FÜNFUNDZWANZIG
Irgendetwas stimmte nicht.
Lacey war von seinem Radar verschwunden. Vielleicht war er mit der kleinen Botschaft an sie zu früh zu weit gegangen. Er hatte beobachtet, wie sie mit Harper zusammen das Präsidium verlassen hatte, und war davon ausgegangen, dass sie zu ihr fahren würden. Deshalb war er vorausgeeilt, hatte gewartet. Eine ganze Stunde lang. Aber niemand kam.
Niemals von irgendwelchen Annahmen ausgehen. Das war Regel Nummer eins und er hatte dagegen verstoßen.
Er nahm sich fest vor, stark zu sein, auf seine Selbstdisziplin zu vertrauen. Keine unüberlegten Handlungen mehr. Warum brachte Lacey Campbell ihn immer wieder von seinem Kurs ab? Wegen ihr traf er spontane Entscheidungen, für die in seinen Plänen kein Platz war. Er musste Kurs halten.
Ihr die verdammte Nachricht zukommen zu lassen, war völlig unnötig gewesen. Dasselbe galt für den Videoclip von Richard Buck, den er ihr aufs Handy geschickt hatte.
Er konnte dem Drang, mit dieser Frau zu kommunizieren, einfach nicht widerstehen, und jetzt bezahlte er den Preis dafür.
Wo waren die beiden bloß? Er war in die Stadt gefahren und hatte Harpers Wohnung überprüft. Hinter einem Minivan voller lärmender Kinder hatte er sich in das gesicherte Parkhaus geschoben. Der gestressten Mutter am Steuer war das gar nicht aufgefallen. Aber Harpers Wagen stand nicht an seinem Platz. Hatte er Lacey so viel Angst eingejagt, dass sie sich jetzt versteckte? Aber dann hätte sie doch sicher vorher ein paar Sachen aus ihrem Haus geholt. Dort hatte er ihre Spur eigentlich aufnehmen wollen.
Er fuhr wieder zu ihr, parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wartete. Und wartete.
Er hatte das New-York-Times-Kreuzworträtsel fast fertig, als jemand ans Seitenfenster klopfte. Vor Schreck ließ er den Stift fallen. Ein älterer Herr mit einem lebhaften schwarzen Labrador an der Leine gab ihm durch eine Geste zu verstehen, er solle das Fenster herunterlassen. Während er der Aufforderung nachkam, rief er sich hastig die Geschichte ins Gedächtnis, die er sich für neugierige Anwohner zurechtgelegt hatte.
Forschende Augen unter buschigen grauen Brauen musterten ihn. »Bewachen Sie das Campbell-Haus?«, bellte der Mann.
»Ja. Ist Ihnen seit der Sache letzte Nacht irgendwas aufgefallen? Hat sich jemand hier herumgetrieben?« Er gab sich gelangweilt. Ein Bulle in öder Mission. Sein schwarzer Wagen ging gerade so als polizeiliches Zivilfahrzeug durch.
Der alte Mann schüttelte den Kopf, dass die Hängebacken nur so wackelten. »Die vielen Einsatzwagen und die Sirenen haben mich letzte Nacht geweckt. Seither kann ich nicht mehr schlafen. Aber ich habe niemanden gesehen. Was zum Teufel ist da drüben eigentlich los?«
»Anscheinend hat sich auf Dr. Campbells Grundstück jemand herumgetrieben.«
Die buschigen Brauen schossen in die Höhe. »Und ihr Freund, dieser Reporter, hat sich den Kerl geschnappt? Der ist oft hier. Sieht aus wie jemand, der sich zu helfen weiß.« Verschwörerisch rückte der alte Mann näher. Sein Atem stank. »Sie lebt allein, müssen Sie wissen. Das kann ja nicht gut gehen. Eine attraktive junge Frau und keiner, der auf sie aufpasst. Ich weiß gar nicht, was ihr Vater sich dabei denkt, sie hier einfach so wohnen zu lassen.«
»Sie kennen James Campbell?« Ein Nachbar, der gern tratschte. Was er wohl alles aus ihm herauslocken konnte?
»Klar doch. Ich wohne schon seit zwanzig Jahren direkt gegenüber. Die Campbells waren immer gute Nachbarn. Kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten, halten das Grundstück in Schuss. Ich erinnere mich noch daran, wie seine Frau gestorben ist.« Der Alte schüttelte bedauernd den Kopf. »Anfangs dachte ich, James würde nie darüber hinwegkommen. Wunderschöne Frau. Das Mädchen sieht ihr ähnlich.«
»Hatte sie in letzter Zeit Besucher, die Sie nicht kannten?«
»Vor ein paar Tagen blieb ein Mann über Nacht. Nicht der Freund, der sonst immer kommt. Der Neue war schwarzhaarig und ich hatte ihn noch nie gesehen. Viel Besuch kriegt sie aber nicht.« Der Hund schnüffelte am Vorderrad und hob das Bein.
Sein Griff um das Steuer wurde fester, doch er versuchte, den Hund nicht zu beachten. Im Kopf ließ er die Worte des Mannes noch einmal ablaufen. Schwarzhaarig? Über Nacht? Waren Lacey und Harper sich bereits näher gekommen, als er gedacht hatte? Bisher hatte er nur den einen Kuss beobachtet. Hatte die Schlampe ihn etwa bereits in ihr Bett gelassen? Diese Nutte.
»Vor ein oder zwei Tagen stand auch mal ein Streifenwagen vor dem Haus.«
Er nickte den alten Mann an, als wäre ihm das bekannt. »Sicher haben Sie mitbekommen, dass die beiden Detectives ein paarmal da waren.« Er warf einen Blick auf die Uhr. Vermutlich würde er nicht mehr viel Nützliches erfahren.
»Ach, das waren Detectives? Für mich sahen die aus wie Versicherungsvertreter. Die Krawatten und die Jacketts. Sie wissen schon. Cooper, sitz!« Der Hund gehorchte sofort. Mit schief gelegtem Kopf musterte er den Wagen und den Fahrer. Sein wedelnder Schwanz fegte durch den Schnee.
Er dachte an einen anderen Hund aus einer anderen Zeit.
»Schönen Hund haben Sie da. Ich muss jetzt wieder in die Stadt runter, aber ich glaube, so schnell werden Sie hier keinen Ärger mehr bekommen, Mr …«
»Carson. Jefferson Carson.« Der Nachbar richtete sich auf, dabei gab seine Wirbelsäule mehrere Knacklaute von sich.
»Schönen Tag noch, Mr Carson. Und rufen Sie uns an, wenn Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt.«
Er wendete in Laceys Einfahrt. Dabei winkte er dem Alten mit dem Hund noch einmal lässig zu.
Netter Kerl. Verbringt sicher sein halbes Leben damit, den Nachbarn hinterherzuspionieren.
Hoffentlich muss ich ihn nicht ausschalten.