie schnaubte. Warum konnte sie sich nicht konzentrieren? Was sie brauchte, war eine testosteronfreie Zone. Bei den Hormonmengen, die Jack und die Detectives ausdünsteten, war ihr Bedarf für Monate gedeckt.

Lacey zerrte den Laborkittel von der Stuhllehne und machte sich auf den Weg zur Damenumkleide. Dabei durchquerte sie das verlassene Dentallabor der Fakultät. Sie wunderte sich, dass kein Student die Abendstunden nutzte, um eine zahntechnische Arbeit fertigzustellen. Die vielen langen Nächte, die sie gemeinsam mit Amelia in diesem tristen Gemäuer durchgearbeitet hatte, waren ihr noch gut in Erinnerung. Irgendwann waren sie immer völlig aufgekratzt gewesen, hielten sich mit Kaffee und Schokolade wach und versuchten, nicht die Nerven zu verlieren und in Tränen auszubrechen, wenn sie eine Krone nach stundenlanger Arbeit doch vermurkst hatten.

Gelegentlich hatte jemand einen Sixpack ins Labor geschmuggelt. In solchen Nächten stieg Laceys Fehlerquote gravierend an. Schnell hatte sie gelernt, dass sie nicht gleichzeitig Kronen gießen und Bier trinken konnte. Aber heute Abend war kein Mensch hier. Anscheinend schrieb die heutige Studentengeneration um diese Tageszeit an ihren Hausarbeiten oder betrieb emsig Arbeitsvermeidung.

Den Kittel warf Lacey zu den anderen Mänteln und Schürzen in den Wäschekorb in der Umkleide. Dann sah sie auf die Uhr. In fünf Minuten erwartete Jack sie im Parkhaus.

Lacey sauste den stillen Flur entlang, legte dann aber eine Vollbremsung hin. »Mist.« Sie machte kehrt und hetzte zur Garderobe zurück. Sie hatte vergessen, ihre Kitteltaschen zu überprüfen. Einmal hatte sie aus Versehen die Laborschlüssel darin gelassen. Die Wäscherei behauptete, die Schlüssel nie gefunden zu haben. Lacey fischte den Kittel aus dem Wäschekorb und tastete die Taschen ab. In der Brusttasche spürte sie einen kleinen harten Knubbel, griff hinein, zog einen Ring heraus und riss die Augen auf.

»Was soll …«

Dieses Erinnerungsstück verwahrte sie zu Hause in einem Schmuckkästchen, ganz hinten in einer Kommodenschublade. Lacey drehte den Ring in der Hand. Auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe Furchen, ihr Magen rumorte. Ein einzelner, in Gold gefasster roter Stein saß auf einem breiten Goldband mit Gravur. Das Schmuckstück war einer ihrer NCAA-Meisterschaftsringe. Getragen hatte sie nie einen davon. Sie wusste nicht einmal, wann sie sich die Dinger zum letzten Mal angeschaut hatte.

Wie kam der Ring in ihre Tasche?

Sie hielt ihn gegen eines der wenigen noch brennenden Lichter, drehte ihn und suchte nach der Jahreszahl und dem College-Logo. Um die Initialen lesen zu können, musste sie ihn ganz nahe an ihr Auge halten.

Das war nicht ihr Ring. Er gehörte Suzanne.

Ihr Magen verkrampfte sich. Ihr Atem stockte.

Raus hier.

Sie stürzte aus der Garderobe, dann den Flur entlang zum Fahrstuhl. Angst und Beklemmung saßen ihr im Nacken. Drei endlose Sekunden lang wartete sie vor der geschlossenen Metalltür. Dann fuhr sie herum und jagte die Treppe hinauf. Sie rannte durch den Flur des dritten Stocks. Ihre Gedanken folgten dem Takt ihrer Schritte. Nicht mein Ring. Nicht mein Ring.

Über diesen Singsang kam ihr Gehirn nicht hinaus.

Überall im Fakultätsgebäude schienen plötzlich Gefahren zu lauern. Es war viel zu leer. Mit einem Magen wie ein Eisklumpen rannte Lacey an den Türen der Büros und Seminarräume vorbei. Glasvitrinen voller menschlicher Zähne warfen ihr Spiegelbild zurück, sorgten für beunruhigende Bewegungen am Rand ihres Blickfeldes. Jemand war in ihrem Büro gewesen, hatte in ihren Sachen gestöbert.

Was, wenn er sich noch im Gebäude befand?

Wer machte so etwas?

Noch sieben Meter, dann hatte sie die doppelte Feuertür der langen, tunnelartigen Fußgängerüberführung erreicht, die von der Fakultät zum Parkhaus führte. Laceys Panik ließ ein wenig nach, ihre Schritte verlangsamten sich. Sie würde es bis zum Parkhaus schaffen. Dort wartete Jack auf sie und alles war gut. Im Moment war der Name Jack Harper in ihrem Kopf gleichbedeutend mit Sicherheit.

Mit beiden Händen drückte sie gegen eine der schweren Doppeltüren und ließ sie aufschwingen. Der lange verglaste Laufgang war leer, der Lift zum Parkhaus lag am anderen Ende. Lacey seufzte erleichtert auf. Doch schon nach drei Schritten nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Auf unsicheren Füßen fuhr sie herum. An dem Teil der Feuertür, den sie nicht aufgedrückt hatte, lehnte ein Mann.

»Frank!«, schnaufte Lacey halb erschrocken, halb erleichtert. Ihr Ex mochte ein Ekel sein, aber im Moment hätte ihr Schlimmeres begegnen können. Bloß …

»Wie bist du hier reingekommen?« Laceys Herz schlug einen Trommelwirbel.

Er hob die Hand. »Ich habe immer noch deine Schlüsselkarte.«

Grundgütiger. Als sie ihm die Karte gegeben hatte, hatte sie selbst noch hier studiert. Hatte er sie die ganze Zeit aufbewahrt? Und das Ding funktionierte noch? Sie musste dringend ein ernstes Wort mit den Sicherheitsbeauftragten sprechen.

»Du hättest die Karte nicht behalten dürfen. Du solltest überhaupt nicht hier sein.«

Ihre Bestürzung verwandelte sich in Ärger. Als sie nach der Karte griff, zog Frank sie weg. Lacey fixierte ihn wütend.

»Was willst du hier?«

»Ich suche dich.«

»Warum? Was soll das?«

Er verzog das Gesicht zu dem trägen Lächeln, vor dem sie gelernt hatte, auf der Hut zu sein. Bei diesem Anblick begannen ihre Handflächen zu schwitzen und ihr wild klopfendes Herz setzte zwei Schläge lang aus. Früher hatte dieses Lächeln bedeutet, dass er einen Plan hatte. Meist einen, der ihr nicht gefiel.

»Ich habe dich vermisst, Lace.« Seine Augen wurden weich. Verführerisch.

»Ich bitte dich, Frank!« Mit pochendem Herzen schnüffelte sie. »Hast du getrunken?«

Seine Züge wurden hart. Als er näher kam, wich sie zurück. Er war zwar nicht groß, aber doch deutlich größer als sie. »Nein! Ist das das Erste, woran du denkst?«

»Ja. Weil das normalerweise der Grund war, wenn du etwas Idiotisches gemacht hast. So wie jetzt!« Sie deutete auf die Fußgängerüberführung und wich einen weiteren Schritt zurück. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er kam näher. Lacey brach der Schweiß aus. Es gelang ihm, sie in eine Nische zu drängen.

»Was denkst du dir dabei, mir hier aufzulauern?«

»Ich will bloß reden. Seit wir uns gestern Abend begegnet sind, gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf.«

»Du hast mich eine hinterhältige Schlampe genannt und gesagt, ich soll die Klappe halten. Glaubst du wirklich, ein wenig von deinem öligen Charme genügt, und alles ist wieder gut? Soll ich deine gemeinen Sprüche aus der Verhandlung vielleicht auch gleich vergessen? Hast du sie nicht alle, Frank? Geh heim zu deiner Frau!«

Lacey klopfte das Herz bis zum Hals. Sicher war es besser, jetzt den Mund zu halten. Sie stand im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand.

Reiz ihn nicht.

Frank packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie. Sein wütendes Gesicht schwebte direkt vor ihrem. »Du bist eine arrogante Vollzicke, Lacey. Meinst du etwa, du bist zu gut für mich?« Sie spürte seinen heißen Atem an der Wange.

Ihre Augen weiteten sich. Dass er handgreiflich geworden war, lag lang zurück. Doch die Erinnerung an seine Faust auf ihrem Mund blitzte auf und flutete ihr Gehirn. Lacey drehte das Gesicht weg und zog das Knie hoch, um ihn an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen. Er wich geschickt zur Seite und lachte sie aus.

Plötzlich hallte ein dumpfes Geräusch durch die Fußgängerüberführung; Frank verdrehte die Augen und Lacey sah deutlich mehr von ihrem Weiß, als ihr lieb war. Ihr Ex ließ ihre Arme los und krachte zu Boden. Hinter ihm stand breitbeinig ein Mitarbeiter des Hausmeisterdienstes, Sean Holmes. Er hatte den Stiel eines Wischfeudels abgeschraubt, Schwung geholt und Frank wie mit einem Baseballschläger an der Schläfe getroffen.

»Sean …« Lacey fehlten die Worte. Sie starrte den jungen Hausmeister an. Ihre Knie fühlten sich an wie aus Pudding. Vorsichtshalber lehnte sie sich an die Wand. Ohne eine Stütze würde sie binnen drei Sekunden auf dem Hintern sitzen. Lacey wagte einen Blick nach unten. Frank lag reglos da. Sean stand in seinem schlabberigen Overall wortlos vor ihr, starrte erst Lacey ein paar Sekunden lang an und dann den Mann, den er niedergeschlagen hatte. Weil Sean das strähnige Haar bis über die Wangen fiel, konnte Lacey seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.

»Rufen Sie den Sicherheitsdienst, Sean.« Sie zeigte auf das weiße Wandtelefon, wühlte in ihrer Handtasche nach dem Pfefferspray und löste die Sicherheitsklammer. In der Handtasche nützte das Zeug ihr gar nichts. Warum hatte sie es nicht schon in dem Moment herausgenommen, in dem sie den Ring entdeckt hatte? Mit beiden Händen hielt sie sich an der Sprühdose fest, richtete sie auf die Gestalt auf dem Boden und versuchte, ganz ruhig zu atmen. Mit zitternden Beinen kämpfte sie um ihr Gleichgewicht.

Vermutlich hatte Sean einen der Räume geputzt und sie bemerkt, als sie vorbeigerannt war. Vielleicht war er ihr gefolgt, weil er sehen wollte, ob sie ein Problem hatte.

»Er hat Ihnen wehgetan«, sagte Sean bedächtig. Er schaute Lacey an, machte aber keine Anstalten, zum Telefon zu gehen. Seine braunen Augen erinnerten sie an einen traurigen Cockerspaniel.

»Ja, das stimmt.« Sie holte Luft. »Sie haben das einzig Richtige getan, Sean. Vielen Dank.« Ihre Beine gehorchten ihr noch immer nicht. Deshalb sagte sie noch einmal: »Rufen Sie den Sicherheitsdienst, Sean.« Wegen einer geistigen Behinderung konnte Sean nur langsam sprechen und denken. Die Studenten veräppelten ihn oft, die anderen Angestellten beachteten ihn kaum. Laceys klares Kommando drang schließlich mit einiger Verzögerung zu ihm durch. Auf dem Weg zum Telefon warf er über die Schulter hinweg immer wieder misstrauische Blicke auf Frank.

Vor ein paar Monaten war Lacey aufgefallen, dass Sean gequält und teilnahmslos wirkte – nicht heiter und freundlich wie sonst. Als sie ihn angesprochen hatte, hatte er die Kiefer kaum auseinander gebracht. Sie hatte ihn zu einem Behandlungsstuhl geschleift, sich Handschuhe übergezogen und seinen angstvollen Blick ignoriert. Bei der Untersuchung hatte sie einen Backenzahn entdeckt, der einem implodierten Krater ähnelte. Die Schmerzen mussten unerträglich sein. Der Zahn war nicht zu retten gewesen. Also hatte Lacey Sean eine Betäubungsspritze verpasst und die Ruine extrahiert.

Seither war er ihr treuester Fan. Lacey hatte den Verdacht, dass er auf kindliche Art für sie schwärmte. Das war süß. Und heute Abend hatte er sie vermutlich vor einem Veilchen bewahrt. Oder vor Schlimmerem.

Lacey schloss die Augen und holte tief Luft. Hatte Frank den Ring in ihre Tasche gesteckt?

Obwohl es bald Mitternacht war, saß Detective Lusco noch immer an seinem Schreibtisch. Er hatte das Telefon am Ohr und machte sich eilig Notizen. Mason sah zu, wie Ray eine Seite in seinem Notizbuch umblätterte und auf der nächsten weiterschrieb. Ray murmelte nur gelegentlich »Mhm. Ja. Wo?« Dafür redete die Person am anderen Ende der Leitung umso mehr.

Mason wurde langsam ungeduldig. Er fing an, auf und ab zu gehen. Außer ihnen machte hier keiner Überstunden. Aber außer ihnen musste auch keiner einen Serienmörder finden.

Ray legte die Hand auf das Mundstück und winkte Mason zu sich. »Das ist der Sicherheitsdienst der OHS-University. Jemand hat Dr. Campbell in der zahnmedizinischen Fakultät aufgelauert.«

Mason erstarrte. Eine Million Fragen schossen ihm durch den Kopf.

»Es geht ihr gut. Ihr ist nichts passiert.« Ray runzelte die Stirn und schnaubte angewidert. »Anscheinend war es ihr Exmann.« Er wandte sich wieder dem Anrufer zu.

»Stevenson.« Der Kerl hatte Dr. Campbell schon am Abend zuvor belästigt. Mason hätte sich sowieso bald mit ihm befasst. Aber jetzt sah es so aus, als würde Frank Stevenson gratis zu ihnen in die Stadt chauffiert. Von einer Polizeistreife. Schön. Mason hatte sich bereits ein paar Fragen für ihn ausgedacht. Hastig blätterte er den Ordner durch, in dem er alles sammelte, was für den Fall irgendwie hilfreich sein konnte. Er suchte nach den Informationen, die er über Dr. Campbells Ex zusammengetragen hatte, fand die Seite und legte den Finger auf den Namen am oberen Rand.

Frank Stevenson. War etwa zwei Jahre lang mit Dr. Campbell verheiratet. Stammte aus Mount Junction. Podologe.

Ein Fußdoktor?

Mason sah nach, wann Frank seine Zulassung erhalten hatte. Vor vier Jahren. Er war erst Podologe geworden, nachdem Dr. Campbell längst ihren Abschluss als Zahnärztin gemacht hatte. Mason stimmte das zufrieden. Er lächelte grimmig. Dr. Campbell hatte ihren Ex beruflich in den Schatten gestellt. Hatte der gute Frankie damit vielleicht ein Problem?

»Ein Ring? Wessen Ring? Was? Wollen Sie mich verarschen? Sie ist absolut sicher?« Ray war fassungslos. Als er sogar aufhörte, sich Notizen zu machen, wusste Mason, dass etwas wirklich Ungewöhnliches passiert sein musste. Rays Schockstarre war allerdings von kurzer Dauer. Bald kritzelte er schneller weiter als zuvor.

Callahan gelang es, von seinem Schreibtisch aus einige von Rays auf dem Kopf stehenden Stichworten zu entziffern. Tasche, Meisterschaftsirgendwas, Initialen. Ray hatte eine Sauklaue. Seine seitenlangen Aufzeichnungen konnte immer nur er selbst entschlüsseln.

Wenn Formulare von Hand auszufüllen waren, blieb das normalerweise an Mason hängen. Er schrieb nicht, er malte in gestochenen Großbuchstaben, um die ihn jeder Architekt beneidet hätte.

Ray legte kopfschüttelnd auf. »Diesen Scheiß wirst du nicht glauben.«

»Lassen wir’s drauf ankommen.«

Ray erzählte ihm die Geschichte von Suzannes Meisterschaftsring und er behielt recht.

Mason glaubte ihm wirklich nicht.

Jack wollte jemanden umbringen. Vorzugsweise Laceys Exmann. Er würde es mit Hochgenuss tun, sich dabei viel Zeit lassen und besonders empfindliche Körperstellen erst einmal mit langen Nadeln traktieren. Während Lacey in der Küche Kaffee machte, stapfte er durchs Haus, schaltete sämtliche Lichter an, schaute in jeden Schrank und in jede Nische. Die Polizei hatte das Haus bereits überprüft und keinerlei Einbruchspuren gefunden. Die Haustür war sicher abgeschlossen gewesen. Aber er schaute vorsichtshalber selbst noch einmal nach dem Rechten. Jack riss eine Schlafzimmertür auf, marschierte mitten in den Raum und scheuchte eine Katze auf, die es sich auf dem schönen, großen Bett gemütlich gemacht hatte. Er starrte das Bett zähneknirschend an. Warum hatte er sie allein ins Fakultätsgebäude gehen lassen?

So etwas würde ihm nicht noch einmal passieren.

Ihm waren fast die Sicherungen durchgebrannt, als plötzlich die komplette Fahrzeugarmada des Sicherheitsdienstes das Parkhaus überschwemmt hatte, in dem er in seinem Wagen auf Lacey wartete. Als vier Wachmänner durch die Tür zur Fußgängerüberführung gestürzt waren, war er aus seinem Truck gesprungen und ihnen gefolgt.

Lacey neben einer lang ausgestreckten Gestalt auf dem Boden sitzen zu sehen, hatte ihn fast selbst umgeworfen. Seine Hand war zu seiner Hüfte gezuckt, obwohl er seit Jahren keine Waffe mehr trug. So eine Situation wollte er nie wieder erleben. Niemals.

Jack polterte die Treppe hinunter. Er war fast ein wenig enttäuscht, dass er nirgendwo einen versteckten Exmann gefunden hatte, auf den er eindreschen konnte. Dabei war sonnenklar, dass Frank Stevenson den Rest der Nacht in einer Zelle verbringen würde. An der Küchentür blieb Jack stehen und musterte die Frau, die gerade zwei Tassen Kaffee einschenkte. Ihre Hand zitterte. Sie hielt sich tapfer, obwohl sie einen Scheißtag hinter sich hatte. Einschließlich der Befragungen durch den Sicherheitsdienst und die Polizei. Jack war froh gewesen, dass sie nicht selbst fahren musste. Auf dem Weg zu ihrem Haus hatte Lacey kein Wort gesagt, sondern nur stumm auf die eisigen Straßen gestarrt.

Als sie seine Gegenwart spürte, schnellte ihr Kopf hoch. Eine Sekunde lang weiteten sich ihre Augen, dann fiel die Anspannung von ihr ab.

»Sorry. Ich hätte mich bemerkbar machen sollen.« Prima Idee. Sich an die Frau anzuschleichen.

Mit einem matten Lächeln hielt sie ihm die Tasse hin. Auf der Arbeitsplatte in der Küche lag ein kleiner Berg Schmuck. Halsketten, Uhren, Armbänder und eine silberne Babyrassel. Die Polizei hatte die Schmuckschachtel sehen wollen, in der sie den Ring verwahrte. Jack nahm die angelaufene Silberrassel und las die Gravur. Lacey Joy Campbell. Sie war vier Jahre jünger als er.

Lacey hielt ihm einen goldenen Ring mit einem roten Stein hin. »Den habe ich der Polizei gezeigt. Aber mir fehlt einer, der fast genauso aussieht. Es ist nur eine andere Jahreszahl eingraviert. Den hier habe ich ein Jahr vorher bekommen.« Sie fuhr mit den Händen durch den Schmuckhaufen. »Den anderen Meisterschaftsring finde ich nicht. Er ist aus demselben Jahr wie Suzannes.«

Laceys Stimme war tonlos, ihre Augen fixierten den Schmuck.

Irgendjemand war in ihrem Haus gewesen. Irgendwann.

»Könntest du ihn verlegt haben? Oder verloren?« Die Frage war überflüssig.

Sie zuckte die Schultern. »Nichts ist unmöglich. Aber diese Schachtel hatte ich schon seit Jahren nicht mehr in der Hand. Das Zeug darin ist uralt. Ich trage nie etwas davon.« Lacey schnaubte und ließ sich matt auf einem Barhocker an der Frühstückstheke nieder. Jack schob sich auf den Hocker daneben. Seine Augen hingen an ihrem Gesicht.

Tagsüber war die blaugelbe Küche sicher ein freundlicher Ort. Doch im Augenblick überlagerten fast greifbare Schichten von Angst und Anspannung das fröhliche Dekor. Lacey hatte Kaffee gekocht, weil sie beide nicht wussten, was sie um drei Uhr morgens sonst tun sollten. Sie waren völlig überdreht, an Schlaf war nicht zu denken. Ein Hotel musste sie sich auch erst noch suchen. »Wann hat er das gemacht?«, flüsterte sie. Sie legte beide Hände um ihre Tasse. »Warum einbrechen und einen solchen Gegenstand stehlen? Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, dass jemand hier im Haus war.«

»Er hat Suzannes Ring in deine Tasche gesteckt, weil er dich wissen lassen wollte, dass er hier war. Ihm war klar, dass du nach deinem eigenen Ring suchen und dabei herausfinden würdest, dass er da war. Callahan hat recht. Der Kerl hat ein übersteigertes Ego und will zeigen, wozu er fähig ist. Er spielt mit dir. Er möchte dich verunsichern, dir Angst einjagen.«

»Mit Erfolg.«

Jack bekämpfte den Drang, sie zu packen, in seinen Wagen zu schleifen und aus der Stadt zu bringen.

Stattdessen nippten sie an dem Kaffee, den keiner von ihnen wirklich wollte. Das Schweigen dehnte sich aus und lag zwischen ihnen wie Blei.

»Glaubst du, es war Frank?«, fragte Jack schließlich. »Hat er einen Schlüssel zu deinem Haus?«

An der Grimasse, die sie zog, konnte er ablesen, dass sie gerade auch an Frank und die Schlüsselkarte für das Fakultätsgebäude gedacht hatte. Jack war darüber mindestens genauso erbost wie der Sicherheitsdienst der Uni.

»Er hat keinen Schlüssel. Ganz sicher.«

»Das muss aber nicht bedeuten, dass er den Ring ebenfalls nicht hat.«

Lacey hatte der Polizei nicht sagen können, weshalb Frank ihr aufgelauert hatte. Und Frank hüllte sich in Schweigen. Vom Rücksitz des Streifenwagens aus hatte er Jack mörderische Blicke zugeworfen, so lang Lacey und der Hausmeister befragt worden waren.

Für Jack war der Hausmeister ein Held. Auf die Frage, warum er so spät noch arbeitete, hatte Sean die Schultern gezuckt und den Kopf geschüttelt. Lacey hatte gemutmaßt, dass er besser arbeiten konnte, wenn das Haus leer war. Außerdem war dann keiner da, der ihn triezte.

Jack nahm sich vor, dem Jungen einen neuen Job zu besorgen. Sicher gab es in einem seiner Gebäude eine Arbeit für ihn.

»Was glaubst du – warum war Frank in der Fakultät?«, fragte Jack.

Er sah, wie Lacey mit der Frage kämpfte. Erst nach mehreren Anläufen sagte sie hastig: »Vermutlich braucht er Geld.« Sie vergrub die Nase in der Kaffeetasse.

Jack blinzelte. Nicht die Antwort, die er erwartet hatte.

»Warum sollte er dich um Geld anpumpen?«

Lacey starrte die Fensterläden über dem Spülbecken an. Jack hatte auf seiner Patrouille durchs Haus sämtliche Läden und Vorhänge geschlossen. Sonst konnte man viel zu gut von draußen hereinsehen. »Weil ich ihm schon mal was gegeben habe.«

»Wie bitte? Warum in aller Welt leihst du deinem Ex Geld?«

»Es war nicht geliehen.«

»Du hast ihm das Geld einfach gegeben? Was hat er denn für die Kohle getan?« Dir ein Veilchen verpasst? Eine Rippe gebrochen? Im Augenblick wusste Jack nicht, auf wen er wütender sein sollte – auf Frank oder auf Lacey.

»Das ist eine lange Geschichte«, wich sie aus. Dabei schaute sie an ihm vorbei.

Er lehnte sich auf dem Barhocker zurück. »Ich habe heute Nacht nichts mehr vor.«

Lacey warf ihm einen genervten Blick zu. »Mit Frank … mit Frank zusammenzuleben, war nicht immer leicht«, fing sie an.

Jack schnaubte.

»Willst du das jetzt hören oder nicht?« Sie funkelte ihn an.

Er nickte und hielt den Mund.

»Wir haben uns gleich in meinem ersten Jahr auf dem College kennengelernt und waren dann ein paar Jahre lang zusammen. Ich fand ihn toll. Wer Turnen als Leistungssport betreibt, bekommt von der Welt außerhalb der Sporthallen oft nicht mehr viel mit. Auch Männer kennenzulernen, ist eher schwierig. Aber Frank gehörte zum engsten Fankreis.«

»Was heißt das genau?«

»Er gehörte zu einer Gruppe von Leuten, die keine Trainingseinheit verpassten, die immer zuschauten, den Ablauf unserer Übungen kannten und sich mit den Turnerinnen anfreundeten. Sie fuhren mit zu den Wettkämpfen. Derart treue und begeisterte Fans zu haben, war ein Traum. Und zu der Gruppe gehörten bei weitem nicht nur College-Studenten. Einige Rentner und wohlhabende Paare waren auch dabei. Sie lebten für die Wettkampfsaison. Manchmal flogen sie sogar zu den Turnieren, luden uns abends zu einem schönen Essen ein und machten uns coole Geschenke. Turnen war in Mount Junction wichtiger als Football oder Basketball. Die Hallen waren immer voll und auf den Anzeigetafeln an den Freeways waren unsere Gesichter zu sehen. Gelegentlich sprachen uns beim Einkaufen oder in einem Restaurant wildfremde Leute an, die uns im Fernsehen gesehen hatten.« Lacey lächelte. »Das College hat eine große Turntradition. Seine Mannschaften sind immer unter den drei besten der Vereinigten Staaten. Ich kannte damals sämtliche Sportmoderatoren und Sportreporter mit Vornamen. Wir waren so etwas wie Promis.«

»Und Frank?«

Laceys Brauen zuckten. »Nach Suzannes Entführung war er für mich der Fels in der Brandung. Er half mir damals durch wirklich düstere Zeiten. Als ich meinen College-Abschluss in der Tasche hatte, haben wir geheiratet. Er hatte das College schon zwei Jahre früher zu Ende gemacht. Alles war gut. Ich dachte, unsere Ehe würde ewig halten.«

»Irgendwie höre ich da ein großes ›Aber‹.«

»Aber … ich weiß nicht. Eigentlich hatte er selbst Zahnarzt werden wollen.«

»Tatsächlich?« Jack hätte den Kerl niemals an seine Zähne gelassen. Egal ob mit oder ohne Zulassung.

Sie nickte. »Er hat sich jahrelang immer wieder überall beworben. Aber sein Notenschnitt reichte einfach nicht aus. Als ich einen Studienplatz bekam, nagte das sehr an ihm. Es machte ihn … bitter. Nach und nach wurde er ein ganz anderer Mensch. Man könnte sagen, er verlor sich selbst. Ich weiß nicht, ob das die Symptome einer beginnenden Depression waren. Aber er hatte das Gefühl, kein Ziel mehr zu haben.«

Jack dachte daran, wie hämisch Frank in dem Café Laceys Doktortitel betont hatte. Purer Neid.

»Meine Mutter wurde etwa zur gleichen Zeit schwer krank und das war sehr schlimm für meinen Dad und mich. Ich stand kurz vor dem ersten Semester Zahnmedizin, meine Mutter kämpfte gegen den Brustkrebs und meinen Mann kannte ich jeden Tag weniger. Ich beschloss, ihm nichts von dem Geld zu sagen, das ich erben würde, wenn meine Mutter starb.«

Ach? »Was denn für Geld?«

Lacey rutschte auf dem Hocker herum und spielte mit der Tasse. »Meine Mutter hat mir einen größeren Betrag hinterlassen. Sie kommt aus einer begüterten Familie. Und eine Lebensversicherung hatte sie auch.« Es war, als ob in Laceys Augen ein Vorhang fiel, und Jack kam sich schäbig vor, weil er sie gedrängt hatte, die schmerzhaften Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit ans Licht zu zerren.

»Und dein Dad?«

Lacey wedelte mit der Hand. »Dad hat selbst Geld. Er wusste, dass Mum mich als Begünstigte ihrer Lebensversicherung eingesetzt hatte und dass sie, schon als ich noch ganz klein war, für mich ein Treuhandkonto eröffnet hatte. Sie stammte aus einem alten Holz-Adelsgeschlecht.« Ein winziges Lächeln huschte über Laceys Gesicht.

»So was gibt es nur hier im Nordwesten.« Jack wusste, wovon sie sprach. Bevor die Konjunktur und die Holzindustrie mächtig Schlagseite bekommen hatten, hatten die Holzbarone riesige Vermögen angehäuft, und die meisten hatten sich rechtzeitig vor dem Zusammenbruch aus der Branche zurückgezogen. Jetzt verstand er, warum Lacey Studenten unterrichtete und für das gerichtsmedizinische Institut arbeitete, anstatt ihre eigene Zahnarztpraxis zu betreiben. Sie musste nicht arbeiten. Sie konnte sich aussuchen, womit sie ihre Zeit verbrachte. Jack nahm an, dass der ›größere Betrag‹ eine eher zurückhaltende Bezeichnung für die Summe war, die Laceys Mutter ihr vermacht hatte.

»Dann hast du Frank also nie gesagt, dass du quasi im Geld schwimmst. Aber deine Familie kannte er doch sicher. Hat er denn nicht gesehen, dass ihr Geld hattet?«

»Vermutlich nicht. Frank hat immer nur das gesehen, was er sehen wollte. Und meine Eltern haben ihren Reichtum nie zur Schau gestellt.« Lacey verdrehte die Augen. »Meine Mutter fuhr zwölf Jahre lang denselben scheußlichen Kombi. Ich habe diesen Wagen gehasst.«

»Und wie ging es mit euch weiter?«

»Wir haben uns auseinandergelebt. Frank war andauernd frustriert. Ich war andauernd an der Uni. Er wurde ein anderer Mensch. Den verantwortungsbewussten, mitfühlenden Mann, den ich geheiratet hatte, gab es nicht mehr. Er fing an zu viel und zu oft zu trinken.« Lacey hustete und Jack nahm das als Zeichen, dass sie über Franks Alkoholproblem nicht weiter reden wollte. Schade eigentlich.

»Er hat dich geschlagen.« Das war keine Frage.

Eine Sekunde lang sah sie Jack in die Augen, dann starrte sie an ihm vorbei. »Ja. Nachdem DeCosta mich mit Schlägen und Tritten fast umgebracht hatte, war Franks Faustschlag in mein Gesicht der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Er hat es nur ein einziges Mal getan, aber das hat mir gereicht. In so einem Fall gibt es für mich keine zweite Chance. Von meinem Geld erfuhr er erst nach der Scheidung. Er hasst mich, weil ich ihm mein Vermögen verheimlicht habe und er keine Abfindung bekam.«

Jack schloss kurz die Augen. Er stellte sich Laceys Gesicht mit blaugeränderten Augen und aufgeplatzten Lippen vor. Wut kochte in ihm hoch. Doch er hielt sie im Zaum. »Du musstest dein Geld nicht mit ihm teilen?«

Lacey blinzelte mit gespielter Unschuld. »Ich war eine arme Zahnmedizinstudentin. Was hätte ich denn teilen sollen? Als Mom starb, legte ich das Geld im Namen meines Vaters an. Tief im Inneren muss ich bereits geahnt haben, dass die Sache mit Frank nicht gutgehen würde.«

Kluges Mädchen. »Das würde erklären, warum er an dem Abend meinte, es gäbe eine ›Million Gründe‹, unhöflich zu dir zu sein. Er sprach von deinem Geld.«

Lacey nickte. »Und Celeste ist sicher, dass ich ihren Mann um seinen Anteil betrogen habe. Sie können mich beide nicht ausstehen.«

»Warum hast du ihm denn dann überhaupt Geld gegeben?« Jack wurde klar, dass sie seine ursprüngliche Frage vergessen hatte.

»Er hatte Schulden bei einigen ziemlich unangenehmen Leuten. Das Geld ging an sie, nicht an ihn.«

»Du hast seine Kredite abgelöst?«

»Kredite würde ich das nicht nennen«, sagte Lacey trocken. »Es waren eher Schlingen, die sich unerbittlich um seinen Hals zusammenzogen. Die Leute, die die Enden der Stricke in den Händen hielten, wurden langsam ungeduldig.«

»Er hat gespielt?«

»Üble Angewohnheit. Kann einem das Genick brechen. Vielleicht könnte man mir vorwerfen, ich hätte ihn bei dieser Dummheit auch noch unterstützt. Aber das passierte nicht während unserer Ehe. Diese Sucht entwickelte sich erst danach. Ich hätte ihn selbst damit klarkommen lassen können. Aber ich konnte das Geld entbehren. Er schwor, mit dem Spielen sei endgültig Schluss.«

Jack schnaubte. Klar. »Glaubst du, er hat wieder dieselben Probleme?«

»Ich kann nur raten. Aber ich möchte wetten, dass er bei irgendjemandem hohe Schulden hat. Wahrscheinlich ist er froh, in einer Zelle zu sitzen. Dort ist er sicher.« Lacey machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich könnte Michael bitten herauszufinden, bei wem Frank in der Kreide steht. Michael hat durch die Arbeit bei der Zeitung die unterschiedlichsten Kontakte.«

»Michael?« Jacks Kehle wurde eng. »Du sprichst nicht zufällig von Michael Brody?« Jack hatte Mühe, den Satz zu beenden. Seine Zunge gehorchte ihm nicht. »Meinem speziellen Kumpel beim The Oregonian? Mit dem bist du befreundet? Mit dem Reporter, der in meiner Vergangenheit herumwühlt und mit allerhand Details über mich die Titelseiten vollschmiert?«

Lacey öffnete den Mund und mache ihn wieder zu. Sie blinzelte heftig. Jacks Brust fühlte sich an wie ein Dampfkessel. Er wollte gerade noch einmal nachfragen, als jemand an die Tür klopfte. Mit lautem, wütendem Hämmern.