NEUN
»Du musst dich von diesem Harper fernhalten. Er steckt knietief in der … Du-weißt-schon. Die Polizei interessiert sich jedenfalls brennend für ihn.« Michael schäumte.
»Er hat niemanden umgebracht! Er hatte nur ein paar Dates mit einem der Opfer«, konterte Lacey.
»Und gehörte eine Zeitlang zum Kreis der Verdächtigen. Und jetzt taucht die Leiche eines anderen Opfers unter seinem Gebäude auf? Dazu noch die Dienstmarke. Wie praktisch ist es denn, dass die Marke seines ermordeten Partners auf seinem Grund und Boden gefunden wurde?«
»Kein bisschen, wenn du mich fragst! Glaubst du, er hat sie dorthin gelegt, damit die Polizei sich endlich mal wieder mit ihm beschäftigt? Er ist kein Idiot.«
Lacey saß auf der Arbeitsplatte in ihrer Küche – Nase an Nase mit Michael, der mal wieder kein Blatt vor den Mund nahm. Aus Erfahrung wusste sie, dass es keinen Sinn hatte, sich mit ihm zu streiten. Er gab niemals nach. Selbst wenn er sich komplett im Irrtum befand und es wusste. Trotzdem wollte sie sich nicht geschlagen zu geben. Und dann dieses Du-weißt-schon! Das machte sie rasend. In ihrer Gegenwart achtete er immer peinlich darauf, keine schmutzigen Worte zu benutzen.
Als würde sie gleich eingehen wie eine Primel.
Schon aus Trotz flocht sie immer jede Menge anstößiger Ausdrücke ein, wenn sie mit ihm sprach. »Deine Haare sind schon wieder scheißlang«, sagte sie missbilligend. »Soll ich dir einen Termin beim Friseur besorgen?«
Michael stürmte aus der Küche. Er war groß und schlank und sah mit seinem stets etwas zu langen, dunkelblonden Haar aus wie ein Künstler. Oder wie ein Poet. So lässig, wie er sich gab, wäre nie jemand auf die Idee gekommen, dass er sich zwei Jahre lang mit einer berüchtigten Motorradgang in Los Angeles herumgetrieben hatte. Hinter der Maske des Bohemiens verbarg sich ein kluger Kopf mit einem verblüffend starken Körper.
Michael war vermutlich der intelligenteste Mensch, den Lacey kannte. Dazu scharfsinnig, gerissen und draufgängerisch. Nicht immer die beste denkbare Kombination. Er hatte ein paar Artikel über die Mitgliedschaft in Motorradgangs geschrieben – also wurde er selbst ein Rocker. Er wollte wissen, wie man sich auf dem Gipfel des Mount McKinley fühlte. Also bestieg er den Berg. (Und behauptete anschließend, es sei die viele Mühe, das Frieren und das Schwitzen nicht wert gewesen.) Er versuchte sich im Triathlon und im Fallschirmspringen und paddelte auf dem Amazonas. Um seine eigene Haut sorgte er sich nie. Ihn interessierte nur die Antwort auf die Fragen, die ihn beschäftigten, und die Befriedigung seines Verlangens nach neuen Erfahrungen. Einmal hatte er beim Stierlauf in Pamplona mit durch die Straßen rennen wollen. Aber Lacey hatte ihm weisgemacht, er hätte den Termin verwechselt. Deshalb verpasste er das Ereignis. Zwei Wochen lang hatte er damals nicht mit ihr geredet.
Das war es ihr wert. Dafür war er unverletzt wieder nach Hause gekommen.
Eine Zeitlang waren sie ein Paar gewesen, aber das hatte nicht funktioniert. Sie war eine halbwegs konventionelle Frau und er alles andere als ein konventioneller Mann. Er hatte zu viel Feuer und sie brauchte Stabilität. Michael wich ihr nicht von der Seite und riss das Kommando an sich, während sie nach Unabhängigkeit strebte. Ständig hatte er sie vor den Untiefen des Lebens schützen wollen und verstand nicht, dass sie sich auch der hässlichen Seite des Schicksals stellen musste, um sich zu beweisen, dass sie auf eigenen Beinen stehen konnte. Als die Trennung sich abzeichnete, gelobte er, er würde sich ändern. Aber dann wäre er nicht mehr der leidenschaftliche Michael gewesen, den sie liebte. Als sie die Beziehung beendet hatte, war er in monatelanges, düsteres Grübeln versunken. Er war nach Alaska verschwunden und hatte auf einem Krabbenkutter angeheuert, weit weg von allen Frauen. Aber das Alaska-Abenteuer hatte er beinahe mit dem Leben bezahlt: Er war von Deck gestürzt und zwanzig Sekunden lang in der eisigen Beringsee untergetaucht.
Nach und nach hatte Michael sich mit seiner Rolle als bester Freund abgefunden. Inzwischen gebärdete er sich meist wie ein älterer Bruder mit überentwickeltem Beschützerinstinkt. Lacey liebte ihn von ganzem Herzen und betrachtete ihn als Teil der Familie. Und sie zankten sich wie Geschwister.
Dass Jack Harper bei Michael sämtliche Warnlichter aufleuchten ließ, war Lacey klar. Einerseits war Jack für ihn am Telefon nicht zu sprechen, andererseits tauchte sein Name in allen möglichen Zusammenhängen mit dem Fall immer wieder auf. Das stachelte die unstillbare Neugier des Enthüllungsjournalisten in Michael an. Wenn irgendwo irgendetwas zum Himmel stank, bohrte, grub und forschte er so lang, bis er die Antworten hatte, die er suchte. Er hatte pädophile Priester an den Pranger gestellt und Kinderstalker, die ihr Unwesen im Internet trieben. Und er hatte Schmiergeldzahlungen in Verbindung mit der Gefängnisverpflegung in Oregon aufgedeckt.
Michael öffnete die Schranktür neben Laceys Spülbecken und wühlte sich durch ihre Arzneimittel. »Hast du Ibuprofen? Mir platzt gleich der Kopf.«
»Ganz hinten.«
Ihr entging nicht, dass er unauffällig die Etiketten der anderen Tablettenröhrchen las. Glaubte er im Ernst, sie würde das nicht merken?
»Irgendwas Stärkeres gegen Schmerzen?«
»Nein«, fauchte sie. »Du weißt, dass ich nichts habe.« Sie schnaubte. Er macht sich Gedanken. Er fragt nur, weil er sich sorgt.
So plötzlich, dass ihr Gehirn ins Schleudern kam, wechselte Michael das Thema.
»Ich habe heute Suzannes vorläufigen Obduktionsbericht gelesen.« Wie schaffte er das? Sie selbst würde den Bericht erst morgen zu Gesicht bekommen. Der Mann hatte überall seine Quellen. Ärgerlich, aber erwartungsvoll sah sie ihn an.
»Ihre Identität ist noch nicht endgültig bestätigt«, erklärte Michael.
Lacey schüttelte den Kopf. »Schon möglich, dass es noch nicht offiziell ist. Aber ich weiß, dass es sich um Suzanne handelt. Ich habe den odontologischen Bericht erstellt. Die Übereinstimmungen mit ihren alten Röntgenbildern waren hundertprozentig. Sie ist es. Vielleicht werden noch ein paar DNA-Tests durchgeführt. Aber an ihrem ungewöhnlichen Zahnersatz würde sogar ihre Mutter sie wiedererkennen.«
»Irgendetwas gefällt mir daran nicht.« Michael ging wieder auf und ab, tigerte auf dem Holzdielenboden hin und her und ließ die Finger über jeden Gegenstand in Laceys Küche wandern. »Du hast mir nicht gesagt, dass ihre Oberschenkelknochen gebrochen waren«, sagte er.
»Es war dasselbe Tatmuster wie bei allen Opfern, okay? Alle wurden mit gebrochenen Oberschenkeln gefunden. Warum sollte das bei Suzanne anders sein?« Lacey schluckte.
Michaels bohrender Blick gab ihr beinahe das Gefühl, etwas Unanständiges gesagt oder getan zu haben.
»Überleg’ doch mal, Lacey. Kennst du nicht noch eine andere Turnerin mit gebrochenen Beinen?«
Es gab tatsächlich eine.
»Aber das war ein Unfall … Damals hieß es, die starke Strömung und die Felsen wären der Grund für die Brüche gewesen. Amy ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, Michael … Sie wurde nicht umgebracht. Außerdem war das in Mount Junction, etliche Jahre vor Suzannes Tod.« Ihre eigenen Worte brachten sie ins Grübeln. In Zeitlupe glitt sie von der Arbeitsplatte und schob sich auf einen Barhocker. Ihr schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Es gab keine Verbindung zwischen Suzanne und Amy. Das konnte einfach nicht sein. Amy Smith, eine Turnerin und Mannschaftskameradin, war versehentlich mit ihrem Wagen im Fluss gelandet. Ihre Leiche hatte man erst nach einigen Wochen gefunden. »DeCostas Opfer hatten allesamt gebrochene Oberschenkel. Und du glaubst, Amy gehörte auch dazu?«
»Sie war Turnerin, sie war blond. Sie hatte dieselben Brüche wie die anderen und sie ist tot. Für mich sind das vier Zufälle zu viel. Ich werde der Sache nachgehen.« Michael hatte eine neue Mission. Lacey sah es seinen Augen an. Dieser Mann würde von jetzt an nicht mehr ruhen, bis seine Fragen beantwortet waren.
»Hast du mit der Polizei darüber gesprochen?« Lacey war immer noch ganz durcheinander. Doch nicht Amy.
»Noch nicht. Bislang ist alles pure Spekulation. Ich fahre erst nach Mount Junction und recherchiere ein bisschen. Okay. Was hast du Harper erzählt?« Michael zog sich einen Hocker heran und setzte sich Lacey Knie an Knie gegenüber. Wieder der bohrende Blick seiner grünen Augen.
Lacey blinzelte. Gerade hatten sie noch von Amy gesprochen. Wie konnte Michael immer wieder derart abrupt das Thema wechseln? »Warum?«
»Oh Mann, Lace. Ich habe dir eine ganz simple Frage gestellt.«
Sie zuckte die Schultern. »Er wollte wissen, was in der Nacht passiert ist, in der Suzanne und ich überfallen wurden. Wir haben uns ein paar Minuten lang darüber unterhalten.« Sie schaute überall hin, nur nicht in Michaels Augen.
»Und ihr habt vor, ein andermal weiterzureden.«
»Und wenn schon!«, blaffte sie.
»Er war mit einem der Opfer zusammen.«
»Das weiß ich.« Lacey sah wieder beiseite. »Ich bin müde. Können wir morgen weiterreden?« Ein Blick auf die Uhr und Michael sprang vom Barhocker. Es war nach Mitternacht. »Tut mir leid, Lace. Aber du solltest wissen, mit wem du es zu tun hast.«
Michael legte ihr die Hand auf die Schulter, hob ihr Kinn und küsste sie zart auf den Mund. »Ich ruf dich morgen an.« Er betrachtete die dunklen Schatten unter ihren Augen und runzelte die Stirn. Lacey wusste, dass er das Gefühl hatte, auf sie achtgeben zu müssen, denn er glaubte, dass sie das selbst nicht ausreichend tat. Vielleicht hatte er ja recht. Jemand, der in Suzannes Fall verwickelt war, hatte Kontakt zu ihr aufgenommen.
Aber bei dem Gespräch mit Jack Harper hatte sie zum ersten Mal seit Ewigkeiten ein gewisses Interesse für einen Mann empfunden. Nachdem sie andere Menschen jahrelang von sich ferngehalten und sich innerlich wie taub gefühlt hatte, fühlte es sich unglaublich gut an, diesen Funken zu spüren. Jack hatte sicher nichts mit dem Auftauchen von Suzannes Überresten zu tun. Jack Harper gehörte zu den Guten. Sie spürte es genau.
Lacey brachte Michael zur Haustür, wo er das einfache Bolzenschloss düster beäugte. »Warum hast du immer noch keine Sicherheitstür und keine Alarmanlage? Soll ich das für dich organisieren?«
»Lass es gut sein, Michael. Ich kann heute Nacht nicht mehr mit dir streiten. Und geh zum Friseur. Bitte.« Lacey stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Einen Moment lang hielt sein Blick sie fest, dann joggte er die Verandastufen hinab. Er strahlte wilde Entschlossenheit aus.
Den Kopf voller Gedanken an Suzanne, Amy und Jack Harper ging Lacey zurück in die Küche.