EINUNDDREISSIG

»Wir haben eine Adresse.«

Lusco klappte das Handy zu und kritzelte etwas auf seinen Notizblock. »Brody hat es geschafft. Er hat Linda DeCosta gefunden und von ihr eine Adresse bekommen. Draußen in Molalla, etwa zwanzig Meilen südlich von hier. Im Grundstücksregister steht der Name Robert Costar. Das muss unser Mann sein. Die Mutter behauptet, sie hätte regelmäßig Kontakt mit ihrem Jungen und er hätte nichts getan.«

»Ja. Klar.« Mason schlüpfte bereits in seine Jacke. »Ruf die County-Polizei an. Die sollen unauffällig dort vorbeifahren, sich umsehen und ihre Spezialeinheit in Bereitschaft versetzen. Wir dürfen kein Risiko eingehen.« Masons Energielevel schoss in die Höhe wie nach einer Doppeldosis Adrenalin. Endlich mal ein vielversprechender Hinweis. Er hatte ein gutes Gefühl. Bislang war die Suche nach Kelly Cates ergebnislos verlaufen. Keine Videoaufzeichnung aus der Turnakademie, kein abgestellter Wagen, keine Zeugen. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Und jetzt endlich sah es aus, als hätten sie eine Spur. Das Telefon auf Masons Schreibtisch klingelte. Ungeduldig schnappte er sich den Hörer und klemmte ihn zwischen Ohr und Schulter. Dabei kämpfte er mit einem verdrehten Jackenärmel. »Callahan.«

Er erstarrte. »Wollen Sie mich verarschen? Sind Sie sicher? Er hat angerufen? Aber warum?« Er packte den rutschenden Hörer.

Während die Stimme weiter in sein Ohr brabbelte, warf Mason Ray einen langen Blick zu. Nach dem Auflegen starrte er noch einen Moment auf das Telefon. Dann schloss er die Augen und spürte, wie sich sein Adrenalinspiegel von einer Klippe stürzte und unten eine Bauchlandung hinlegte. Der Fall schien zu implodieren.

»Das kann doch alles gar nicht wahr sein. Das schlägt dem Fass den Boden aus«, murmelte er.

»Was? Was ist denn los?« Ray sah aus, als wollte er ihn erdrosseln.

»Melody Harper ist weg. Entführt. Letzte Nacht. Ganz spät.« Mason rieb sich müde das Gesicht.

»Harpers Schwester? Noch eine entführte Frau? Sind die sicher? Glauben die, das war wieder unser Mann?«

»Sicherer könnten sie gar nicht sein. Der Kidnapper hat selbst angerufen und der Notrufleitstelle gesagt, wir würden ihn wegen des Mordes an dem Cop und den Anwälten suchen.«

»Wie bitte? Was soll das denn?« Ray war fassungslos.

»Gute Frage. Melodys Haushaltshilfe hat bestätigt, dass ihre Chefin gestern nicht nach Hause gekommen ist. Und Melodys Wagen steht noch im Parkhaus.« Anscheinend war der Killer stinksauer. Dr. Campbell war aus seinem Blickfeld verschwunden. Und dafür revanchierte er sich jetzt, indem er andere Frauen verschleppte. Erst Kelly Cates und jetzt Melody Harper. Offenbar wusste er, dass die kleine Zahnärztin mit Jack Harper zusammen war, denn mit Melodys Entführung wollte er eindeutig Harper treffen. Mason musste ihn informieren. Dem Mann würden sicher sämtliche Sicherungen durchbrennen.

Nachdenklich zog Mason die Jacke vollends an und setzte den Cowboyhut auf, der sich plötzlich anfühlte wie aus Blei. »Sag der Sondereinheit, wir könnten es in Molalla mit einer Geiselnahme zu tun haben. Vielleicht sind Kelly und Melody dort.«

Lacey spürte, wie Jack sich unter ihr bewegte. Die Art, wie er atmete, sagte ihr, dass er wach war. Mit geschlossenen Augen genoss sie den Moment. Jack hatte sie ein paar Stunden lang vor der Realität beschützt. Sie hatte sich fallenlassen und für kurze Zeit die Schrecken vergessen können, die draußen in der Welt lauerten. Stundenlang hatten sie sich geliebt und es war himmlisch gewesen. Das Feuer im Kamin, der Schnee draußen, dieser fantastische Mann.

Zu schön, um wahr zu sein.

Aber es war Wirklichkeit. Er lag tatsächlich bei ihr, sie konnte den Kopf an seine Brust kuscheln und seinen Herzschlag hören. Träge flossen ihre Gedanken zur vergangenen Nacht zurück. Vielleicht war sie nur ein weiterer Eintrag in der langen Liste seiner Eroberungen. Aber im Moment kümmerte sie das nicht. Die vergangene Nacht war es wert gewesen.

Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr allerdings, dass die Nacht auch für ihn etwas Besonderes gewesen war. Das hatten ihr seine Augen verraten, als er sie geküsst hatte und in sie gedrungen war. Außer wildem Verlangen und Lust hatte sie dort noch etwas anderes gesehen. Etwas Tiefergehendes. Sie glaubte nicht, dass er sie nun lässig abservieren würde.

Lacey fühlte sich recht … optimistisch.

Hör auf nachzudenken. Genieß einfach den Augenblick. Ein Lächeln kräuselte ihre Lippen. Unter ihr vibrierte seine Brust in einem stummen Lachen.

Betont langsam schlug sie die Augen auf. Sie wollte ihm zeigen, wie rundum befriedigt sie sich fühlte. Die grauen Augen strahlten sie an. Auch er wirkte sehr entspannt. Laceys Hirn brannte ein lautloses Glücksfeuerwerk ab.

Jack sah atemberaubend aus. So ganz und gar männlich. Und im Augenblick gehörte er ihr ganz allein. Sie fuhr mit den Nägeln durch sein Brusthaar, sah, wie die Brustwarzen sich aufrichteten und genoss die Macht ihrer Weiblichkeit. Die Macht, einen Mann mit einer kleinen Berührung anzumachen. Ein berauschendes Gefühl. Lacey lächelte ihn an, überlegte, ob sie ihn ein bisschen betteln lassen sollte.

»Hey.«

»Selber hey«, flüsterte sie zurück und versank in den Augen, die sie so faszinierten. Mal waren sie dunkelgrau wie regenschwere Wolken, mal silbern wie Sonnenlicht auf einem See.

Er rollte sie auf den Rücken, küsste sie so leidenschaftlich, dass sie wieder ganz kribbelig wurde, zog die Finger durch ihr Haar und drückte ihr seinen Oberkörper auf die Brüste. Am Oberschenkel spürte sie, wie er härter wurde. Dann klingelte ein Handy.

»Verdammt.«

»Das ist meins. Lass es klingeln.« Er versuchte, sie mit den Fingern abzulenken.

»Vielleicht ist es wichtig.« Widerstrebend setzte sie sich auf, warf die Decke zurück und spürte die kühle Luft an den Brüsten. Jacks Augen wurden dunkel. Mit einem trägen Raubtierlächeln griff er nach einer Brust. Lacey schloss die Augen, gab sich beinahe geschlagen, doch das Telefon klingelte erneut. Sie schob seine Hand weg und krabbelte zu seiner Jacke, die auf der Couch lag.

»Wie soll ich die Hände von dir lassen, wenn du so aussiehst?« Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass er ihr nacktes Hinterteil fixierte. Sie grinste ihn an, dann warf sie einen Blick auf das Display.

Detective Callahan.

Ihr Lächeln fiel in sich zusammen, einen Moment lang vergaß sie sogar das Atmen.

Wortlos reichte sie Jack das Telefon. Der Blick, mit dem sie das Display angestarrt hatte, verhieß nichts Gutes.

Und was Callahan dann sagte, traf Jack wie ein Schlag in die Magengrube. Er wurde erst blass, dann zornig. Seine Kiefermuskeln traten hervor, um seinen Mund bildeten sich tiefe Furchen. Laceys Herz krampfte sich zusammen.

Nach dem Telefongespräch starrte Jack einem Moment lang in die fast erloschene Glut. Der Aufruhr der Gefühle, in dem er sich befand, spiegelte sich in seinem Blick. »Er hat sich Melody geholt.«

Lacey plumpste erschrocken auf ihr Hinterteil. »Was? Deine Schwester?«

Er hat noch eine Frau entführt. Mein Gott. Was hat er mit Kelly gemacht? Braucht er schon wieder ein neues Opfer?

Jack sprang auf, marschierte in die Küche und kam mit seinen Kleidern zurück. Mit zitternden Händen zog er sich an. »Der Dreckskerl hat selbst die Cops angerufen und ihnen gesagt, er hätte meine Schwester. Callahan glaubt zu wissen, wo er ist. Dein Kumpel Brody hat von Linda DeCosta eine Adresse bekommen. Ihr Sohn Bobby wohnt in einem Haus in Molalla. Die Polizei will es mit einem Sonderkommando stürmen.« Er griff nach seinen Socken. »Von Kelly hat der Kerl allerdings nichts gesagt.«

Lacey zog die nackten Beine an die Brust und vergrub das Gesicht zwischen den Knien.

Ich sollte das Opfer sein. Er wollte mich. Nicht Jacks Schwester.

Die warme Hütte fühlte sich plötzlich an wie ein Eisschrank, Laceys Zähne begannen zu klappern. Es war alles ihre Schuld. Der Killer schickte ihr eine Botschaft. Weil er an sie nicht herankam, hatte er Kelly und Melody verschleppt. Er war wütend, wollte sich rächen.

Sie hatte Jack in das Chaos hineingezogen, zu dem ihr Leben geworden war, und damit seine Familie in Gefahr gebracht. Warum hatte sie zugelassen, dass sie sich näherkamen? Wenn sie ihn zurückgewiesen hätte, sähe jetzt alles anders aus: Seine Schwester wäre nicht in der Hand eines Killers.

Sie hatten sich buchstäblich die Seele aus dem Leib gevögelt und dafür mussten sie jetzt bezahlen.

Erschauernd biss Lacey in ihr Knie. Ihre Zähne hinterließen kleine rote Abdrücke.

Jack kniete sich vor sie. Sein Hemd stand noch offen. »Lacey, zieh dich an. Wenn die in das Haus gehen, will ich dabei sein.« Verwirrt betrachtete er die roten Zahnabdrücke auf ihrem Knie. »Was machst du da?« Er sah ihr nicht in die Augen, doch langsam verstand er, was in ihr vorging. »Ach Gott, Lacey. Das ist doch nicht deine Schuld.«

Sie konnte nicht antworten. In ihren Augen brannten Tränen.

»Du kannst nichts dafür. In diese Kacke wurde ich hineingezogen, weil ich zu oft zur falschen Zeit am falschen Ort war. Aber doch nicht wegen dir.« Er griff nach ihren Händen.

Lacey konnte nichts sagen. Sie schüttelte den Kopf.

»Komm bitte. Niemanden trifft eine Schuld. Nur den kranken Freak, der hinter alledem steckt. Die Polizei greift ihn sich jetzt. Und ich muss dabei sein.« Er hob ihr Kinn, zwang sie, ihn anzusehen.

»Ich wollte mit dir zusammen sein, obwohl ich wusste, dass ein Irrer hinter dir her ist. Und ich bereue keinen einzigen Moment! Ich will …« Seine Finger gruben sich in ihre Haut, während er nach den richtigen Worten suchte. »Glaub mir. Es ist nicht deine Schuld! Hör auf, dir Vorwürfe zu machen und lass uns gehen, okay?«

Laceys Herz zog sich zusammen. Sie wusste, dass er jedes einzelne Wort genau so meinte, wie er es gesagt hatte.

Sie nickte. Er hatte recht. Hier zu sitzen und in Selbstmitleid zu ertrinken, half niemandem.

Schon gar nicht Melody und Kelly.

Melodys Zähne schlugen aufeinander.

Ihr Badezimmergefängnis war eiskalt. Sie ging in dem kleinen, fensterlosen Raum im Kreis, rieb sich die Arme und hoffte, dass ihr dadurch etwas wärmer werden würde. Die blassblauen Wände sahen aus wie aus Eis. Die Seidenbluse und der teure Rock waren viel zu dünn für diese Temperaturen.

Außerdem hatte sie auch noch zwei Laufmaschen in der Strumpfhose, und an der rechten Wade ertastete sie eine weitere. Sie hob den Rock und riss sich das nutzlose Nylonding herunter.

Dann trommelte sie mit den Fäusten an die Badezimmertür. Wieder mal.

»Verdammt noch mal! Lass mich raus, du widerlicher Scheißkerl!«

Stille.

Vielleicht war er weg.

Als ihre Hände zu sehr wehtaten, trat sie mit dem Fußballen gegen die Tür. Ihre kalten Zehen schonte sie lieber. Er hatte die Badezimmertür von außen mit einem Riegel verschlossen.

Ihr Gefängnis war völlig leergeräumt worden. Die Handtuchhalter fehlten genauso wie die Duschvorhangstange. Der Spiegelschrank und alle anderen Regale waren leer. Melody hatte den Raum akribisch nach einem Gegenstand abgesucht, der als Waffe oder Werkzeug geeignet war. Beim Versuch, die metallenen Schubladengriffe abzuschrauben, hatte sie sich die Fingernägel abgebrochen. Als Nächstes hatte sie am Duschkopf gerissen. Das Ergebnis war lediglich ein ansehnliches Loch in der Wand um die Halterung. Auch bei der Lüftungsabdeckung an der Zimmerdecke hatte sie keinen Erfolg gehabt. Bislang war die ganze Mühe umsonst gewesen, aber es tat gut, nicht nur untätig herumzusitzen.

Seit sie auf dem Badezimmerfußboden zu sich gekommen war, zermarterte sie sich das Gehirn darüber, was eigentlich passiert war. Sie erinnerte sich daran, dass sie im Parkhaus gestanden und in ihrer Handtasche nach den Wagenschlüsseln gefischt hatte. Einen Moment lang hatte sie sogar geglaubt, sie lägen noch in der Küche. Dann hatte sie hinter sich ein leises Geräusch gehört, aber nicht groß darauf geachtet, sondern weiter nach den Schlüsseln gekramt. Er war von hinten gekommen. Schnell und brutal.

Wie in einem schlechten Horrorfilm. Und sie hatte die Rolle der dümmlichen weiblichen Hauperson übernommen. Der Kerl hatte ihr einen Stofffetzen auf Mund und Nase gedrückt und sie hatte die Luft angehalten, weil sie wusste, dass es gefährlich war einzuatmen. Aber dann hatte er sie gekniffen und sie hatte vor Schreck und Schmerz nach Luft geschnappt und dabei das Zeug eingesogen, mit dem der stinkende Lappen getränkt war. Mit dichten Nebeln vor den Augen hatte sie den aussichtslosen Kampf gegen die Bewusstlosigkeit gekämpft. Es war ihr gelungen, den Kopf ein wenig zu drehen und einen Blick auf kurzes, dunkles Haar zu erhaschen.

Mehr wusste sie nicht.

Er hatte ihr die Uhr und die Schuhe abgenommen. Sie wusste weder, wie spät es war, noch, wie lang sie schon eingesperrt in diesem Badezimmer hockte.

Wütend über ihre eigene Hilflosigkeit und Dummheit trat sie erneut gegen die Tür. So etwas hätte ihr nicht passieren dürfen. Sie kannte die Vorsichtsmaßnahmen: Frauen sollten ihren Schlüssel stets griffbereit und ihre Umgebung immer im Blick haben. Weil sie sich in dem gut beleuchteten Parkhaus sicher fühlte, war sie nachlässig geworden.

Das würde ihr nie wieder passieren.

Ihr Blick fiel auf das Loch um den lose herunterhängenden Duschkopf. Dabei kam ihr eine Idee. Sie riss den schweren Deckel vom Spülkasten der Toilette und schlug damit gegen das Spiegelschränkchen. Die Spiegelscherben spritzten in alle Richtungen. Melody suchte sich zwei der größeren Stücke heraus. Waffen. Probeweise schlug sie mit einer der Scherben gegen ein Regalbrett. Sie brach, hinterließ jedoch eine tiefe Kerbe in dem Brett. Und einen kleinen Schnitt in ihrer Handfläche.

Melody saugte an der Wunde. Wirklich stabil waren die Scherben nicht, aber sie waren scharf. Damit ließ sich ordentlich Schaden anrichten. Mit einem grimmigen Lächeln sah sie sich noch einmal die Spülkastenabdeckung an. Für eine Waffe war sie zu unhandlich. Aber vielleicht war sie doch zu etwas zu gebrauchen. Kurz entschlossen schlug sie damit auf die Tür ein. Das laute WUMM klang vielversprechend, doch die Tür hielt. Melody schlug noch einmal zu. Und noch einmal.

Als ihre Arme lahm wurden, ließ sie den Deckel ins Waschbecken fallen. Porzellanstücke sprangen ab. Wenn sie schon nicht hier weg konnte, würde sie diese verfluchte Gefängniszelle wenigstens ramponieren, so gut sie konnte. Die Badezimmertür hatte im Bereich der Klinke nun immerhin einen kleinen Riss. Stolz fuhr sie mit dem Finger darüber. Ihre Muskeln schmerzten, aber das war wenigstens ein Anfang.

Sie hielt die hohle Hand unter den Wasserhahn und trank. Dass sie Wasser hatte, war gut. Damit konnte sie lang überleben. Vorsichtig stieg sie über die Spiegelscherben auf dem Fußboden, setzte sich auf den Toilettendeckel und ruhte sich aus. Sie stützte den Kopf in die Hände, wischte ihre Tränen weg und versuchte, nicht an die Zeitungsartikel zu denken. Die Artikel über den Serienkiller. Die grauenhaften Geschichten über die gefolterten, ermordeten Männer. Sicher hatte das nichts mit ihr zu tun. Jemand brachte Männer um, die etwas mit dem College-Girl-Killer-Fall zu tun hatten. Dieser Jemand hatte es nicht auf Frauen abgesehen. Eine vermisste Frau gab es allerdings. Das hatte sie in den Nachrichten im Autoradio gehört. War ihre eigene Entführung der nächste Akt des Dramas?

Nein. Sicher ging es hier um Lösegeld. Jack würde zahlen, was die Verbrecher verlangten, und sie würde freikommen. Sie schnäuzte sich in ein Stück Toilettenpapier. Als sie sich die dünne Rolle ansah, kamen ihr erneut die Tränen. Vielleicht sollte sie sie nicht fürs Naseputzen verschwenden. Erschöpft richtete Melody sich auf und atmete tief durch. Ihr fielen fast die Augen zu, während sie vorsichtig über die Scherben hinweg in die Badewanne stieg. Dort lagen keine scharfen Spiegelstücke. Sie rollte sich zusammen, aber die Kunststoffwanne war so kalt, dass sie zitterte. Melody zog die Knie an die Brust, schlang die Arme darum und schloss die Augen. Immer wieder schüttelte es sie krampfartig vor Kälte, doch irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Ein kurzer Anruf bei Callahan sorgte dafür, dass Jack durch die Polizeiabsperrung in einem Wohngebiet von Molalla gelassen wurde. Er schob sich an den beiden Cops vorbei, die ihn aufgehalten hatten, und sprintete durch den frischen Schnee. Zwei Straßen weiter bereiteten sich die Detectives und das Einsatzkommando auf die Erstürmung des Hauses an der nächsten Ecke vor. Zum Glück hatte Lacey sich bereiterklärt, im Truck zu warten. Sie war völlig verstört und hatte sich selbst während der zweistündigen Fahrt kaum beruhigt. Auch Jack war alles andere als gelassen. Auf dem Highway hatte er zweimal beinahe andere Wagen gerammt.

»Sie haben ihn«, hatte Lacey immer wieder vor sich hin gemurmelt. »Es ist vorbei.« Sie hatte den Kopf an die Kopfstütze gelehnt, ihn hin und wieder geschüttelt und gesagt: »Ich kann es nicht glauben. Ich glaube es einfach nicht.« Die Augen hielt sie fest geschlossen.

»Meinst du, er weiß, was mit Suzanne passiert ist?«, flüsterte sie einmal.

Jack nickte. »Ja, verdammt. Ich glaube, er weiß es ganz genau.«

»Und was ist mit …« Lacey hatte den Kopf zum Fenster gedreht. Aber Jack sah die Tränen trotzdem. Er wusste, wovon sie sprach.

»Wir werden rausfinden, wo das Baby ist.«

Lacey nickte, konnte aber nicht antworten.

Kein Baby. Ein Kind.

Bitte, Gott. Mach, dass Melody lebt.

Jack hatte den Truck geparkt und Lacey aus dem Wagen helfen wollen. Aber sie blieb stumm und reglos sitzen. Ihre Hände lagen ineinander verschlungen in ihrem Schoß, Jacks Blick wich sie aus.

»Ich will das nicht sehen. Ich will nicht sehen … wo er sie gefangen gehalten hat. Ich kann das nicht.« Jack stellte ihr keine weiteren Fragen. Er konnte sich vorstellen, wie ihr zumute war. Seit zwei Stunden war ihm übel vor Angst, wenn er daran dachte, was die Polizei vielleicht finden würde. Bilder von Angelhaken und gebrochenen Knochen quälten ihn. Aber immerhin hatten sie jetzt das Haus des kranken Dreckskerls gefunden. Lacey wollte nicht aussteigen, aber hier war sie sicher: Ein ganzes Dutzend Streifenwagen blockierte ringsum die Durchfahrt.

»Verriegle die Tür«, sagte Jack streng.

Wütend sprintete er die Straße entlang. Der Scheißtyp hatte seine Schwester. Wenn er ihr irgendetwas angetan hatte … würde Jack für nichts garantieren.

Melody musste noch am Leben sein.

Er entdeckte Callahan und Lusco in einer Gruppe von Cops und machte sich auf den Weg dorthin. »Was ist los?« Alle sahen zu einem kleinen Haus im Ranchstil am Ende der Straße. Ein Toyota Camry neueren Baujahres stand in der Einfahrt. Im Schnee hinter dem Wagen waren frische Reifenspuren.

Lusco starrte Jack nur unverwandt an, aber Callahan sagte: »Das Sondereinsatzkommando fährt gleich zum Haus. Die Scharfschützen sind bereits in Stellung. Ein Teil der Mannschaft geht durch die Haustür rein. Der andere durch die Hintertür. Falls der Bekloppte da ist, wird aus dem Einsatz eine Geiselbefreiung. Das kann heiß werden. Also stehen Sie nicht in der Schusslinie rum.« Callahans Blick verlieh seinen Worten Nachdruck. Er tippte an seine Hutkrempe.

Jack nickte und suchte sich etwas abseits einen Platz, von dem aus er das Haus gut sehen konnte. Callahan wandte sich abrupt noch einmal zu ihm um. »Wo ist Dr. Campbell?«

Jack zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. »Da hinten an der Absperrung. In meinem Truck.«

Die Erleichterung war dem Detective deutlich anzusehen. Er drehte sich zu der Gruppe von Cops zurück.

Jack konnte kaum stillstehen. Am liebsten wollte er ins Haus stürzen und den Kerl windelweich prügeln. Er schloss die Augen und dachte an Melody. Sie muss hier sein. Wenn er ihr etwas angetan hat, ist er ein toter Mann.

Angespannt beobachtete er, wie ein gepanzerter Einsatzwagen die Straße entlangdonnerte und vor dem Haus anhielt. Ein Dutzend bewaffneter Männer sprang heraus und verteilte sich. Die Hälfte von ihnen ging zur Vorderseite des Hauses, die andere Hälfte nach hinten.

Ein ohrenbetäubendes Krachen riss Melody aus dem Schlaf. Mit beiden Händen stemmte sie sich hoch, duckte sich dann aber sofort wieder. Gebrüll und lautstarke Befehle drangen durch die Tür zu ihr herein. Eine hohe männliche Stimme schrie, schwere Schritte polterten durchs Haus.

Melody sprang aus der Wanne und trommelte mit schmerzenden Fäusten gegen die Tür. Sie achtete nicht auf die Scherben, die sich in ihre Füße gruben. Schwere Schritte kamen näher.

»Lassen Sie mich raus!« Was, wenn die Stiefel wieder davontrampelten und sie in diesem verdammten Gefängnis verrotten ließen? »Er hat mich hier eingesperrt! Holen Sie mich raus!« Panisch schlug sie gegen die Tür.

»Wer sind Sie?« Eine gedämpfte männliche Stimme drang zu ihr herein. Melody lehnte die Wange und die Brust gegen das Holz.

»Ich bin Melody Harper. Er hat mich entführt und hier eingesperrt …« Das Geschrei draußen war einfach zu laut. Der Mann rief den anderen Leuten im Haus etwas zu. Die einzelnen Worte verstand sie nicht. Dann wurde seine Stimme plötzlich leiser.

Melody trommelte an die Tür und kreischte: »Gehen Sie nicht weg!«

»Treten Sie von der Tür zurück.«

Sie stolperte zur Seite und drückte sich in die Nische zwischen der Toilette und der Wand. Würde er etwa schießen?

Die Tür klapperte und bebte, als von außen etwas dagegen donnerte. Melody sah, wie der Riss, den sie ins Holz geschlagen hatte, länger wurde. Noch einmal zitterte die Tür, dann splitterte sie im Bereich der Klinke. Ein weiterer Schlag und sie flog auf. Ein Mann mit einem Helm bog um die Ecke und richtete ein Gewehr auf sie. Vor lauter Erleichterung gaben Melodys Beine nach. Sie sank gegen die Toilette. Das Gesicht des Mannes musste sie gar nicht sehen. Die Panzerung reichte aus.

»Verdammt.« Das Einsatzfahrzeug blockierte Jacks Sicht. Er suchte sich einen neuen Platz und sah gerade noch, wie die Haustür aufflog. Laute Stimmen schrien etwas von Hinlegen. Er presste die Kiefer aufeinander. Eine innere Stimme befahl ihm, hinzurennen und nach seiner Schwester zu suchen.

Geräuschvoll kam ein Teil des Kommandos wieder aus dem Haus. Vor der Gruppe her stolperte ein Mann mit auf den Rücken gefesselten Händen in den verschneiten Vorgarten. Ein Mitglied des Kommandos warf ihn bäuchlings in den Schnee. Zwei schwerbewaffnete Polizisten postierten sich über ihm und richteten die Waffen auf seinen Kopf.

Ja, verdammt! Sie haben ihn!

Jack versuchte, die Gestalt im Schnee besser zu erkennen. Der Mann zitterte vor Angst und drehte ungelenk den Kopf, um sehen zu können, was hinter ihm vor sich ging.

Jack blinzelte. Er kannte den Kerl. Dieses Gesicht hatte er schon einmal gesehen. Als er etwas näher trat, bemerkte er, dass die Detectives überraschte Blicke austauschten. Auch sie wussten, wer vor ihnen im Schnee lag.

Frank Stevenson. Laceys Ex.

Jack erstarrte und rang nach Luft. Irgendetwas stimmt hier nicht. Seine Eingeweide zogen sich zusammen. Diese armselige kleine Ratte konnte unmöglich ein Serienkiller sein. Stevenson konnte nicht all die … Jacks Herz gefror.

Es war eine Falle. Melody war nicht hier. Er war nur hierhergelockt worden …

Lacey.

Er warf sich herum und sprintete zu seinem Truck. Sein Herz jagte das Blut in seinen Kopf. Callahans Schreie hinter sich ignorierte er.

Anscheinend war auch bei dem Detective der Groschen gefallen.

Mason fluchte. Zu hoffen, der Alptraum sei vorbei, war ein Fehler gewesen.

»Verdammte Scheiße! Das ist Stevenson. Er ist es wirklich.« Ray war verblüfft.

»Er ist es nicht.«

»Doch, er ist es. Dr. Campbells Exmann.« Ray ging näher an den Gefangenen im Schnee heran, wollte ihn sich genau ansehen. Doch Mason packte ihn am Arm. Sein Blutdruck erreichte neue Spitzenwerte.

»Nein. Das ist nicht unser Mann«, krächzte Mason.

Ray blieb stehen, machte den Mund auf, wurde aber durch einen Mann abgelenkt, der die Straße entlangrannte. »Verdammt, wo will der hin?« Der rennende Mann war Jack Harper.

»Ihr Truck, Harper!« Die Sache mit Stevenson war eine Finte gewesen. Harper war bereits selbst darauf gekommen.

»Was geht hier eigentlich vor?« Ray sah verwirrt zwischen der Gestalt im Schnee und dem Mann, der in die andere Richtung rannte, hin und her.

Noch bevor Mason antworten konnte, sah er das Aufblitzen in Rays Gesicht. Sein Partner hatte verstanden. Der Detective fluchte.

»Er hat uns reingelegt.« Ray wollte zum Auto rennen, dann blieb er stehen und sah Stevenson an. Er wusste nicht, was er zuerst tun sollte.

Mason packte Ray am Arm und zerrte ihn zu Stevenson. »Wir sind am richtigen Ort, aber das ist nicht der richtige Mann. Ich kann nur für ihn hoffen, dass er weiß, wo der Killer steckt.«

Stevenson schrie die Männer an, die im Kreis um ihn standen. »Ich habe nichts getan. Die Tür war nicht abgeschlossen.« Er wandte sich an die Detectives, die jetzt auf ihn zukamen. »Ich habe bloß reingeschaut!«

»Was zum Teufel haben Sie in dem Haus gemacht?« Mason wollte Stevenson mit den Cowboystiefeln gegen den Kopf und in seinen feigen Arsch treten.

»Er hat gesagt, sie wäre hier!«, stammelte Stevenson.

»Wer? Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Ich weiß es nicht.« Der Mann war den Tränen nahe. »Jemand hat angerufen. Er hat gesagt, Celeste würde mit irgendeinem Kerl rumvögeln. Ich könnte sie in flagranti erwischen.«

»Ihre Frau betrügt Sie?«

»Das wollte ich grade rausfinden!« Rot vor Wut und Eifersucht hob sich Stevensons Gesicht vom Schnee ab. »Bis zu dem Anruf wäre ich gar nicht darauf gekommen. Ich wollte nachsehen, ob da was dran ist!« Mason dachte kurz über die Worte des Mannes nach. Verdammt, er glaubte diesem Arsch. Stevenson konnte unmöglich der Serienkiller sein. Dafür war er nicht intelligent und gerissen genug.

DeCosta hatte diesen Coup raffiniert eingefädelt.

Er hatte Stevenson, Jack und die Polizei gemeinsam in dieses Haus gelockt, weil er wusste, dass die Polizei im Anmarsch war. Stevenson würde hier nach seiner Frau suchen, die Polizei nach einer Geisel.

Bobby DeCosta alias Robert Costar hatte Mason zum Deppen gemacht. Zu einem Idioten, der ganz umsonst die schwere Artillerie hatte anrücken lassen.

Aber wozu das alles?

»Sir, wir haben sie!«

Auf einen Beamten gestützt humpelte Melody Harper aus dem Haus. Ihre Kleidung war zerknittert, ihr Haar hing strähnig herunter und sie hatte keine Schuhe an. Trotzdem schien sie die Kälte nicht zu spüren. Sie hinterließ blutige Fußabdrücke im Schnee. Der Schreck über den Anblick so vieler bis an die Zähne bewaffneter Einsatzkräfte vor dem Haus stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mason schloss die Augen.

Danke, lieber Gott. Wenigstens hatte er nicht komplett versagt.

Zumindest sein Gefühl, dass sie Melody hier finden würden, hatte ihn nicht getrogen.

Er ging zu der Frau und legte ihr seine dicke Jacke um die Schultern. Dann rieb er ihre Oberarme, damit ihr etwas wärmer wurde. Sie warf ihm mit glasigen Augen einen dankbaren Blick zu. Dann starrte sie den Mann an, der auf dem Bauch im Schnee lag.

»Der hier hat kein dunkles Haar.« Ihre Stimme klang verwirrt. »Er war es nicht. Das ist nicht der Kerl aus der Tiefgarage.«

Mason nickte. »Das wissen wir schon.«

»Und warum trägt er dann Handschellen?« Melodys fragende Augen hatten dieselbe Farbe wie die ihres Bruders. Mason stellte fest, dass die Geschwister auch die gleiche Gesichtsform hatten. Trotzdem wirkte Melody unglaublich feminin.

»Weil er ein Idiot ist.«

»Ah ja.« Melody akzeptierte die Erklärung ohne weitere Fragen. Sie begann heftig zu zittern.

»Bringt sie in einen Wagen und sorgt dafür, dass ihr wieder warm wird.« Mason winkte einen Uniformierten heran. In diesem Moment klingelte sein Handy.

»Callahan.«

»Sie ist weg. Er hat sie sich geholt.« Obwohl Harper außer Atem war, hörte Mason die Wut in seiner Stimme. »Er hat Lacey.«

»Nichts anfassen.« Mason wollte das Gespräch bereits beenden, als ihm einfiel, dass Jack gar nicht wusste, dass sie Melody gefunden hatten. »Harper! Augenblick! Ihre Schwester war im Haus. Es geht ihr gut.«

Zwei Sekunden lang sagte Harper gar nichts. »Sie ist hier? Es geht ihr gut? Als ich Stevenson gesehen habe, dachte ich, die ganze Sache wäre bloß eine Finte. Hat er ihr etwas getan?«

»Es geht ihr gut«, wiederholte Mason. »Ihr fehlt nichts. Wir kümmern uns um sie.«

Jack atmete laut hörbar aus. »Danke.«

»Rühren Sie sich nicht von der Stelle. Wir sind gleich da.«

Mason klappte das Handy zu und gab Ray ein Zeichen.

»Es geht weiter.«

Urplötzlich hatte Mason das Gefühl, um zehn Jahre gealtert zu sein. Die emotionale Achterbahnfahrt bei diesem Fall brachte ihn fast um. Er atmete tief durch, rückte seinen Hut zurecht und marschierte dann die verschneite Straße entlang zur Absperrung. Ein Satz hallte ihm dabei mit endlosen Echos durch den Schädel.

Es ist nicht vorbei.