SECHSUNDZWANZIG

Amy Smiths Vater wollte Michael am liebsten aus dem Haus werfen. Sein Gebaren ließ daran keinen Zweifel. Aber immer, wenn der Zorn des Mannes überschäumen wollte, berührte Janet Smith, seine Ehefrau, ihn einfach nur an der Hand. Diese schlichte Geste reichte aus, um ihn zu besänftigen. Das Zusammenspiel der beiden faszinierte Michael. Die Smiths waren wie zwei Teile eines Ganzen – jeder konnte die Gedanken des anderen lesen. Gary Smith war immer in Bewegung und sehr emotional. Janet war ruhig und die Vernunft in Person.

Eine perfekte Ehe.

Michael wollte in Mount Junction mit Amy Smiths Eltern und danach mit anderen Familien sogenannter Unfallopfer reden. Sein Gefühl sagte ihm, dass ihm mit der Entdeckung einer Verbindung zwischen den Opfern in Mount Junction und denen in der Gegend von Portland ein großer Wurf gelungen war. Sogar die Polizei von Mount Junction hatte er überzeugen können. Die Beamten hatten die Akten aller fraglichen Ermittlungen noch einmal aus den Archiven geholt und überprüften die Übereinstimmungen, auf die Michael sie bei seinem letzten Besuch aufmerksam gemacht hatte. Michael ging fest davon aus, dass er hier draußen eine Spur finden würde, die zu dem Killer führte.

»Seit Sie die Idee in die Welt gesetzt haben, Amy könnte ermordet worden sein, ist unser Leben völlig aus den Fugen geraten.« Die Miene des Vaters war ein einziger Vorwurf. »Aufdringliche Reporter kriechen aus allen Ritzen, Nachrichtensender belagern uns und wir wurden häufiger von der Polizei befragt als ein Verdächtiger bei CSI Miami

»Gary, es ist doch nicht seine Schuld, dass die Polizei sich alle alten Fälle noch mal vornehmen muss. Willst du denn nicht wissen, was damals tatsächlich passiert ist? Ich hatte schon immer so ein seltsames Gefühl. Wir wussten nicht, wohin Amy wollte, als sie in den Fluss fuhr. Eigentlich dachten wir, sie wäre meilenweit entfernt beim Einkaufen.«

Janet Smith war ein Ausbund an gesundem Menschenverstand. Für Anfang sechzig hatte die kleine Frau ein erstaunlich glattes Gesicht. Spuren der Schönheit, die Gary früher einmal um den Verstand gebracht haben musste, konnte Michael darin immer noch erkennen. Gary war massig wie ein Football-Linebacker und unfähig stillzusitzen. Sein schneeweißes Haar bildete einen harten Kontrast zu den schwarzen Brauen und dem schwarzen Schnauzbart. Irgendwie war es der zarten kleinen Frau gelungen, diesen energiestrotzenden Kerl zu zähmen. Michael machte es schon nervös, im selben Raum mit ihm zu sitzen.

Das Gespräch fand im fast schon sterilen Wohnzimmer im stillen Haus der Smiths statt. Dieses Heim hatte eine Aura akuter Leere – so als warte es nur darauf, dass die Zeit verging.

Janets verständnisvoller Blick weckte in Michael für einen kurzen Moment den Wunsch, seine Mutter wäre wie sie. Doch seine karrieresüchtige Frau Mama ähnelte eher Gary.

Aus dessen Augen funkelte ihm Hass entgegen. »Wir müssen nicht mit Ihnen reden und Ihre neugierigen Fragen beantworten. Ich frage mich sowieso, warum Janet Sie überhaupt ins Haus gelassen hat. Wenn Sie wissen wollen, was wir gesagt haben, wenden Sie sich an die Polizei.«

»Gary. Ich habe ihn hereingelassen, weil er die Wiederaufnahme der Ermittlungen angestoßen hat. Und dafür bin ich ihm dankbar. Dass dir das nicht gefällt, ist mir schon klar. Aber bisher hat er uns nur geholfen.« Sie legte die Hand auf den Arm ihres Mannes.

Gary wollte etwas sagen, klappte den Mund aber wieder zu.

Michael wandte sich an Janet. »Ich weiß, dass Sie das bereits mehrmals gefragt wurden. Aber können Sie mir etwas über die Jungs erzählen, mit denen Amy damals ausging?« Gary sah er bei dieser Frage lieber nicht an.

»Sie war damals mit Matt zusammen. Die beiden waren seit mindestens zwei Jahren befreundet; mit anderen Jungs traf sie sich nicht. Sie redeten übers Heiraten, wollten aber erst beide zu Ende studieren. Eigentlich betrachteten wir ihn schon als unseren zukünftigen Schwiegersohn.«

Michael warf einen Blick in seine Notizen. »Matt Petretti?«

»Ja. Er hat vor sieben Jahren geheiratet. Er und seine Frau schicken uns jedes Jahr eine Weihnachtskarte. Sie haben zwei kleine Jungs und ein Mädchen.«

Der wehmütige Unterton in Janets Stimme entging Michael nicht. Keine Enkel für dieses Paar. Amy war ihr einziges Kind gewesen.

»Dann haben Sie also immer noch Kontakt.«

»Als Amy gefunden wurde, war Matt uns eine große Stütze. Er wird immer so etwas wie ein Sohn für uns bleiben.« Diesmal nickte Gary stumm, als sie ihn ansah.

»Ich weiß, dass ein paar Wochen vor Amys Tod in ihr Apartment eingebrochen wurde«, sagte Michael. »Im Polizeibericht steht, ihre Stereoanlage und einige CDs seien gestohlen worden. Ist Ihnen außerdem noch etwas eingefallen?«

»Damals kamen wir gar nicht auf die Idee, dass beides irgendwie zusammenhängen könnte«, sagte Gary nachdenklich. »Wir mussten jetzt alles noch einmal erzählen, was wir aus der Zeit noch wissen. Aber es ist so lang her, dass wir uns nicht an viel erinnern. Die gestohlenen Sachen sind nicht mehr aufgetaucht. Wenigstens das weiß ich sicher.«

»Ein paar Bilder wurden ihr auch geklaut. Die hat sie damals bei der Polizei nicht angegeben, weil sie keinen materiellen Wert hatten.« Janet sprach leise.

»Bilder? Zum an die Wand hängen?« Michael dachte an die billigen Poster, mit denen College-Studenten die kahlen Wände ihrer Studentenbuden tapezierten.

»Nein. Fotografien. Ihr wurde ein ganzes Album voller Fotos gestohlen.«

»Neue? Alte? Familienbilder?«

»Sie waren neu. Das weiß ich noch, weil sie darüber so traurig war. Sie hatte mir die Fotos nicht zeigen können, bevor sie gestohlen wurden. Ich nehme an, es waren Bilder von ihren Freunden, von anderen Sportlerinnen und von ihr und Matt. Hier bei uns hatte sie schon jahrelang keine Bilder mehr gemacht.«

Fotografien. Warum stahl jemand Fotos von Leuten, die er gar nicht kannte?

Aber vielleicht kannte der Dieb sie ja.

»Hat Amy sich je darüber beklagt, dass sie sich auf dem Campus verfolgt fühlte? Wegen ihrer Bekanntheit als Turnerin?« Michael wechselte das Thema. Über die gestohlenen Bilder wollte er erst einmal in Ruhe nachdenken. Möglicherweise steckte mehr dahinter. Oder auch nicht.

Gary und Janet tauschten einen betroffenen Blick aus.

»Amy konnte sich nicht daran gewöhnen, überall erkannt zu werden. Das lag vor allem an den Plakatwänden.«

»Waren das Plakate von der ganzen Mannschaft?«

»Nein. Normalerweise war nur ein einzelnes Mädchen bei einer spektakulären Übung darauf abgebildet. Die Poster dienten als Werbung für die Wettkämpfe. Gelegentlich beklagten sich die Leute in der Stadt, die Posen seien zu gewagt. Nach hinten gewölbte Rücken, nackte Arme und Beine … In einer konservativen Stadt wie dieser sorgten manchmal allein die eng anliegenden Trikots für Kritik.« Janet stand auf. »Über ein ganz wunderbares Plakat von Amy gab es auch Beschwerden. Ich habe noch ein Poster davon. Ich zeige es Ihnen.«

Michael nickte. Als Janet aus dem Zimmer eilte, fühlte es sich sofort kalt und spannungsgeladen an. Er und Gary musterten einander schweigend.

»Mein Leben war besser, als ich noch an einen Unfall glauben konnte.« Garys Augen wanderten zu dem Porträt eines Kleinkindes über dem steinummantelten offenen Kamin. Amy.

Michael nickte. Verständlich.

Eine stille Feindseligkeit stand fast greifbar im Raum.

»Ich hab’s.« Mit Janet kam die Wärme zurück. Aus ihrer Stimme sprach Stolz auf ihre Tochter und als Michael das Poster sah, konnte er sie verstehen.

Amy war wunderschön gewesen. Das Bild zeigte sie im Profil auf dem Boden sitzend, ihr Körper füllte die gesamte Fläche. Weit zurückgelehnt stützte sie sich auf einen Ellbogen. Den Kopf hatte sie in den Nacken geworfen, ihr Kinn zeigte in den Himmel, ihre Kehle wölbte sich vor. Das rechte Bein hatte Amy angezogen. Der Fuß stand flach auf dem Boden. Das andere Bein war gestreckt bis in die Zehenspitzen. Ihre freie Hand lag lässig auf dem angewinkelten Knie. Das rote Mannschaftstrikot, das sie trug, betonte die für eine Turnerin typischen ausgeprägten Muskelpartien. Über ihr stand in fetten Buchstaben »Southeast Oregon University – Turntage«. Ohne den Schriftzug konnte man sich das Foto auch in einer Männerzeitschrift vorstellen. Es wirkte gleichzeitig sexy und athletisch.

Michael betrachtete das lange blonde Haar, das von Amys Kopf bis auf den Boden floss.

Es erinnerte ihn an Lacey.

Gary betrachtete das Poster mit einer Mischung aus Missfallen und Stolz. Michael versuchte, das Bild mit den Augen eines Vaters anzuschauen.

Würde er sich wünschen, seine Tochter so auf einer Plakatwand zu sehen?

Nein, verdammt.

»Sie ist wunderschön.« Michael räusperte sich. Er griff nach seinem Notizbuch und seiner Jacke. »Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben. Es tut mir leid, dass ich Sie belästigen musste.«

Ein wenig perplex riss Janet den versonnenen Blick von dem Poster los. Sie war ganz weit weg gewesen. Michael fühlte sich wie ein Eindringling. Hastig machte er sich auf den Weg zur Tür. Mit der Hand auf dem Türknauf drehte er sich noch einmal zu Janet um. »Könnten Sie mir vielleicht Matt Petrettis Telefonnummer geben?«

Zwanzig Minuten, nachdem das Video auf Laceys Handy angekommen war, kam Alex mit zwei prallen Tüten vom Chinesen zurück. Dicht gefolgt von zwei Cops. Würzige Essensdüfte zogen jetzt durchs Haus, sorgten aber nur dafür, dass Lacey aus der Küche stürzte. Würgend hing sie über der Toilette und war dankbar, dass sie in den letzten Stunden so gut wie nichts gegessen hatte.

Als die Polizisten mit Laceys Handy und dem Protokoll ihrer Aussage wieder gingen, war das Essen kalt. Die Männer machten sich trotzdem darüber her und drängten Lacey, sich auch etwas zu nehmen. Aber ihr war der Appetit gründlich vergangen. Wie konnten die beiden nach dem Anblick der Angelhaken auch nur einen Bissen hinunterbringen? Alex und Jack hatten sich den kurzen Film mehrmals angesehen. Lacey war schon nach dem einen Mal komplett bedient gewesen.

Alex aß hastig, dann entschuldigte er sich. Er sagte, er müsse einen dringenden Anruf erledigen. Danach verschwand er im Flur. Das Telefonat führte er von seinem Schlafzimmer aus. Lacey hörte, wie er die Tür hinter sich zuzog. Sie und Jack blieben allein am Tisch zurück. Zwischen ihnen standen einige halb leergegessene Pappschachteln. Die Männer hatten ordentlich zugelangt. Trotzdem blieben Alex genügend Reste für ein paar weitere Tage.

Anscheinend fand er Lacey inzwischen ein wenig sympathischer. Jedenfalls hatte er auf das Video sehr ärgerlich reagiert und schien sich ernsthaft um ihre Sicherheit zu sorgen. Während des Essens hatten zwar fast nur er und Jack geredet, aber er hatte Lacey ein paar Fragen zu DeCosta gestellt.

Jetzt wünschte Lacey sich Alex zurück in das stille Esszimmer. Er taugte gut als Puffer zwischen ihr und Jack. Jack einfach zu ignorieren, war unmöglich. Er gehörte zu den Menschen, die allein durch ihre Anwesenheit einen Raum füllten. Seine männliche Aura drang bis in den letzten Winkel des kleinen Zimmers. Keine Frau konnte ihm gegenübersitzen, ohne die Wirkung körperlich zu spüren. Das heiße Kribbeln, das Lacey plötzlich durchrieselte, überraschte sie. Wie war das möglich, wo sie doch gerade erst die grauenhaftesten Bilder ihres Lebens gesehen hatte?

Die schlichte Antwort lautete, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, und das fand sie beängstigend.

Dieser Mann benahm sich gegenüber Frauen wie ein Kind, das man in einem Bonbonladen allein ließ. Er naschte hier und da, fand einen Geschmack schnell fad und griff nach einer anderen Süßigkeit. Der Artikel im Portland Monthly hatte keinen Zweifel daran gelassen: Bindungsfähigkeit war für Jack Harper ein Fremdwort.

So einen Mann brauchte sie nicht.

»Magst du kein chinesisches Essen?«

»Doch, schon.« Lacey verzog das Gesicht. »Mir ist bloß der Appetit vergangen.«

Jack legte die Gabel weg und sah sie forschend an. »Und was magst du sonst noch?«

»Mexikanisch, italienisch …«

Er schüttelte den Kopf. »Ich spreche nicht vom Essen. Ich weiß überhaupt nichts über dich. Nicht, welche Musik du gern hörst, auf welcher Highschool du warst oder wodurch du deine Mutter verloren hast.«

Sie blinzelte. Jack Harper wollte wissen, wie sie tickte. Lacey musterte ihn und fragte sich, was für Absichten er hatte. Er schien es ernst zu meinen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr das letzte Mal jemand derart persönliche Fragen gestellt hatte. Weil sie sich von Beziehungen so lang ferngehalten hatte, hatte sie vergessen, wie man mit einer anderen Person Vertrautheit entwickeln konnte. Sie lebte schon zu lang sehr zurückgezogen. Die einzigen Menschen, die sie wirklich kannten, waren Michael und Amelia. Und Kelly.

Beim Gedanken an ihre verschwundene Freundin traten Lacey Tränen in die Augen.

»Ach, Mist. Ich wollte meine Nase nicht in Dinge stecken, die mich nichts angehen. Ich habe gar nicht daran gedacht, dass meine Fragen dir wehtun könnten. Ist es wegen deiner Mom?« Jack sah ziemlich betroffen aus.

Lacey drückte sich eine saubere Serviette an die Augen, dann tupfte sie sich damit die feuchte Nase ab. Verdammt. Vor anderen Leuten zu weinen, war ihr zuwider. »Nein. Das ist nicht das Problem.« Sie versuchte, sich damenhaft zu schnäuzen. Unmöglich. »Es ist wegen Kelly. Lieber Gott. Was macht er jetzt mit ihr?« Neue Tränen stiegen ihr in die Augen.

Lacey hatte so etwas schon einmal durchgemacht. Damals nach Suzannes Verschwinden war sie jahrelang wie eine Schiffbrüchige auf dem Was-wenn-Ozean getrieben. In ihrer Fantasie hatten sich die schrecklichsten Szenarien abgespielt. Die Zeitungsartikel, in denen von den Folterspuren an den ermordeten Mädchen die Rede war, waren zur Vorlage für ihre Alpträume geworden.

»Ich wollte dich nicht an sie erinnern. Es tut mir leid.«

»Ich weiß, dass du das nicht wolltest. Aber sie ist einer der wenigen Menschen, die mich in- und auswendig kennen. Und als du deine Fragen gestellt hast … wurde mir klar, dass ich nur sehr wenige Leute an mich heranlasse.« Lacey schniefte sich durch die Sätze. Den forschenden Augen voller Mitgefühl wich sie aus.

Dabei wollte sie am liebsten alles bei ihm abladen, ihm sagen, wie viel Angst sie um ihre Freundin hatte. Und um sich selbst. Sie wolle ihm erzählen, wie allein sie sich nach dem Tod ihrer Mutter und nach Suzannes Verschwinden gefühlt hatte. Und warum sie sich davor fürchtete, andere Menschen zu nahe an sich heranzulassen: Es tat einfach zu sehr weh, wenn sie plötzlich nicht mehr da waren.

Aber welcher Mann kam schon mit einem solchen Berg Altlasten zurecht?

Plötzlich war er neben ihr, kniete an ihrer Seite. Eine Hand legte er tröstend auf ihre Schulter, mit der anderen strich er ihr das Haar aus den Augen. Die zarte Berührung brachte die Tränen erneut zum Fließen, aber diesmal schaute sie ihn an, obwohl sein Gesicht hinter dem Tränenschleier verschwamm. Aus den stahlgrauen Augen sah ihr echtes Mitgefühl entgegen. Es waren die Augen, die sie schon seit ihrer ersten Begegnung nicht mehr losließen.

Ihre Tränen machten ihm keine Angst.

Er durfte nicht der Fels in der Brandung werden, den sie sich für ihr Leben so sehr wünschte. Denn wenn er wieder ging, würde sie das in Stücke reißen. Aber jetzt, in diesem Augenblick, brauchte sie jemanden, der sie festhielt.

Sich an ihn zu schmiegen, war ein Risiko, das sie eingehen wollte. Sie vergrub die feuchten Augen an seiner Schulter. Er legte die Arme um sie und drückte sie an sich. Lacey spürte seine Lippen an ihrer Schläfe; seine wohltuende Wärme hüllte sie ein, dämpfte ihre Angst und ließ in der dicken Mauer um ihr Herz noch mehr Risse entstehen.

Mason Callahan hatte drei tote Männer, eine vermisste Frau und keine heiße Spur. Der gemeinsame Nenner hieß Dave DeCosta. Er war die Mitte, von der aus die Fäden in alle Richtungen liefen. Callahan musste das Suchfeld begrenzen. Bei der Verfolgung unergiebiger Hinweise Zeit zu verlieren, frustrierte ihn zutiefst. Aber ob ein Hinweis unergiebig war oder nicht, stellte sich meist erst nach langwierigen Nachforschungen heraus. Da war zum Beispiel die Tatsache, dass Suzanne ein Kind geboren hatte, von dem aber niemand etwas wusste. Wo sollte er anfangen? Lebte das Kind überhaupt noch? Im letzten Jahrzehnt waren keine namenlosen Säuglinge und auch keine sterblichen Überreste von Babys gefunden worden. Er trat aus dem Präsidium in das leichte Schneegeriesel hinaus und starrte in den verhangenen Himmel. Für die nächsten Stunden waren noch ein paar Zentimeter Neuschnee vorhergesagt. Mit einer großen Tasse schwarzem Kaffee in der Hand stapfte er kreuz und quer über den Parkplatz, pflügte Pfade in den Schnee, die die geparkten Wagen umrundeten und sich immer wieder kreuzten. Er dachte gern draußen nach. Nach den vielen Stunden unter den Leuchtstoffröhren im Büro sorgte die klirrend kalte Luft für einen klaren Kopf. Er trat nach einem schmutzigen Eisklumpen, der von einem Fahrzeug abgefallen war. Der Klumpen hinterließ einen dunklen Streifen im frischen Schnee. Mason schaute hinauf zu dem Fenster, von dem aus er und Ray zusammen Dr. Campbell und Harper beobachtet hatten. Jetzt beobachtete Ray ihn.

Ray schüttelte im Augenblick sicher den Kopf, stapfte dann durchs Büro und sagte jedem, der es hören wollte, dass Mason nicht mehr alle Tassen im Schrank haben konnte, weil er draußen durch die Kälte stolperte. Aber bald würde er zu ihm herunterkommen. Im Lauf der Jahre hatten sie beide auf dem Parkplatz hunderte Meilen zurückgelegt. Und es war erstaunlich, wie gut sie manchmal mit einem Fall vorankamen, während sie sich die Nasen abfroren. Mason stellte Vermutungen an, hinterfragte sie und dachte laut vor sich hin. Ray machte in seinem idiotischen Buch Notizen, ordnete das Chaos und präsentierte Mason das Ergebnis.

Komm schon, Ray.

Mason nahm einen Schluck von seinem kälter werdenden Kaffee und versuchte, sich zu konzentrieren. Er wusste, dass die Person, die die Karte für Dr. Campbell abgegeben, sie und Harper gefilmt und das scheußliche Video von Richard Buck geschickt hatte, sein Mann war. Der Killer.

Aber wer war er?

War DeCosta für die Morde damals in Mount Junction verantwortlich? Oder steckte der aktuelle Serienkiller, der gerade zur Hochform auflief, dahinter? DeCosta hatte nie etwas über tote Mädchen in Mount Junction gesagt. Dabei hatte der Kerl sich immer gern reden gehört.

Er hatte seine Opfer in Waldgebieten abgelegt, sie nicht versteckt. Förster oder Wanderer hatten die Mädchen immer schnell gefunden. Die Leichen aller Opfer waren jeweils ein paar Wochen nach der Entführung aufgetaucht, wiesen Folterspuren auf und gebrochene Beine.

Dagegen war der Tod der Mädchen in Mount Junction als Unfall getarnt worden und man hatte sie erst nach Monaten entdeckt. Der Wagen, der in den Fluss gefahren war. Eine vermisste Skiläuferin, die nach der Schneeschmelze gefunden wurde. Eine einsame Wanderin, die in eine Schlucht gestürzt war. Alle waren irgendwann aufgetaucht, aber das Wetter und die Tiere hatten deutliche Spuren hinterlassen. Die Oberschenkelknochen – jedenfalls die, die noch geborgen werden konnten – waren stets gebrochen.

Auch die Oberschenkel der drei kürzlich Ermordeten wiesen diese Brüche auf. Aber die Opfer waren Männer.

Verdammt. Mason wollte etwas kaputtschlagen. Es gab so viele Übereinstimmungen und gleichzeitig so viele Unterschiede zwischen den Fällen, dass ihm der Kopf schwirrte. Wo blieb Ray mit seinem Notizbuch?

Zwei Mörder. Einer lebte, der andere war seit achtzehn Monaten tot. Wer würde das nächste Opfer sein?

Ray schlug die Hintertür zu und schlurfte missmutig auf Mason zu. Demonstrativ setzte er eine Mütze auf und stülpte den Kragen seiner Jacke hoch. »Dieses Wetter ist eine Scheißlaune der Natur. So viel Schnee und Eis über einen so langen Zeitraum hatten wir noch nie in dieser Stadt.«

»Das muss an der Klimaerwärmung liegen.«

Ray warf Mason einen ungläubigen Blick zu. Schnaubend zog er Notizbuch und Stift aus der Tasche. »Los, rede.«

Sie diskutierten und marschierten eine ganze Stunde lang. Schnee und Kälte waren vergessen. »Frank Stevenson war an beiden Orten. Er stammt aus der Gegend um Mount Junction und ist nach dem Studium hierhergezogen. Damit war er zur fraglichen Zeit an den entsprechenden Orten.« Ray kritzelte während des Redens Aufzählungsstriche unter Stevensons Namen.

»Es gibt keine direkte Verbindung zu DeCosta«, konterte Mason.

»Vielleicht ist er bloß ein Fan.«

Mason lachte sarkastisch auf. Frank Stevenson war ein Volltrottel. Das hatte er in der Nacht bewiesen, in der er Dr. Campbell aufgelauert und anschließend in der Zelle fünf Stunden lang herumkrakeelt hatte. Der Wachhabende hätte ihn am liebsten auf freien Fuß gesetzt, nur damit Ruhe war.

»DeCosta hat Stevensons Exfrau angegriffen. Da hast du deine Verbindung.«

Mason dachte kurz darüber nach und fällte dann sein Urteil. »Schwach. Unwahrscheinlich.«

»Was bist du? Ein Borg? Du hörst dich an wie ein Computerprogramm.«

»Der nächste Datensatz, bitte.«

Ray schnaubte frustriert. Seine Atemwolke stand einen Moment lang in der Luft, dann löste sie sich auf. »Okay. Jack Harper.«

Mason blieb stehen und schaute Ray an. »Hast du den immer noch auf der Liste? Der Mann hat sich selbst zu Dr. Campbells Leibwächter erkoren.«

»Ja. Wie praktisch.«

»Ach, komm. Du hast doch nichts als Scheiße im Hirn.« Mason pflügte sich weiter durch den Schnee, doch Ray überholte ihn, drückte ihm die Hand auf die Brust und zwang ihn stehenzubleiben.

»Pass auf. Harper war an beiden Orten. Sogar in der Nacht, in der Suzanne Mills verschwand, befand er sich ganz in der Nähe. Ihre Knochen wurden auf seinem Grundstück gefunden und er war der Freund eines der Opfer. Sein Name taucht bei unseren Ermittlungen öfter auf als jeder andere. Und abgesehen davon, ist er leicht reizbar.«

Mason wischte Rays Hand von seiner Brust und stapfte weiter.

»Hey, ich weiß, du magst den Typen, und ich mag ihn auch. Aber das bedeutet nicht, dass wir ihn von der Liste nehmen können.«

Mason fuhr zu seinem Partner herum. »Er war früher ein Cop, hat von damals ein Einschussloch im Bein und führt jetzt eines der erfolgreichsten Unternehmen der Stadt.«

»BTK.«

»Was?«

»Dennis Radar – der BTK-Killer. Er war Kirchenvorstand oder so was in der Art. Seine Nachbarn haben ihm mit Sicherheit keinen Mord zugetraut. Aus irgendeinem Grund setzt bei dir der Verstand aus, wenn es um Harper geht.« Ray musterte Mason, als hätte er Zweifel an dessen mentaler Verfassung.

Mason dachte schweigend über Rays Worte nach. Der BTK-Killer war jahrzehntelang aktiv gewesen, ohne dass seinen Freunden oder seiner Familie irgendetwas aufgefallen wäre. Man sah einem Menschen nicht an, ob er ein Mörder war oder nicht. Das lernte jeder Cop auf der Polizeiakademie. Im Grundkurs.

Ohne dass Ray es erwähnen musste, wusste Mason, dass sein Partner an das kurze FBI-Profil dachte. Es passte zu Harper wie das Tüpfelchen aufs I. Charismatisch, intelligent, sozial kompetent.

»Was hast du über DeCostas Familie herausbekommen?« Es gab schließlich noch andere Verdächtige, mit denen sie sich beschäftigen mussten.

Ray verzog das Gesicht. »Immer noch nichts. Ich finde einfach niemanden. Nur eine frühere Adresse der Mutter, Linda DeCosta, in Mount Junction habe ich gefunden.«

»Hat sie während unseres Zeitfensters dort gewohnt?«

»Größtenteils.«

»Was heißt das?« Mason hasste halbe Antworten.

»Na ja. Anscheinend hat sie zur Zeit des Amy-Smith-Falls und eines weiteren Todesfalls in Mount Junction dort gelebt. Aber nicht, als die Wanderin in die Schlucht stürzte.«

»Und wo wohnte sie zu dem Zeitpunkt?«

»Keine Ahnung, vielleicht bei ihrer Familie oder Bekannten.«

»Es gibt keine Familie. Und dass die DeCostas Freunde haben, möchte ich bezweifeln.«

»Du weißt, was ich meine. Irgendeine vorübergehende Bleibe. Vielleicht auch ein Obdachlosenasyl.«

»Kümmer dich darum.«

Ray machte sich eine Notiz und Mason hörte buchstäblich die Zahnräder im Kopf seines Partners knirschen. Ray überlegte, wo er mit der Onlinesuche anfangen sollte. Für so was hatte er ein Händchen.

»Mir gefällt die große Lücke nicht, die die DeCosta-Familie hinterlässt. Aus irgendeinem Grund …«

Ray nahm den Stift vom Papier und beendete den Satz seines Partners: »… denkst du immer wieder an die Mutter und den jüngeren Bruder.«

»Ja. Stimmt. Viel haben wir nicht, aber mein Gefühl sagt mir, dass wir an dieser Stelle weitergraben müssen. Wer hätte ein besseres Motiv, seinen Sohn zu rächen, als eine Mutter?« Mason sprach den Gedanken laut aus, obwohl er Rays Gegenargument bereits kannte.

»Weibliche Serienmörder sind selten. Und wenn sie töten, dann mit weniger … brutalen, blutigen … Methoden. Frauen greifen häufig zu Gift.«

»Genau. Häufig. Das ist hier das Stichwort. Und was ist mit dem Jungen? Vielleicht ist die Mutter das Hirn und ihr Sprössling die Hand.« Mason griff nach jedem Strohhalm. »Er ist kein Kind mehr, sondern etwa Mitte zwanzig.«

»Aber warum die seltsame Fixierung auf Dr. Campbell? Die ganze bekackte Inszenierung, die Karte und die Videoüberwachung – das alles deutet auf einen Mann hin. Nicht auf eine Mutter.«

»Vielleicht ist sie ja lesbisch.« Die Bemerkung entlockte Ray lediglich ein Grunzen.

»Lach nicht. Erinnerst du dich an Monster, den Film über diese Serienmörderin? Aileen Wuornos hat etliche Lastwagenfahrer umgebracht. Dass sie lesbisch war, gehörte mit zu den Gründen. Nichts ist unmöglich.«

»Gerade hast du noch behauptet, Frank Stevenson sei unmöglich«, gab Ray zurück.

»Aber er steht immer noch auf unserer Liste. Im Moment können wir noch niemanden ausschließen.«

Der Blick, mit dem Ray ihm antwortete, sagte Mason, dass sein Partner wieder bei Harper und Masons unerklärlichem Wohlwollen gegenüber dem Mann angekommen war.

Masons Finger waren inzwischen taub vor Kälte. »Gehen wir rein. Wir haben ein paar Ansätze, die wir weiterverfolgen müssen.«

Die beiden Männer stampften den Schnee von ihren Stiefeln. Ihr Atem stand in Wolken in der Luft. Schweigend stiegen sie die Eingangstreppe des Präsidiums hinauf und Mason war sicher, dass sie keinen Schritt weitergekommen waren. Im Gegenteil: Sie hatten nicht eine einzige Antwort gefunden, nur noch mehr Fragen.