EINUNDZWANZIG
Jack zog mit dem Finger den viel zu engen Kragen des Smokinghemdes von seinem Hals weg. Normalerweise fühlte er sich in eleganter Abendgarderobe ganz wohl, aber heute fuhr er fast aus der Haut. Bei dieser Spendengala fühlte er sich irgendwie fehl am Platz. Seit Lacey ihn gestern vor die Tür gesetzt hatte, weil er zu ihrem Reporterfreund garstig gewesen war, hatten sie sich nicht mehr gesehen. Aber ihr Name stand auf der Gästeliste der Veranstaltung. Zumindest behauptete das seine Schwester.
Jack hätte das Event wie üblich vergessen, aber Melody erinnerte ihn stets zuverlässig an seine Verpflichtungen. Er deutete Melodys Anruf vom Vortag als Wink des Schicksals. Bei dieser Gelegenheit konnte er Lacey auf neutralem Boden treffen. Verdammt. Erneut zerrte er unwirsch an seinem Kragen. Normalerweise hatte er die Fäden in der Hand und musste nicht auf die freundliche Unterstützung irgendwelcher Schicksalsgötter hoffen.
Auf der Suche nach ein wenig Ablenkung schlenderte er durch den Ballsaal, hielt aber gleichzeitig Ausschau nach einer ganz bestimmten zierlichen Blondine. Melody hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Ihr Organisationstalent war legendär und sie wusste, wie man potenzielle Spender großzügig stimmte. An einem Ende des gigantischen Raumes spielte ein kleines Orchester. Silberne und schwarze Stoffbahnen an den Wänden akzentuierten die aufwändigen Stuckverzierungen; üppige Arrangements aus frischen weißen Rosen und zahlreichen anderen weißen Blumen, deren Namen Jack nicht geläufig waren, säumten die Wände des Saales.
Das Motto lautete »Unter dem Mond«, der Dresscode »Schwarz und Weiß«. Die meisten Gäste hielten sich auch daran. Nur hier und da entdeckte er ein feuerrotes Kleid. Für Frauen, die einmal im Mittelpunkt stehen wollten, gab es kaum eine günstigere Gelegenheit als eine Schwarz-Weiß-Party.
Die Einnahmen des Abends sollten dem Projekt »Rollende Zahnklinik« zugutekommen. Die flexibel einsetzbare Zahnarztpraxis bestand aus zwei umgerüsteten Wohnmobilen. Eine gemeinnützige Organisation sicherte in den einkommensschwachen Gebieten des Staates auf diese Weise eine kostenfreie zahnmedizinische Grundversorgung.
Die Zähne der Gäste, mit denen Jack sich unterhielt, waren makellos. Er ging zur Bar und bestellte sich einen Drink.
»Jack. Komm. Ich möchte dir jemanden vorstellen.« Melody schob ihm die Hand unter den Arm. Es gab kein Entkommen. Seine Schwester sah blendend aus. Mit ihren zweiundvierzig Jahren war sie immer noch schlank und faltenlos. Jack nahm an, dass sie der Natur gelegentlich ein bisschen auf die Sprünge half. Melody war groß, hatte dunkelbraunes Haar und Augen, denen recht viele Männer nicht widerstehen konnten. Sie war zweimal geschieden. Beide Ehemänner hatten sich als Glücksritter erwiesen, die nur auf ihr Geld aus waren.
Jack sah sich noch einmal erfolglos nach Lacey um, dann setzte er für Melodys Gäste ein höfliches Lächeln auf. Der grauhaarige Herr und seine Begleiterin wurden ihm als die Gründer der Hilfsorganisation vorgestellt. Jack gab sich alle Mühe, nicht gebannt auf die schiefen gelben Zähne des Mannes zu starren. Er revidierte sein Urteil über den perfekten Zustand der Zähne sämtlicher Anwesender und plauderte mit den Hamptons, während Melody strahlend an seinem Arm hing und sich in ihrem Erfolg sonnte.
Plötzlich spürte Jack, dass seine Schwester der Unterhaltung nicht mehr mit voller Aufmerksamkeit folgte. Als er sich unauffällig umschaute, wen sie ins Visier genommen hatte, kollidierte sein Blick mit einem braunen Augenpaar in knapp fünf Metern Entfernung. Die Augen sahen erst ihn an, dann Melody.
Einem Moment lang stockte ihm der Atem. Lacey trug ein schlichtes schwarzes Neckholder-Kleid. Es ließ die Schultern frei und betonte ihre Kurven perfekt. Ihr Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, die Diamanten in ihren Ohren mussten noch größer sein als Melodys. Jacks Blick wanderte nach unten zu dem Saum, der knapp über dem Knie endete, und weiter über die wohlgeformten Waden zu den nadelspitzen Stöckelabsätzen, für die sie eigentlich einen Waffenschein brauchte. Lacey sah schlichtweg umwerfend aus. Doch an ihrem Blick merkte er, dass sie immer noch sauer auf ihn war.
Im Moment war ihm das egal. Er wollte die Finger in ihr Haar graben, den Knoten lösen, es über ihre Schultern fließen sehen. Ein einziger kleiner Handgriff in ihrem Nacken würde das Kleid bis zu den Mörderschuhen hinabgleiten lassen. Jack schluckte. Er versuchte, das elektrische Knistern zu ignorieren, das seine Nervenenden unter Strom setzte und seinen Griff um das Glas fester werden ließ.
Lacey hatte nicht ahnen können, dass er auch hier war. Ihn plötzlich dastehen zu sehen, musste ein Schock sein. Gut. Es schadete nicht, wenn sie sich ein wenig überrumpelt fühlte. Besser hätte er dieses unverhoffte Zusammentreffen gar nicht einfädeln können. Jetzt musste er sie nur noch auf die Tanzfläche komplimentieren, sich zerknirscht entschuldigen und dann … Dann konnte alles Mögliche passieren.
»Verdammt.«
Lacey wandte sich ab. Das Rückendekolletee, das bis knapp über ihren Hintern reichte, bot Jack eine atemberaubende Aussicht. Seine Hormone führten einen Kriegstanz auf. Nur – wer war der hochgewachsene Mann, der ihr einen Drink reichte und sie am Arm nahm?
War denn das die Möglichkeit? Jacks Herz kam ins Stottern. Jetzt prostete ihm dieser Widerling auch noch stumm zu. »Wer ist das? Wen starrst du denn so an?« Melodys schwesterlicher Beschützerinstinkt erwachte.
»Ich kenne diese Leute«, murmelte Jack. Sollte der nervige Reporter nicht auf einer Recherchereise sein? Auf der Gästeliste stand Lacey jedenfalls gemeinsam mit ihrem Vater. Naiverweise war Jack davon ausgegangen, dass die beiden auch zusammen kommen würden.
Melody musterte das Paar eingehend. Jack wusste, dass sie versuchte, den Preis von Laceys Kleid und den Wert ihres Schmucks zu schätzen. »Der Mann kommt mir bekannt vor. Ich glaube, er arbeitet für eine Zeitung. Ihn habe ich schon mal gesehen, aber seine Begleiterin nicht.« Melodie musterte ihren Bruder von der Seite. »Aber du kennst sie anscheinend.«
Die Hamptons entschuldigten sich und schlenderten weiter.
Michael zog Lacey zur Tanzfläche.
»Verdammte Schei…«
»Jack!« Melody sah sich hektisch um. »Achte bitte darauf, was du sagst! Was hast du denn für ein Problem mit den beiden?«
Jack klappte den Mund zu. Wie sollte er ihr das erklären? Seine ganze schöne Verführungsstrategie erwies sich gerade als Rohrkrepierer.
Jack nahm Lacey den Atem. Der Anblick eines solchen Mannes im Smoking war der Traum aller schlimmen Mädchen. Die breiten Schultern, die selbstbewusste Haltung, die grauen Augen, die sich wie Laser in ihre bohrten. Wie konnte kühles Grau so brandheiß sein? Wäre sie tatsächlich ein schlimmes Mädchen gewesen, dann hätte sie ihn unter den Augen seiner Begleiterin verführt, ohne sich um die Gefühle der anderen Frau zu scheren. Sein Blick sagte ihr, dass sie nur mit den Fingern schnippen musste, und er würde ihr für diese Nacht gehören.
Was, wenn ihr Begleiter eine andere Frau so ansehen würde wie Jack sie? Lacey wäre stinksauer gewesen. Sie hätte sich denken können, dass Jack sich mit anderen Frauen traf. Ein Mann wie er zog die Damen an wie eine frische Karotte die hungrigen Häschen.
Wo hatte sie bloß ihr Hirn gehabt?
Sie war kein Mädchen für eine Nacht. Ganz gleich wie verlockend …
Die Enttäuschung legte sich als bitterer Geschmack auf Laceys Gaumen. Sie versuchte, ihn hinunterzuschlucken. Was war denn bislang überhaupt zwischen ihnen gelaufen? Ein … halboffizielles Date? Eine gemeinsame Befragung durch die Polizei? Ein Kuss? Besitzansprüche konnte sie daraus wohl nicht ableiten. Und warum sollte er sich nicht mit anderen Frauen verabreden? Sie hatte er allerdings noch nie offiziell um ein Date gebeten. Ach Mist.
Sie waren nur zwei Menschen, die durch ungewöhnliche Umstände zusammengetroffen waren. Mehr nicht.
Lacey spürte Michael an ihrer Seite und löste mühsam den Blick von Jack. Wer war diese Frau? Sie war schön, trug ein teures Kleid und teure Schuhe und sie hing an Jacks Arm, als würde sie ihn sehr gut kennen.
Michael reichte Lacey ein Glas Champagner. »Schau nicht hin«, raunte er ihr ins Ohr. »Komm, wir tanzen.«
Lacey nickte benommen. Nach einem letzten Blick über die Schulter ließ sie sich von Michael zur Tanzfläche ziehen.
Warum war Jack hier? Lacey unterstützte die rollende Zahnklinik seit Jahren, hatte ihn aber noch nie bei einer Benefizveranstaltung gesehen. Vermutlich war er wegen seiner Begleiterin hier. Sie musste ihn zu der Veranstaltung geschleppt haben.
Bevor Lacey einen Schluck Champagner getrunken hatte, gab Michael ihr Glas einem Kellner und wirbelte mit ihr auf die Tanzfläche. Sie lächelte ihn matt an, war dankbar für seine Gegenwart und die Gelegenheit, nach diesen lähmenden Sekunden die Füße bewegen zu können. Michael gehörte zu der seltenen Spezies Mann, die nicht nur gut tanzte, sondern sogar Spaß daran hatte. Warm lag seine Hand auf ihrem nackten Rücken. Lacey spürte, wie sie ein bisschen lockerer wurde.
»Wusstest du, dass er hier sein würde?« Lacey konnte Jacks Namen nicht aussprechen.
»Nein. Aber es überrascht mich nicht.«
Sie legte den Kopf in den Nacken, um Michael ins Gesicht schauen zu können. »Wie meinst du das?« Hatte Jack herausgefunden, dass sie auf der Gästeliste stand, und deshalb beschlossen, ebenfalls zu kommen? Ihr Herz schlug plötzlich doppelt so schnell.
Michael ließ sich mit der Antwort Zeit. »Seine Begleiterin ist eine der emsigsten Spendensammler-Diven der Stadt«, sagte er schließlich.
»Ach.« Laceys Schultern fielen ein wenig nach vorn.
Langsam drehten sie sich über die Tanzfläche. Sie sprachen nicht miteinander. Mit Michael musste sie keinen höflichen Smalltalk machen. Ihn um sich zu haben, war unkompliziert und bequem. Fast wie mit ihren Katzen.
Ein Tanzpaar streifte sie. Als Lacey aufblickte, sah sie ihren Vater mit einer jüngeren Frau in den Armen. James Campbell machte in seinem Smoking eine hervorragende Figur. »Kommst du nachher zu mir?«, fragte ihr Vater.
Lacey nickte.
James Campbell sah Michael direkt ins Gesicht. »Passen Sie gut auf sie auf.«
»Selbstverständlich, Sir.«
Laceys Vater schwebte mit seiner Tanzpartnerin davon. Lacey lächelte ihm hinterher.
»Er amüsiert sich prächtig.«
»Ja. Er ist ganz in seinem Element.« Michael machte eine kleine Pause. »Deine Mutter hätte diesen Abend grauenhaft gefunden.«
Lacey lachte. Michael hatte recht. Ihre Mutter hatte für glamouröse Wohltätigkeitsveranstaltungen nie viel übrig gehabt. Die Erinnerung an die wunderbare Frau ließ ihr Lächeln ein wenig zusammenfallen.
»Möchtest du gehen?«
Laceys Kinn schoss in die Höhe.
»Nein. Auf gar keinen Fall.«
»Okay.« Michael starrte über ihre Schulter. »Aber dann machst du jetzt besser ein glückliches Gesicht.«
»Warum das denn?«
»Darf ich um diesen Tanz mit Lacey bitten?«, sagte eine bekannte, tiefe Stimme direkt hinter ihr.
Lacey blieben stehen. Sie spürte Jacks Wärme wie Hitzestrahlen an ihrem nackten Rücken. Ein wenig beklommen drehte sie sich um und schaute die Hitzequelle an. Jack sah nicht sie an, sondern ihren Tanzpartner. Und das nicht eben freundlich. »Kein Problem.«
Und schon hatte Jack sie im Arm. Er zog sie enger an sich als Michael und hielt sie fester. Sein Griff sagte »du gehörst mir«, die Berührung seiner Hand versengte ihren Rücken. Eine halbe Minute lang war Lacey sprachlos.
»Gefällt dir die Party?« Etwas Besseres fiel ihr im Augenblick nicht ein. Sie sah ihn an und fühlte sich in der Intensität seines Blickes gefangen. Siedend heiß, stahlgrau.
»Jetzt ja.«
Sie blinzelte, fixierte seinen obersten Hemdknopf und dachte an die harten Worte, die sie ihm zum Abschied an den Kopf geworfen hatte. Sie taten ihr ein bisschen leid, aber er bot ihr gerade einen Olivenzweig an.
»Vor den Augen deiner Begleiterin mit mir zu flirten, ist aber nicht sehr galant«, stellte sie fest. Sie empfand eine Spur Mitleid mit der Frau. Eine extrem winzige Spur.
Er sagte nichts, doch um seine Lippen spielte das hintersinnigste Grinsen, das sie je bei ihm gesehen hatte.
Als sie stehenblieb, wurde das Grinsen noch breiter.
»Was ist denn los? Was ist denn so lustig?«
»Meine Schwester möchte gern wissen, wo du dein Kleid gekauft hast.«
»Deine … Wer?«, fiepte Lacey.
»Meine Schwester«, antwortete er lässig. »Das Kleid gefällt ihr.« Jacks Augen blitzten. »Mir übrigens auch. Sehr.« Er machte einen winzigen Schritt von ihr weg und musterte sie provokativ von oben bis unten.
Lacey rückte näher, um diese Inspektion zu unterbinden und hob die Nase. »Bei Saks«, antwortete sie spitz. Michael konnte sich auf etwas gefasst machen. Dass die Frau Jacks Schwester war, hatte er ihr absichtlich verschwiegen.
Jack warf lachend den Kopf zurück. Die Blicke der anderen Paare auf der Tanzfläche prallten an ihm ab. Noch immer lachend schwenkte er Lacey im Kreis und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Ihr Herz machte einen Sprung.
Melody hob eine perfekt gestylte Braue. So sah sie ihren Bruder nur selten lachen. Er kannte die Frau. Warum hatte er ihr nicht geantwortet, als sie ihn nach der Blonden gefragt hatte? Ihr Blick wanderte über das rückenfreie Kleid. So etwas hätte sie nie tragen können. Zu viele Muttermale sprenkelten ihren Rücken. Die größten hatte sie zwar entfernen lassen, aber die übrigen fand sie immer noch unattraktiv.
Melody nahm eine Frau aus dem Organisationskomitee am Arm, die gerade vorbeigehen wollte. »Sheila, mit wem tanzt mein Bruder da gerade?« Die diamantenbehängte Dame blieb stehen und fixierte Jack.
»Keine Ahnung.« Sheila wedelte wegwerfend mit der Hand. »Nie gesehen. Ach. Augenblick.« Sie kniff die Augen zusammen und musterte Lacey.
»Ich glaube, das ist Dr. Campbell. Ihr Vorname fällt mir gerade nicht ein. Irgendwas mit Mode.«
Dr. Campbell? Diese zarte Frau hatte einen Doktortitel?
»Sie hat einen Doktor in Mode? In Textildesign vielleicht?« Melody starrte Sheila an.
»Nein, nein.« Sheila betastete ihren mit Highlights durchsetzten Bananenknoten. Der Blick, mit dem sie Jack musterte, versetzte Melody in den Wachsame-Schwester-Modus. »Sie ist Zahnärztin. Aber an den Vornamen erinnere ich mich nicht. So was wie Calico oder Indigo. Du weißt schon, etwas Ausgefallenes.« Sie schnippte mit den Fingern. »Ich hab’s. Lacey. Lacey Campbell. Ihr Vater ist Gerichtsmediziner. Ein ganz hohes Tier. Ihn habe ich vorhin auch schon gesehen.«
Melody sah zu, wie die geschiedene Frau davonschwirrte – vermutlich auf der Suche nach James Campbell. Wenn man auf etwas ältere Männer stand, war er keine schlechte Partie. Gutaussehend, wohlhabend, verwitwet. Selbst Melody hatte schon den einen oder anderen Gedanken an ihn verschwendet, war dann allerdings zu dem Schluss gekommen, der Altersunterschied sei zu groß. Aber Sheila war zehn Jahre älter als sie. Mindestens.
Melody staunte, als ihr Bruder die Blondine plötzlich auf die Stirn küsste. Hmm. Zärtlichkeiten in aller Öffentlichkeit waren normalerweise nicht sein Stil. Eine Zahnärztin? Das erklärte zwar, warum die Frau heute Abend hier war – aber nicht, weshalb Jack die Augen und Hände nicht von ihr lassen konnte. Hatte ihr kleiner Bruder endlich die Richtige gefunden? Mit leicht schräg gelegtem Kopf studierte Melody das Paar. Die beiden sahen wirklich glücklich aus, wie sie so miteinander tanzten. Melody fing Jacks Blick auf und hob diskret den Daumen. Als Antwort strahlte er übers ganze Gesicht.
Lacey schmiegte lächelnd die Schläfe an Jacks Jackett. Er roch so gut. So männlich und warm. Seine Hand glitt an ihrem Rücken nach oben und dann wieder hinab. Liegen blieb sie schließlich ein Stück weiter unten als zuvor. Noch ein klein bisschen tiefer und er würde merken, dass sie unter dem Kleid nichts anhatte. Das war einfach nicht möglich gewesen. Jedes Wäschestück zeichnete sich ab oder lugte aus dem tiefen Rückendekolletee. Das Kleid hatte zwar eine eingearbeitete Korsage, aber weiter unten war nichts.
Als die Musik langsamer wurde, zog Jack sie enger an sich. Lacey schloss die Augen und genoss das Gefühl beschützt zu werden und geborgen zu sein. Die Musik war wunderschön, der Mann ein Traum und sie so glücklich wie lang nicht mehr. Vielleicht war das ja der Anfang einer wirklich guten Sache.
Die Hand auf ihrer Schulter riss sie jäh von ihrer Wolke. Michael.
»Lace. Kann ich bitte kurz stören?«
»Jetzt nicht«, knurrte Jack.
Michaels Schultern zuckten zurück, trotzdem beugte er sich näher zu Jacks Gesicht. »Es ist aber jetzt wichtig.«
Lacey fürchtete, einer der beiden gereizten Männer würde demnächst zu einem Faustschlag ausholen. Sie machte sich von Jack los und schob Michael einen Schritt zurück. »Reißt euch zusammen. Dem nächsten von euch beiden Neandertalern, der hier knurrt, ramme ich den Absatz in den Fuß.« Lacey funkelte Michael mit verschränkten Armen an. »Was ist denn so wichtig, dass es keine Sekunde länger warten kann?«
Michael holte tief Luft. »Ich muss dir sagen, was ich in Mount Junction herausgefunden habe.«
»Ach?« Das nahm sie ihm nicht ab. »Warum hast du mir das nicht auf dem Weg hierher erzählt? Als ich dich danach gefragt habe, bist du ausgewichen.«
»Ich habe gerade den Anruf bekommen, auf den ich gewartet habe.«
»Hier? Jetzt?«
Michael nickte. »Ich konnte die Polizei dort überreden, sich ein paar ältere Fälle noch einmal anzusehen. Als ich denen sagte, dass ich glaube, Amys Tod …«
»Um wen geht es?«, fragte Jack dazwischen.
Lacey bat ihn mit einer Geste zu schweigen. »Moment, bitte.« Sie war ganz Ohr. »Was haben sie gesagt?«
»Es war nicht leicht, sie zu überzeugen. Aber ich habe noch zwei weitere Todesfälle in der Gegend dort recherchiert, die eigentlich als Unfälle galten. Die Opfer waren blonde Frauen und beide wurden mit gebrochenen Oberschenkeln gefunden. Man nahm an, das wären Unfallfolgen. Bei Amy hieß es zum Beispiel, es könnten die Felsen im Flussbett gewesen sein oder es sei beim Aufprall des Wagens passiert.«
»Wovon zum Teufel reden Sie da eigentlich?« Jacks Ton klang frustriert.
»Es geht um eine meiner früheren Mannschaftskameradinnen.« Lacey hob instinktiv die Hand, um Jack daran zu hindern, näher an Michael heranzurücken. »Sie starb durch ein Unglück. Sie ist mit ihrem Wagen in einen reißenden Fluss in der Nähe von Mount Junction gefahren. Aber Michael glaubt nicht an einen Unfall.« Laceys Worte kamen nur langsam. Es fiel ihr schwer, sie auszusprechen, und noch schwerer, sie zu glauben.
»Und jetzt meint die Polizei, es gäbe noch mehr Morde wie den an Suzanne Mills? In Mount Junction?«, fragte Jack fassungslos.
»Ja. Fahren Sie nicht auch gelegentlich dorthin, Jack?« Jack hechtete auf Michael zu, aber Lacey schob sich zwischen die Männer und verstellte ihm den Weg. »Schluss jetzt! Hört auf! Alle beide. Und du Michael, spar dir die Sprüche. Das ist nicht lustig.«
Jacks gemurmelte abfällige Bemerkung bezüglich Michaels Abstammung ignorierte sie. »Er hat ein Apartment in Mount Junction, Lace. Im Skigebiet.«
»Wie bitte?« Ihr Magen zog sich zusammen, als sie verstand, was Michael ihr damit sagen wollte. Das war wirklich komplett daneben.
»Jack. Er besitzt eine Wohnung im Skigebiet. Sie gehört seiner Familie seit zwei Jahrzehnten. Direkt an der Abfahrt hinter Mount Junction. Er ist ein paarmal im Jahr zum Skifahren dort.«
»Das beweist gar nichts.« Lacey funkelte Michael warnend an.
»Stimmt. Aber das ist ein weiterer seltsamer Zufall, eine weitere Verbindung zu den Morden.«
»Sie Drecksack! Was wollen Sie damit sagen?«, fauchte Jack. »Wollen Sie das auch wieder quer über die Titelseite schmieren? Wollen Sie Ihren Lesern einflüstern, ich könnte etwas mit dem Tod eines weiteren Mädchens zu tun haben?« Jacks Stimme war laut geworden. »Oder wollen Sie meine Firma ruinieren? Die Firma, die mein Vater gegründet hat?«
Jack schob sich um Lacey herum auf Michael zu. Der wich rasch zwei Schritte zurück, dann stieß er gegen die Wand. Jack drückte ihm die Hand auf die Brust. »Für wen halten Sie sich eigentlich? Woher nehmen Sie das Recht, das Leben anderer Menschen zu zerstören?«
Lacey versuchte, Jack an der Smokingjacke von Michael wegzuzerren. Aber genauso gut hätte sie versuchen können, einen Elefanten von der Stelle zu bewegen.
Michael zog das Knie hoch, er verfehlte Jack nur knapp. Jack stolperte rückwärts, Lacey strauchelte. Sie spürte, wie die Seitennaht ihres Kleides auf Hüfthöhe riss.
Jack hielt sich auf den Beinen. Schwungvoll rammte er Michael die Schulter in die Brust. Jetzt krachten beide Männer zu Boden.
»Michael!«, japste Lacey. Ihr Haar löste sich und fiel ihr in die Augen. Unwirsch strich sie es beiseite und sah nach, wie groß der Schaden an ihrem Kleid war. Der klaffende Riss gab den Blick auf etwa fünfzehn Zentimeter Hüfte frei, offenbarte aber nichts allzu Intimes.
Um die Kampfhähne bildete sich im Nu eine Menschentraube. Die Festgäste kamen angeschwärmt wie Haie, die Blut gerochen hatten. Frauen in Glitzerroben kreischten oder starrten in stummem Entsetzen. Ihre Münder bildeten erstaunte Os. Einige Männer tauschten Blicke aus, als wollten sie feststellen, auf wessen Seite man mitmischen sollte. Andere genossen die Darbietung grinsend.
Lacey riss zwei Drinks vom Tablett eines verdutzten Kellners und kippte sie über die Köpfe der Kontrahenten. Die beiden zuckten nicht einmal zusammen. Starke Hände griffen nach ihren Schultern und zogen sie weg. Sie konnte zuschauen, wie ihr Vater Jack an der Jacke packte, ihn mit einem beherzten Ruck von seinem Gegner trennte und fallen ließ. Zwei Männer packten ihn sofort an den Armen. James Campbell stellte derweil den Fuß auf Michaels Brust und drückte ihn zu Boden.
»Das reicht!«, brüllte er. Zwei Sicherheitsleute des Hotels drängten sich durch die Menge, blieben dann aber abrupt stehen. Sie hatten mit einem Blick gesehen, dass die Situation unter Kontrolle war und warteten nun, was der Mann tun würde, der den Fuß auf der Brust des am Boden Liegenden hatte.
Lacey holte tief Luft. Sie machte einen Schritt nach vorn und sah zwischen den beiden begossenen Männern hin und her. Jack fing ihren Blick auf, hob eine Augenbraue und leckte sich ein kleines Rinnsal Alkohol aus dem Mundwinkel. Er wirkte kein bisschen verlegen, sondern versuchte nur, die Arme freizubekommen. Die zwei Männer, die ihn festhielten, packten kräftiger zu. Voller Abscheu bemerkte Lacey die Begeisterung in ihren Gesichtern. Sie genossen ihre bescheidenen Rollen in dem Handgemenge zutiefst.
Als sie Michael einen bösen Blick zuwerfen wollte, stellte sie fest, dass er wie gebannt auf den Riss an ihrer Hüfte starrte. Sie versicherte sich, dass alles noch jugendfrei war, dann gab sie ihrem Vater ein Zeichen. Er nahm den Fuß von Michaels Brust. Michael setzte sich auf. Von seiner aufgeplatzten Lippe tropfte eine Mischung aus Blut und Alkohol auf sein weißes Hemd. Lacey schnappte sich eine Serviette und tupfte damit das Blut weg.
»Du führst dich auf wie ein Bekloppter. So was kannst du nicht machen. Warum zum Teufel musst du ihn dermaßen provozieren? Du weißt, dass er kein Mörder ist. War das die Revanche für die DVD? Bitte sag, dass das kein Racheakt sein sollte. Das ist unter deiner Würde, Michael.«
»Lass das.« Michael schob ihre Hand beiseite und stand mit einer fließenden Bewegung auf. Er warf Jack einen eisigen Blick zu, dann wandte er sich an einen der Sicherheitsmänner des Hotels, der gerade über Funk mit jemandem sprach. »Ist die Polizei unterwegs?« Als der Mann nickte, warf Michael Jack einen weiteren vernichtenden Blick zu. »Gut. Ich möchte Anzeige erstatten.«