FÜNF
Am frühen Abend führte die Polizeimarke von der Fundstelle des Skeletts in Lakefield die Detectives zu einem neuen Mordopfer.
Es handelte sich um den pensionierten Cop Calvin Trenton. Die Leiche wies brutale Folterspuren auf.
Im Ziegelbau der Oregon State Police im Zentrum von Portland saß Detective Mason Callahan tief in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch. Er war hundemüde. Körperlich, mental und tief im Herzen. Während Masons Augen auf die grässlichen Fotos von Trenton starrten, zupften seine Finger an der abblätternden Farbe des Tisches. Der Zorn, den er empfand, würde ihm die Energie geben, mit größtmöglicher Entschlossenheit nach dem Wahnsinnigen zu suchen, der diesen Akt des Bösen begangen hatte. Anders ließ der Mord sich nicht beschreiben. Das Schwein hatte den Cop gefoltert, ihm die Beine gebrochen, ihn anschließend getötet und die Leiche dann in Trentons eigenes Bett gelegt.
Und die Decke ordentlich bis ans Kinn des Opfers hochgezogen.
Es war, als wollte der Killer die Polizei verhöhnen. Mason drückte einen Bleistift in den elektrischen Spitzer, ließ das Gerät surren und zog den Stift wieder heraus. Eine perfekte Spitze.
Der Geruch von Holz und Grafit stieg ihm in die Nase. Was würde passieren, wenn er dem Killer eine solche Spitze direkt ins Auge rammte?
Eines von Trentons Augen war zerstört worden.
Calvin Trenton war seit fünf Jahren pensioniert, seit zwanzig geschieden. Gelebt hatte er mit seinem treuen Gefährten, einem kräftigen Rottweilermischling. Die Polizisten hatten den wachsamen Hund unter Trentons Bett gefunden. Knurrend hatte das Tier nach jedem geschnappt, der sich dem toten Körper seines Herrn nähern wollte. Die Cops hatten Hilfe von der Tierschutzbehörde anfordern müssen.
Zwei Cops, die mit als Erste am Einsatzort gewesen waren, waren bei Trentons Anblick die Tränen gekommen. Die scharfen Zähne des Hundes hinderten sie daran, irgendetwas zu tun. Sie konnten den ganz offensichtlich toten Trenton nur von weitem anschauen und warten, bis der Hundeführer kam.
Mason hasste Zufälle und bei diesem neuen Fall gab es verflucht viele davon. Er hatte gern alles klar und ordentlich vor sich, aber das war eher die Ausnahme als die Regel. Die ganze Sache war ein einziger klebriger Morast.
Er kippte seinen Sessel nach hinten und trommelte mit dem Bleistift auf die Tischkante. Zum zehnten Mal in zehn Minuten sah er sich seine Zeichnung auf dem Whiteboard an. In die Mitte hatte er mit blauem Filzstift den Namen Suzanne Mills geschrieben. Rote Pfeile zeigten von dort aus auf vier andere Namen, und diese waren wiederum durch grüne Pfeile miteinander verbunden. Bislang wusste er:
Eine der forensischen Spezialistinnen, Dr. Lacey Campbell, hatte Suzanne Mills gekannt und ihr Skelett am Fundort identifiziert.
Mills war vor einem Jahrzehnt Opfer des College-Girl-Killers, Dave DeCosta, geworden, nachdem Dr. Campbell ihm mit knapper Not entkommen war.
Das Gebäude, unter dem Suzanne Mills’ Überreste gelegen hatten, gehörte Jack Harper.
Und Jack Harper hatte zufällig dabeigestanden, als die Anthropologin mit Trentons Polizeimarke aus dem Zelt gekommen war.
Jack Harper hatte Cal Trentons Marke erkannt.
Er und Trenton waren früher bei der Polizei von Lakefield gemeinsam Streife gefahren.
Mason studierte das farbige Gewirr kreuz und quer verlaufender Pfeile. Nichts ergab einen Sinn.
Warum war der Mord an Cal Trenton absichtlich mit Suzanne Mills’ Knochen verknüpft worden?
Masons Blick hing an dem Namen Lacey Campbell. Er ließ den Bleistift fallen, nahm einen grünen Filzstift, zeichnete einen grün gepunkteten Pfeil von ihr zu Calvin Trenton und begutachtete dann sein Werk. Sein Gefühl sagte ihm, dass es eine Verbindung gab. Nur finden musste er sie noch.
Er würde Dr. Campbell noch einmal befragen.
Masons Magen krampfte sich zusammen. Der gelöste College-Girl-Killer-Fall lag unter dem Staub vieler Jahre begraben. Und jetzt erwachte er plötzlich wieder zum Leben.
Er sah von der Zeichnung zu seinem Partner, der hochkonzentriert auf den Computermonitor starrte. Egal, was Mason jetzt sagte – Ray würde es nicht hören. Wenn er an etwas arbeitete, entwickelte er eine extreme Form von Tunnelblick. Aber verdammt, Ray war gründlich und schlau. Die Nähte seiner Anzugjacke spannten über den breiten Schultern, seine Powerkrawatte war verrutscht – ein klares Zeichen, dass der Fall ihn frustrierte. Ihm erging es nicht anders als Mason.
Mason schaute auf die Uhr. Gleich sieben, und das am Samstagabend. Rays Ehefrau Jill musste eigentlich jeden Augenblick anrufen. Bei Polizisten ging die Arbeit viel zu häufig vor. Doch Ray gelang es, eine gesunde Balance zu halten. Seine Frau und die beiden Kinder waren das Wichtigste in seinem Leben und er sorgte dafür, dass sie es wussten. Insgeheim beneidete Mason ihn um seine Ehe und sein Familienleben. Oft staunte er darüber, wie Ray und Jill jeweils die Sätze des anderen beendeten oder stumm mit den Augen oder ihrer Mimik kommunizierten. Diese Art von Nähe hatte er nie mit einer Frau erlebt. Schon gar nicht mit seiner Ex.
Mason musterte seinen Partner unauffällig. Falls Ray je dahinterkam, was er gerade dachte, würde Jill Wochenende für Wochenende Blind Dates für ihn arrangieren.
Mindestens zweimal im Monat lud sie ihn zum Abendessen ein, aber er lehnte meist ab. Luscos Kids waren noch nicht ganz im Teenageralter, ziemlich cool und für jeden Spaß zu haben. Bei Videospielen verlor er jedes Mal gnadenlos gegen sie. Mason hasste die depressive Stimmung, die ihn jedes Mal befiel, wenn er dieses warme Haus wieder verließ. Immer, wenn er mit Rays Kindern gespielt hatte, vermisste er seinen Sohn Jake noch mehr als sonst. Jake war inzwischen beinahe siebzehn … Scheiße. Jake war fast achtzehn.
War es tatsächlich schon sieben Jahre her, dass seine Ehe den Bach runtergegangen war? Mason runzelte die Stirn und zählte mit den Fingern nach. Zwar verabredete er sich hin und wieder mit Frauen und hatte auch schon Freundinnen gehabt. Aber es hielt nie lang. Inzwischen war er siebenundvierzig und immer noch Single. Seine Frau … Exfrau … hatte mit ihrem zweiten Mann, einem Wirtschaftsprüfer, noch zwei weitere Kinder bekommen. Jake lebte bei seiner Mutter und seinem Stiefvater. Der Mann machte pünktlich Feierabend, trainierte die Little League und eine Fußballmannschaft und führte ein aktives Sozialleben. Für Mason hatte er stets ein Grinsen und einen herzhaften Händedruck parat.
Mason hasste den Kerl.
Er warf einen Filzstift auf Rays Keyboard. Der Stift klapperte über die Tasten.
»Verdammt. Was soll das?« Ray funkelte ihn an, schnappte sich den Stift und zog durch. Mason wich ihm mühelos aus. Ray war ziemlich berechenbar.
»Geh nach Hause, Ray. Genieß das Abendessen, das deine sexy Frau für dich gekocht hat. Und danach schleifst du sie ins Schlafzimmer und …«
»Halt die Klappe.« Ray warf einen Blick auf die Uhr. »Schon so spät! Mist. Ich muss los.« Ray stand auf und schaufelte seine Unterlagen auf Stapel und in Heftmappen.
Mason rieb sich die Brust. Er sah zu, wie Ray sich in seinen Mantel kämpfte.
»Gehst du nicht nach Hause?« Ray hielt mitten in der Bewegung inne. Sein Arm steckte halb im Ärmel, mit seinen hellen Augen sah er Mason forschend an. Die Brauen bildeten unter dem schmucklosen Militärhaarschnitt eine besorgte Linie.
»Noch nicht. Ich möchte noch etwas fertig machen. Aber dann gehe ich auch.«
Ray schaute weg und schlüpfte vollends in den dicken Mantel. »Okay.« Er schlang sich seinen schwarzen Schal ordentlich um den Hals. »Kommst du morgen zu uns, das Spiel ansehen? Jill macht den Nacho-Dip, den du so magst.«
»Das lasse ich mir auf keinen Fall entgehen.« Mason drehte seinen Bleistift zwischen den Fingern. »Bis morgen.«
»Bis dann.« Ray hastete zur Tür, warf aber noch einen letzten Blick zurück. »Geh nach Hause, Callahan.«
»Mach ich. Mach ich. Und jetzt verschwinde.«
Als Ray um die Ecke gebogen war, seufzte Mason auf. Er sank tiefer in seinen Sessel und stellte ihn wieder so, dass er das Whiteboard vor sich hatte. Der Sessel quietschte und ächzte, als er ihn zurückkippte. Mason ließ die Finger knacken, studierte sein Diagramm und konzentrierte sich wieder auf den Fall.
Was passierte da draußen, verdammt noch mal?