SIEBEN
»Heute schon Zeitung gelesen?« Terry Schoenfeld hielt sich nicht lang mit einer Begrüßung auf, als er Jack am Telefon hatte.
»Ja. Den neuen Artikel und den von gestern.«
Jack lehnte sich auf dem Bürosessel zurück, legte das rechte Bein umständlich auf den Schreibtisch und sah sich den Artikel vom Morgen zum fünften Mal an. Er enthielt auch eine Liste mit den Namen und dem Alter aller Opfer.
»Erinnerst du dich überhaupt noch an die Sache von damals?«
»Soll das ein Witz sein?«, fuhr Jack seinen Freund an.
Terry schwieg zwei Sekunden lang. »Entschuldige Mann. Ich hatte den Fall schon fast vergessen und wusste nicht mal mehr, dass das letzte Opfer nie gefunden wurde. Geschweige denn, dass die Turnerin, die gesehen hat, wie ihre Freundin entführt wurde, ganz schön was abbekommen hat. Sie hat dann zwar vor Gericht gegen den Killer ausgesagt, aber ihr Name wurde nie veröffentlicht. So war es doch, oder? Ich war damals längst nicht so nahe an der Sache dran wie du. Verdammt, mir ist fast die Luft weggeblieben, als ich Hillarys Namen in der Liste von Opfern entdeckt habe. Erst in dem Moment ist mir wieder eingefallen, dass du mal mit ihr zusammen warst.«
Jack zog eine Grimasse. Er würde das nie vergessen. Als man Hillarys Leiche gefunden hatte, war er sechs Stunden lang von der Polizei befragt worden. Das war ein ziemlich eindrückliches Erlebnis gewesen. Man hatte ihn zusammen mit ihren anderen Exfreunden vorgeladen, einem erstaunlich großen Personenkreis. Dass sie so viele waren, hatte ihn zwar ein wenig gekränkt, aber viel schlimmer war das Gefühl, plötzlich zu einem Kreis von Mordverdächtigen zu gehören.
Hillary und er hatten sich durch gemeinsame Freunde kennengelernt. Er war gerade mit dem Studium fertig gewesen, sie war im ersten Semester. Ihre Liaison hatte nur ein paar Wochen gedauert. Hillary war hübsch und durchtrainiert – eine Läuferin. Er fand sie attraktiv, aber sie hatten keinerlei Gemeinsamkeiten und trafen sich bald immer seltener. Ein Traumpaar sah anders aus.
Als er erfuhr, dass sie ermordet worden war, hatten sie einander schon monatelang nicht mehr gesehen. Hillary war das zweite Opfer des Killers gewesen.
Er musste ihr Bild aus dem Kopf bekommen. »In dem Artikel stand nichts über Cal Trenton und seine Marke.«
»Die Staatspolizei hat die Informationen über die Marke nicht freigegeben. Die brauchen sie, um die vielen Bekloppten auszusortieren, die anrufen und gestehen, sie hätten das Skelett unters Haus geschoben. Unsere Lokalzeitung hat über den Mord an Trenton berichtet, aber im The Oregonian stand nichts davon. Die Presse hat die Verbindung zwischen Trenton und dem Skelett noch nicht spitzgekriegt und wir werden denen ganz sicher nicht auf die Sprünge helfen.«
Jack schwieg.
»Trenton war einer von den Guten«, schob Terry nach.
»Das brauchst du mir nicht zu sagen«, antwortete Jack.
»Wie lang wart ihr beide als Partner unterwegs? Zwei Jahre? Drei?«
»Zweieinhalb.«
»Er konnte ein Riesenarschloch sein …«
»… aber es ist immer zu deinem Besten.« Jack zitierte Cals Lieblingsspruch mit einem wehmütigen Grinsen. Der gestandene Cop hatte ihm als Neuling im Polizeidienst so manchen Trick beigebracht. Wenn Jack daran dachte, wie Terry ihm Trentons Leiche beschrieben hatte, musste er schlucken.
So etwas hatte der alte Mann nicht verdient. So etwas verdiente niemand. Jack kratzte sich am rechten Bein. Die Haut fühlte sich zu straff an und sie juckte. Wie konnte das sein, wo doch angeblich die Nervenenden zerstört waren? Die alte Narbe machte ihm noch gelegentlich zu schaffen. Vor allem wenn er an die Polizei in Lakefield dachte.
»Ich habe gehört, dass die Spezialistin vom Fundort die anonyme Zeugin von damals sein soll, die in dem Artikel erwähnt wird«, sagte Terry leise.
»Die große Amazone? Die soll früher Turnerin gewesen sein?«
»Quatsch. Doch nicht die Schwarzhaarige. Die kleine Blonde. Diejenige, die rausgefunden hat, von wem die Knochen sind, und dabei fast zusammengeklappt ist. Es heißt, sie sei damals bei Mills’ Entführung dabei gewesen.«
Jack schwang das Bein vom Tisch und setzte sich auf. Was er gerade gehört hatte, musste er erst einmal verdauen. »Du meinst diese Dr. Campbell?« Die Frau war Zeugin der Entführung gewesen und zehn Jahre später bei der Bergung der Überreste des Opfers dabei? »Das kann doch nicht sein. Solche Zufälle gibt es nicht.«
»Wenn ich’s dir doch sage. Ich weiß es aus zwei verschiedenen Quellen. Am Samstag hat sie wohl mit den Detectives darüber gesprochen.«
Jack überflog den Zeitungsartikel erneut. »Und warum drucken die ihren Namen nicht? Warum will man, dass sie anonym bleibt?«
»Bitte. Das müsstest du eigentlich wissen. Wer ist denn scharf auf diese Art von Publicity?«
Nach dem Anruf schaute Jack nach, wer den Artikel geschrieben hatte. Michael Brody.
Jack stemmte sich hoch, trat ans Bürofenster und schaute hinab auf die Biegungen des Willamette Rivers. Die Sonne wärmte sein Gesicht. Vor vielen Jahren hatte Hillarys Tod sein Leben ziemlich durcheinandergebracht. Diesmal konnte es noch schlimmer werden. Viel schlimmer.
Er musste sich darauf gefasst machen, seinen Namen bald wieder in der Zeitung zu lesen. Der Umstand, dass er einmal mit einem Opfer des College-Girl-Killers zusammen gewesen war und dass man jetzt ausgerechnet auf seinem Grund und Boden das Skelett eines weiteren Opfers gefunden hatte, war für die Presse sicher ein gefundenes Fressen. Jetzt fehlte nur noch, dass die Verbindung zu Cals Marke und seiner Ermordung hergestellt wurde. Und was würden die Zeitungen erst drucken, wenn sie erfuhren, dass Cal und Jack gemeinsam auf Streife gegangen waren?
Was zum Teufel passierte da draußen? Erst das Skelett unter seinem Haus, dann Cal. Versuchte jemand, ihm irgendetwas anzuhängen? Etwa einen verdammten Mord? Warum?
Die Gelegenheit, Harper Immobilien nach allen Regeln der Kunst zu zerlegen, würden die Medien sich nicht entgehen lassen. Vor zwei Jahren hatten sie wegen der unzureichenden Recyclingpraxis einiger Unternehmen in Portland mit dicken Schlagzeilen auf ihn eingedroschen. Das Problem war nicht, dass Harper Immobilien kein Recycling betrieb, sondern dass die Firma nicht alle Möglichkeiten ausschöpfte.
Jack hatte die Versäumnisse zugegeben, den größten auffindbaren Recycling-Guru unter Vertrag genommen und eine Arbeitsgruppe gegründet, die die Recyclingquote im Unternehmen auf Vordermann brachte.
Dass mangelhaftes Recycling als Todsünde betrachtet wurde, konnte einem nur in einer Stadt wie Portland passieren. Volle zwei Wochen lang war Harper Immobilien als großes, böses, unachtsames Unternehmen über sämtliche Titelseiten gehetzt worden. In dutzenden von Leserbriefen hatte es Angriffe gegen Jack gehagelt. Darüber schüttelte er noch immer den Kopf. Man hätte glauben können, er hätte ungeklärte Abwässer direkt in den Willamette River geleitet.
Sein erfolgreiches Unternehmen würde eine wunderbare Zielscheibe abgeben. Geschichten über Serienkiller elektrisierten die Öffentlichkeit und die Reporter würden jeden Winkel seines Lebens ausleuchten und seinen Namen mit dem des College-Girl-Killers in Verbindung bringen.
Er warf die Zeitung in den Müll, fluchte, fischte sie wieder heraus und schleuderte sie in den Sammelkorb für Altpapier. Jack zerwühlte sich mit den Händen das Haar. Er und seine Firma würden in den Dreck gezogen werden. Wegen nichts. Und diesmal konnte er keinen überteuerten Guru anheuern, ihn auf eine Zeitreise schicken und ändern lassen, mit wem er sich ein paarmal verabredet hatte und mit wem er Streife gefahren war.
Er hatte so hart am guten Ruf seiner Firma gearbeitet … ihrer Firma. Sein Vater hatte den Grundstein gelegt. Aber Jack hatte das Unternehmen breiter aufgestellt und zu dem kleinen Imperium weiterentwickelt, das es heute war. Seit sein Vater sich aus dem Geschäft zurückgezogen hatte, war Jack neue Wege gegangen. Sein Ziel war es gewesen, die Firma zu einem der angesehensten und größten Immobilienunternehmen der Stadt zu machen. Und das war ihm gelungen.
Niemand sonst hätte dem Namen Harper zu solchem Erfolg verhelfen können. Er spendete für alle möglichen guten Zwecke, baute bezahlbare und qualitativ hochwertige Wohneinheiten und seine Luxushochhäuser. Außerdem schaffte er es immer wieder, für die Gesellschaftskolumnen der Zeitungen mit den richtigen Leuten fotografiert zu werden.
Aber jetzt drohte das alles zu implodieren.
Dass die viele harte Arbeit umsonst gewesen war, würde er nicht zulassen. Das Vermächtnis seines Vaters durfte nicht durch Gerüchte und üble Nachrede zerstört werden.
Warum hatte das Skelett unter seinem Haus gelegen? Jack rieb sich die Augen. Wäre es unter einem Gebäude auf der anderen Straßenseite gefunden worden, dann hätte er die Titelseite der Zeitung nur überflogen und anschließend den Sportteil aufgeschlagen. Anstatt sich die Haare zu raufen.
Grundgütiger. Sein Atem stockte. Er hatte Melody vergessen. Er sah auf die Uhr. Anscheinend schlief sie heute mal länger, sonst hätte sie längst angerufen und eine Erklärung gefordert. Seine ältere Schwester würde stinksauer sein. Eine ihrer geschwätzigen Freundinnen würde ihr sicher bald unter die Nase reiben, dass die Zeitungen über Harper Immobilien schrieben. Melody kümmerte sich um alles, was mit gesellschaftlichem Engagement und Öffentlichkeitsarbeit zu tun hatte, und würde es ganz und gar nicht schätzen, in den Medien mit einem Mord in Verbindung gebracht zu werden. Mit einer Mordserie.
Er musste etwas unternehmen, bevor die Sache aus dem Ruder lief. Aber was? Jack kam sich vor, als wollte er einen glitschigen Fisch festhalten, der sich zwischen seinen Fingern wand. Normalerweise hatte er alles unter Kontrolle, aber das änderte sich gerade, und er näherte sich mit Riesenschritten einem Zustand, den er nicht kannte: dem der Machtlosigkeit.
Wer tat ihm das an?
Die Hände tief in den Taschen vergraben, marschierte Jack in seinem Büro im Kreis und dachte nach. Er brauchte mehr Informationen. In diesem Puzzle fehlten einige wichtige Teile. Er war versucht, den Reporter anzurufen, Michael Brody, wusste aber, dass er sich damit keinen Gefallen tun würde. Der Zeitpunkt für einen solchen Anruf war denkbar schlecht, denn alles, was er Brody fragen würde, konnte in dessen nächstem Artikel auftauchen.
Er dachte an Lacey Campbell und ihre dunkelbraunen Augen. Das einzige Opfer, das sich DeCostas tödlichem Griff entwunden hatte. Sie steckte genauso tief drin wie er. Vielleicht konnte sie ihm ein paar Fragen beantworten. Zum Beispiel, weshalb Trentons Marke bei den Überresten von Mills gelegen hatte und warum beides auf seinem Grund und Boden versteckt gewesen war.
Jacks Gedanken glichen einem Haufen verschlungener, immer fester werdender Knoten.
Er musste sich wehren, sich behaupten. Aber wie?
Er musste noch einmal zurück zum Anfang vor über einem Jahrzehnt, als die ganze Kacke begonnen hatte. Am besten konnte ihm vermutlich die Person weiterhelfen, die damals dabei gewesen war. Hoffentlich hatte Lacey Campbell ein paar Einblicke in das damalige Geschehen und wusste, warum es sie beide nun wieder einholte. Sie zu finden, war sicher kein Problem. Er wollte nur Kontakt mit ihr aufnehmen, um seine Firma schützen zu können.
Und nicht etwa, weil ihre braunen Augen ihn seit zwei Tagen nicht mehr losließen.
Die beiden toten Mädchen hatten schwere Brandverletzungen. Das Feuer hatte sie in einem heruntergekommenen, leerstehenden Haus in Portland im Schlaf überrascht, das Ausreißer und Streuner angezogen hatte wie ein Magnet. Billige Grills sorgten für etwas Wärme, wenn allnächtlich zwischen zehn und dreißig Kids auf den schmutzigen Fußböden schliefen. Das Gebäude war ein bekannter Drogenumschlagplatz. Die Polizei räumte das Haus fast wöchentlich, zerstreute die Kids und Dealer in alle Winde. Aber alle kamen immer schnell zurück. Vernagelte Fenster und Türen waren für junge Leute auf der Suche nach Schutz vor den eisigen Temperaturen kein Hindernis.
Bevor sie den elektrischen Öffner der Doppeltür zu einem der hell erleuchteten sterilen Autopsiesäle im gerichtsmedizinischen Institut drückte, blieb Lacey einen Augenblick lang stehen. Brandopfer. Mit leicht zittrigen Beinen kniff sie die Augen zu und atmete mehrmals tief durch. Wasserleichen waren ihr lieber. Sie steckte sich zwei zusammengerollte Wattetupfer hinter der Maske in die Nasenlöcher. Der Geruch verbrannten Fleisches führte groteskerweise immer dazu, dass ihr Magen auf ganz unanständige Weise knurrte. Lacey drückte das Klemmbrett an die Brust und betätigte den Türöffner mit der Hüfte.
Der silberne Schopf ihres Vaters hing über einer Leiche. Ihr Geruch drang bereits durch die Watterollen. Lacey blieb an der Tür stehen.
»Hi. Willst du mal schauen? Jerry hat die Aufnahmen für dich schon gemacht.« Dr. Campbell richtete sich auf und drückte den Rücken durch. Seine Wirbelsäule knackte dabei hörbar.
»Ja. Es dauert nicht lang.« Lacey nickte Jerry zu, dem Assistenten ihres Vaters, der die Gewichte und Maße, die ihr Vater ihm nannte, mit Kreide auf einer Tafel festhielt. Lacey befahl ihren Beinen, den Raum zu durchqueren. Die Digitalkamera fest in der Hand trat sie neben den Metalltisch. Sie betrachtete den blassen Körper, dessen Farbe in deutlichem Kontrast zu der verbrannten Haut des Kopfes stand. Die Hände waren ebenfalls stark verkohlt, doch der Rest der Leiche sah nicht allzu schlimm aus. Anscheinend hatten Kleider und Schuhe manches abgehalten. Weil das Haar des Mädchens fast vollständig versengt war, konnte Lacey die Farbe nicht richtig erkennen. Schwarz erschien ihr am wahrscheinlichsten. Vielleicht ein Gothic-Fan. Vielleicht einfach nur verbrannt.
»Rauchgasinhalation?« Laceys Stimme klang piepsig.
»Vermutlich. Ich weiß es bald genauer.«
Bald war keine Übertreibung. Dr. Campbell jagte durch Autopsien wie Jeff Gordon über eine NASCAR-Rennstrecke. Ihm dabei zuzusehen, war ein Erlebnis. Mit sicheren, ruhigen Händen machte er blitzschnell den Y-Schnitt und klappte die Haut zur Seite. Mit einem Instrument, das der Astschere ähnelte, mit der Lacey ihre Bäume beschnitt, knipste er fix die Rippen durch und wenn er bei der Suche nach Auffälligkeiten die Organe in Scheiben schnitt, sah es aus wie das Tomatenschneiden in einem Werbespot für Küchenmesser. Trotzdem behandelte er jeden Körper mit Würde. Bei jeder Leiche gab er sein Bestes. Laceys Vater war ein handwerklich, medizinisch und emotional hochqualifizierter Gerichtsmediziner.
Er öffnete die Kiefer des verbrannten Mädchens für sie. Lacey schaltete den Digitalrekorder an, der an ihrem wasserdichten Kittel befestigt war, und leuchtete mit einer kleinen, starken Taschenlampe in die klaffende Höhle.
Konzentrier dich nur auf die Zähne.
»Du brauchst einen Gesichtsschutz«, stellte ihr Vater fest.
Jerry beugte sich zu ihr und schob das Band eines transparenten Schildes über ihren Kopf. Der Plastikschutz bedeckte ihr Gesicht von der Stirn bis zum Kinn. Jerry grinste und zwinkerte ihr hinter seinem eigenen Schild hervor zu. Sie hatte bereits eine Schutzbrille und einen Mundschutz angelegt und jetzt kam sie sich vor wie bei einem Giftgasalarm. Sie hatte keine Einwände. Tote konnten völlig überraschend die unfassbarsten Dinge ausstoßen.
Schnell machte sie Bilder von beiden Gebissbögen, während ihr Vater die Lippen und Wangen aus dem Weg hielt. Die verbrannte Haut schälte sich und blätterte bei jeder Bewegung ab. Mithilfe eines Zahnarztspiegels sah Lacey sich zügig den Gaumen, die Zunge und die Mundschleimhaut an. Sie suchte nach Auffälligkeiten. Dann rasselte sie routiniert den zahnärztlichen Befund ins Diktiergerät und war froh, dass ihr Magen sich dabei beruhigte.
»Sechs bis elf – Veneers.« Ihre Augenbrauen hoben sich. »Ebenso an den Frontzähnen im Unterkiefer. Zweiundzwanzig bis siebenundzwanzig. Keine weiteren Sanierungen oder Füllungen. Aber das Opfer befand sich offensichtlich in kieferorthopädischer Behandlung. Seitenzähne weisen bukkal Entkalkungsspuren auf, vermutlich infolge einer festsitzenden Klammer. Möglicherweise wurden mit den Veneers ähnliche Spuren an den Vorderzähnen abgedeckt.« Laceys Herz wurde schwer. »Jemand hat für die Zähne des Mädchens ordentlich Geld ausgegeben«, murmelte sie leise.
Ihr Vater nickte. »Die Jacke und die Schuhe dürften ebenfalls teuer gewesen sein.«
Auf dem Schreibtisch in Laceys Büro lagen elf Patientenakten von Zahnärzten. Die besorgten Eltern vermisster Töchter im Teenie-Alter warteten darauf, dass Lacey die Karteien mit den Gebissbefunden der Brandopfer im Leichenschauhaus abglich. Lacey hatte sich die Unterlagen noch nicht angesehen. Sie untersuchte immer zuerst die Toten und verglich anschließend ihre Ergebnisse mit den Karteikarten. Diesmal hatte sie allerdings bereits die leise Vermutung, dass die Tote die Tochter eines hochrangigen Managers einer Softwarefirma sein könnte. Das Mädchen war vor zwei Monaten verschwunden. Eine ganze Woche lang war damals das Bild der fröhlichen jungen Frau mit dem makellosen Lächeln täglich in den Fünfuhrnachrichten gezeigt worden.
Lacey betrachtete den verbrannten Schädel. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem netten Schulfoto, das sie aus dem Fernsehen kannte. Sie kniff die Lippen zusammen und wollte sich nachdenklich mit der behandschuhten Hand die Stirn reiben, hielt aber inne, als ihr einfiel, dass sie ein Schutzschild trug. Sie schüttelte den Kopf.
»Wo ist das zweite Opfer?«
»Nebenan. Mit ihr bin ich schon fertig.« Ihr Vater griff nach dem Skalpell und sah Lacey mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Das ist der Hinweis, dass ich jetzt besser gehen sollte.
Laceys Magen zog sich zusammen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und hastete zur Tür. Unterwegs zog sie sich die Gummihandschuhe aus und warf sie in den Behälter für OP-Müll.
Eine noch.
Auf dem Weg durch den stillen Flur zu ihrem Büro füllte Lacey die zahnmedizinischen Autopsieberichtformulare aus. Im Kopf verglich sie die beiden namenlosen Leichen miteinander. Wie lang würde es dauern, bis sie die Formulare in ihren Händen mit Namen versehen konnte? Das zweite Mädchen hatte ähnliche Brandverletzungen erlitten wie das erste. Lacey hatte gesehen, wo ihr Vater die Kopfhaut zurückgezogen hatte, um den Schädel öffnen und das Gehirn entnehmen zu können. Im Mund der Toten hatte sie schon keine Zunge mehr vorgefunden. Sie war zusammen mit einigen anderen Organen entfernt worden. Ihr Vater hatte notiert, dass die Zunge mit einem metallenen Barbell gepierct war.
Die Seitenzähne des zweiten Mädchens wiesen einige kleine, weiße Kompositfüllungen auf. Die Frontzähne im Unterkiefer standen schief. Sie hatte einen Klasse-II-Biss mit deutlichem Überbiss und nie eine Klammer getragen.
Lacey fand den menschlichen Körper faszinierend. Bei jeder Autopsie lernte sie etwas Neues. Aber wenn es sich bei den Toten um Kinder oder Teenager handelte, machte sie das zornig. Was für eine Verschwendung von Leben. Vielleicht stand ihr das nicht zu, aber sie war wütend auf die Mädchen, weil sie sich unnötig in Gefahr gebracht hatten, und auf deren Eltern, weil sie die Kontrolle über ihre Kinder verloren hatten. Wenn sie einmal selbst Kinder hatte, würde sie nie …
Sie erstarrte und hielt sich am Türrahmen fest. An ihrem Schreibtisch saß ein Mann. Er drehte ihr den Rücken zu. Den Stuhl hatte er bedenklich weit zurückgekippt und konnte die Balance nur halten, weil er einen Fuß unter die untere Schreibtischschublade gehakt hatte. Lacey hatte gute Lust, ihm einen Schubs zu geben.
»Sie sitzen auf meinem Stuhl«, fuhr sie ihn an.
Er zuckte zusammen und eine Millisekunde lang sah es so aus, als würde er tatsächlich gleich zu Boden krachen. Doch er fing sich und fuhr zu ihr herum. Sein unwiderstehlicher Blick bohrte sich in ihren.
Die grauen Augen brachten Laceys Magen zum Flattern. Sie wusste sofort, wer vor ihr saß. Jack Harper. Im Lauf des Wochenendes hatten sich diese Augen viel zu oft in ihre Gedanken gedrängt.
Sie war sprachlos.
Als der athletische Mann sich aus ihrem Stuhl stemmte, wich sie, die Formulare fest an die Brust gedrückt, unwillkürlich einen Schritt in den Flur zurück. Erstaunt bemerkte sie den Anflug von Verlegenheit, der über sein Gesicht huschte, als ihm klar wurde, dass er sie erschreckt hatte.
Er war groß – aber wie groß, das hatte sie vergessen. Lacey machte gleich noch einen Schritt von ihm weg, doch ihre Blicke hatten sich in einander verhakt. Irgendetwas schien in ihm zu brodeln. Ihr Herz schlug heftig, jedoch nicht aus Angst. Sie war nur völlig überrascht.
»Tut mir leid.« Jack Harper zog eine Grimasse. »Ich warte schon eine Weile und war ganz in Ihre Bildergalerie vertieft.« Sie schauten beide zum Computer. Er hatte ihren Bildschirmschoner betrachtet. Erinnerungsbilder. Schnappschüsse. Ein Bild von ihr und ihrem Vater, auf dem sie sich beide über nackte, braune Knochen auf einem Metalltisch beugten, ließ ihn leise aufschnauben. Laceys Nase schwebte nur eine Handbreit über den Gebeinen. Sie funkelte ihn an. Dieses Bild war nicht lustig. Es war im Central Identification Lab in Hawaii aufgenommen worden, einer Einrichtung zur Identifizierung der sterblichen Überreste von vermissten Soldaten.
Lacey dachte an den Tag vor sechs Jahren zurück, an dem das Foto gemacht worden war. Sie hatten die vermischten Knochen zweier Männer vor sich gehabt. Man nahm an, dass es sich um einen in Vietnam abgestürzten Piloten und seinen Copiloten handelte. Das Durcheinander von Fragmenten hatte sie tief berührt und in dem Wunsch bestärkt, zu der Spezialistin zu werden, die sie heute war.
Als Nächstes erschien ein Schnappschuss von ihr und ihrer Freundin Amelia an einem Strand in Mexico auf dem Bildschirm. Angesichts der beiden knappen Bikinis wurden Laceys Lippen schmal. Sie mochte dieses Bild sehr. Amelia warf darauf ausgelassen lachend den Kopf zurück. Sie hatten sich gegenseitig den Arm um die Schultern gelegt und hielten blaue tropische Drinks in der Hand.
»Hübsche Bilder.«
Jack ließ die Augen nicht von dem Strandbild. Um seine Lippen spielte ein Lächeln. Oh Mann! Verärgert starrte Lacey sein Profil an. Er hatte es geschafft, sie zu erschrecken und sie verlegen zu machen. Und das in einem Zeitraum von nicht ganz zehn Sekunden.
Sein Blick sprang zu ihr zurück. Sein Lächeln verflog. »Ich bin Jack Ha…«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
Er blinzelte und richtete sich vollends auf.
»Was haben Sie in meinem Büro zu suchen?« Die Erinnerung an ihr erstes Zusammentreffen war noch frisch. Er musste sich nicht noch einmal vorstellen. Irritiert sah sie von seinen grauen Augen zu ihrem Stuhl. »Und auf meinem Sessel?«
»Ich wollte mit Ihnen reden …«
»Wer hat Ihnen gesagt, wo Sie mich finden?« Die Worte kamen schnell und klangen barscher als beabsichtigt. Die Empfangsdame hatte strikte Anweisungen, alle Besucher anzukündigen. Lacey war deshalb schon einmal mit Sharon aneinandergeraten. Dass Sharon einen fremden Mann in ihr Büro schickte, konnte sie kaum fassen. Schließlich kannte Sharon ihre Geschichte.
Jack fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
»Bitte seien Sie nicht sauer. Der Frau am Empfang habe ich gesagt, ich wäre von der zahnärztlichen Fakultät.« Anscheinend sah man ihr an, wie wütend sie war, denn seine Augen weiteten sich. »Ihre Empfangsdame hat versucht, mich abzuwimmeln, aber ich bin ein guter Lügner und kann sehr überzeugend sein.« Sein Blick sprang zwischen ihren Augen hin und her.
Als sie schnaubte, wirkte er sofort deutlich weniger angespannt. Ein tastendes Lächeln stahl sich auf seine markanten Züge. Daran, dass er sehr überzeugend sein konnte, zweifelte Lacey keine Sekunde. Die arme Sharon hatte keine Chance gehabt.
Aus dem Flur drangen plötzlich laute Stimmen. Lacey warf einen Blick Richtung Empfang. Sie hörte Sharon, die schrillen, hohen Töne einer verzweifelten Frau und das ärgerliche Gebrumm eines Mannes.
»Was ist denn da los?« Jack schob sich vor sie und schaute in den Flur.
Lacey konnte es sich denken. Sie warf die Unterlagen auf den Schreibtisch, schlängelte sich um Jack herum und lief dem Lärm entgegen. Die weiblichen Stimmen wurden lauter und hysterischer.
Lacey holte Luft, dann drückte sie die Tür zum Vorraum auf. Ungewollt traf sie Sharon damit in den Rücken. Sie hatten den Durchgang zum Institut blockiert.
Sharon sprang beiseite. Die Augen hatte sie weit aufgerissen, auf ihrer Oberlippe standen Schweißperlen. Diese gestandene Frau Anfang fünfzig war völlig durcheinander. »Oh, Dr. Campbell! Sie wollen … Ich wollte nur …« Sie rang die Hände.
»Dr. Campbell?« Ein großer, grauhaariger Mann legte die Hände auf die Schultern einer weinenden Frau. Heftige Schluchzer schüttelten ihren Körper. Die Augen des Grauhaarigen waren trocken, aber gerötet. Die Anspannung ließ die Furchen um den Mund in dem blassen Gesicht noch tiefer erscheinen. Er gab sich alle Mühe, Haltung zu bewahren. »Sie sind Dr. Campbell?«
Ach du lieber Gott. Nicht jetzt.
»Eine von beiden. Es gibt noch den Gerichtsmediziner Dr. James Campbell. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Lacey sprach mit ruhiger, fester Stimme. »Sie suchen jemanden.« Das war keine Frage. Sie ging zu dem Paar, nahm die Frau an der Hand und führte sie zur Couch. Ohne ihre Hand loszulassen, nahm Lacey die Schachtel mit den Papiertaschentüchern vom Beistelltisch und hielt sie der Frau mit einem verständnisvollen Blick hin.
Lacey konnte sich vorstellen, wie ihr zumute war.
Die Frau drückte schniefend ein Taschentuch an die Nase. »Wir haben erfahren, dass Sie zwei nicht identifizierte Teenagermädchen hier haben. Unsere Tochter, Madison, ist seit zwei Monaten verschwunden.«
Als Lacey den Ehemann anschaute, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie wusste, wer er war. Der Manager der Softwarefirma. »Sie sind die Spencers.« Die beiden nickten hoffnungsvoll.
»Ist eines von den Mädchen Madison? Wir haben ihre Zahnarztunterlagen vor einem Monat hergeschickt, als im Fluss eine weibliche Leiche gefunden wurde.« Mr Spencer erschauerte. »Aber das war ein anderes Mädchen.«
Lacey nickte bedächtig. An die scheußlich entstellte Wasserleiche erinnerte sie sich noch gut. »Ich bin für den Gebissabgleich zuständig. Die beiden Mädchen habe ich zwar untersucht, aber ich konnte meine Befunde noch nicht mit den Akten vergleichen, die wir bekommen haben.« Sie machte eine kurze Pause. »Wir müssen die Unterlagen von elf verschiedenen vermissten jungen Mädchen durchgehen.«
»Von elf?« Mrs Spencer brach erneut in Tränen aus. »So viele vermisste Mädchen …«
»Madison trug früher eine feste Klammer. Sie hat Veneers auf allen Frontzähnen.« Mr Spencers Stimme hob sich. Seine Hände gruben sich in die Schultern seiner Frau. »Haben Sie solche Arbeiten bei einer … bei einer der Leichen gesehen?«
Lacey erstarrte. Eine der beiden Toten hatte jetzt einen Namen. Die Vorschriften verboten ihr, jetzt schon mit den Eltern zu sprechen. Doch es fiel ihr schwer, es nicht zu tun. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Oregon ein weiteres vermisstes junges Mädchen mit ähnlich teuren zahntechnischen Arbeiten im Mund gab, war minimal. Trotzdem musste sie erst die Unterlagen überprüfen. Auf keinen Fall durfte ihr ein Fehler unterlaufen.
»Ich bin noch nicht fertig …«
»Aber Sie sagten doch, Sie hätten sich die beiden Mädchen angesehen. Hatte nun eine von ihnen solche Zähne oder nicht?« Mr Spencer musterte Lacey forschend. Sein barscher Ton ließ Mrs Spencer aufblicken. Sie schaute von ihrem Mann zu Lacey und wieder zurück. Die Frau wirkte zerbrechlich. So als würde die zarteste Berührung ihre Haut zerspringen lassen. Welche Hölle hatte dieses Paar in den letzten beiden Monaten durchlebt? Durch welches Fegefeuer, welche Zwischenwelten waren sie gegangen? Der Schmerz des Nichtwissens. Die endlosen Fragen.
»Haben die beiden gelitten?«, flüsterte Mrs Spencer. »Ich will mir gar nicht vorstellen, von einem Feuer eingeschlossen zu werden und …« Sie klammerte sich an Lacey fest. Ihre Züge entgleisten.
Lacey erschauerte. Auch sie wollte an so etwas nicht denken. Vor fünf Minuten war sie noch auf die unbekannten Eltern wütend gewesen, die nicht besser auf ihr Kind aufgepasst hatten. Wie hatte sie sich ein Urteil über diese Menschen anmaßen können? Jetzt hatten sie Gesichter … aber keine Tochter mehr.
Lacey schluckte. »Ich bin mit meiner Arbeit noch nicht fertig. Aber Sie werden die Ersten sein, die das Ergebnis erfahren.« Sie drückte noch einmal Mrs Spencers Hand und hastete dann zur Tür. Am liebsten wäre sie gerannt. Wie auf der Flucht stieß sie mit beiden Händen die Tür auf und prallte direkt mit Jack Harper zusammen. Den hatte sie kurzfristig vergessen.
Er packte sie an den Oberarmen, doch sie starrte an ihm vorbei zu Boden. Ihr Blick verschwamm. Die Tür schloss sich mit einem harten Zischlaut hinter ihr und Mrs Spencer stieß einen schrillen Klagelaut aus.
Die Mutter wusste Bescheid.
»Alles klar?«
Lacey schüttelte den Kopf, drängte sich an Jack vorbei und rannte tränenblind den langen leeren Flur entlang zur Damentoilette.
Er saß wieder auf ihrem Stuhl.
Lacey hatte volle zehn Minuten mit einem nassen Handtuch auf den Augen auf der Damentoilette verbracht und versucht, den Klang von Mrs Spencers Schmerz aus dem Kopf zu bekommen. Jetzt war die rote Schwellung um ihre Augen verschwunden. Genau wie der größte Teil ihres Make-ups.
Sie blieb an der Tür stehen. Diesmal saß Jack mit dem Gesicht zu ihr. Er hatte die Unterarme auf die Oberschenkel gelegt, rieb sich die Hände und musterte sie mit einem besorgten Blick. Sie wusste, dass er ihr frisch gewaschenes Gesicht bemerkte und starrte kühl zurück. Er wirkte angespannt und seine Anspannung übertrug sich auf sie. Warum war er hier?
»Möchten Sie vielleicht etwas essen?«
Sie blinzelte. Essen? Jetzt?
Er rieb sich die Wange; sie hörte kurze Stoppeln an seiner Handfläche kratzen. »Klingt unpassend. Ich weiß. Aber … ich finde, wir sollten darüber reden, was letzten Samstag passiert ist. Und vor zehn Jahren. Wir hingen damals beide mit drin und jetzt wieder …«
Jack wollte über Dave DeCosta reden? Über diesen Tag?
Er sah mit zusammengekniffenen Lippen zu Boden. »Damals wurde ich wegen des Verschwindens von Hillary Roske vernommen. Wir hatten ein paar Dates gehabt. Und jetzt werde ich wieder in diese Sache hineingezogen. Mein Keller und mein ehemaliger Partner bei der Polizei …« Er hob den Blick. »Ich weiß, der Zeitpunkt ist nicht wirklich günstig. Aber ich glaube, es wird nie einen passenden geben. Taugt der Sandwich-Laden gegenüber was?«
Sie starrte ihn an. Das war interessant. Er war damals in den Fall verwickelt gewesen und wurde jetzt erneut von der Geschichte eingeholt?
Genau wie sie.
Die Erinnerung an den Samstagmorgen kam wieder hoch. Lacey schüttelte den Kopf. Das konnte sie jetzt nicht machen. »Nein. Ich will nicht …«
»Bitte.« Seine Augen blickten fast flehentlich. Er ballte die Hände zu Fäusten. »Ich muss rauskriegen, warum das jetzt passiert. Sie waren dabei, als es vor langer Zeit begonnen hat. Und Sie waren am Samstag ebenfalls da. Wie kann das sein?« Er sah aus, als wäre er gern aufgestanden, blieb aber sitzen. Vielleicht aus Rücksicht auf ihre Größe. »Haben Sie von dem ermordeten Cop gehört?«
Er wusste davon? Lacey nickte. Als sie am Morgen mit Michael telefoniert hatte, hatte er kurz den Tod eines pensionierten Cops erwähnt. Die Polizei hatte ihn gebeten, vorerst nichts darüber zu schreiben. Aber woher wusste Jack …?
»Cal Trenton war vor seiner Pensionierung mein Partner. Wir haben bei der Polizei in Lakefield gemeinsam Dienst geschoben.«
Grundgütiger. Jack Harper steckte mindestens so tief drin wie sie.
»Und sie kennen dort noch Leute?«, fragte sie.
Er nickte.
Vielleicht konnte er etwas über Suzanne und den Mord an dem Cop herausbekommen. Sie hatte in Lakefield angerufen, war aber mit knappen Worten abgespeist worden. Die Polizei redete mit niemandem. Aber vielleicht machten die Cops bei einem Exkollegen eine Ausnahme. Womöglich bekam sie durch ihn einige Antworten. Das war sie Suzanne schuldig.
Lacey schaute hilfesuchend den Flur entlang. Sie hatte nicht das geringste Verlangen, zusammen mit einem Wildfremden den ganzen Alptraum noch einmal aufzuwärmen. Gleichzeitig sehnte sie sich weg aus diesem Gebäude und von den verzweifelten Eltern. Auf ihrem Schreibtisch stapelte sich dringende Arbeit, aber im Augenblick konnte sie sich sowieso nicht konzentrieren. Um die zahnmedizinischen Unterlagen durchzugehen, brauchte sie einen klaren Kopf, sonst wurde sie den Opfern nicht gerecht. Sie traf eine Entscheidung. »Okay. Dreißig Minuten. Aber dann muss ich hier weitermachen.«
Lacey saugte die köstlichen Düfte ein. Sie hoffte, dass sie den Gestank von verbranntem Fleisch aus ihrer Nase vertreiben würden. An die meisten Gerüche im gerichtsmedizinischen Institut war sie gewöhnt. Desinfektionsmittel und Tod. Meist bemerkte sie sie gar nicht mehr. Doch der Brandgeruch war besonders aufdringlich.
In dem kleinen Deli gegenüber war sie Stammgast. Die Panini und die dicke Muschelsuppe hatte sie schon als Teenager geliebt und sich an vielen Wochenenden hier mit ihrem Vater zum Lunch verabredet. Lacey pustete in ihre heiße Schokolade, schob alle Gedanken an zwei verbrannte junge Mädchen und ein trauerndes Elternpaar beiseite und musterte verstohlen den Mann, der ihr gegenübersaß.
Die Begegnung mit den verzweifelten Eltern steckte Lacey noch in den Knochen. Ein bisschen Smalltalk war eine willkommene Abwechslung und es gelang ihnen, sich erstaunlich ungezwungen zu unterhalten.
Sie hatte im Lauf des Wochenendes eine kleine Internet-recherche über Jack Harper angestellt. Der Mann, den sie am Samstagmorgen unter so ungewöhnlichen Umständen kennengelernt hatte, hatte sie neugierig werden lassen.
Harper hatte mit seinem Familienunternehmen innerhalb relativ kurzer Zeit ein Vermögen gemacht. Zu ihrer Erheiterung hatte sie im Portland Monthly einen Artikel entdeckt, in dem er als einer der zehn begehrtesten Junggesellen der Stadt bezeichnet wurde. Auf dem dazugehörigen Bild trug er einen Bauhelm und stand mit einem herausfordernden Lächeln vor dem Rohbau eines Bürohochhauses. Diese verdammten Augen. Sie grinsten jeder verfügbaren Frau der Stadt entgegen. Viele von ihnen würden für ein Date mit ihm vermutlich über glühende Kohlen gehen. Lacey betrachtete verstohlen seine Züge. Sie musste zugeben, dass er sehr gut aussah. Das Weibchen in ihr reagierte instinktiv auf sein männlich markantes Äußeres. Die grauen Augen waren genauso kühl und stechend, wie sie sie vom Samstag in Erinnerung hatte. Wie er wohl aussah, wenn er schlecht gelaunt war? Wenn diese Augen zornig funkelten, wollte sie lieber nicht der Grund dafür sein. Das kräftige Kinn und die beiden senkrechten Linien zwischen den Brauen verrieten ihr, dass er einen starken Willen hatte.
Fasziniert schaute sie ihm beim Essen zu. Mit drei Bissen hatte er die Hälfte seines Sandwichs vernichtet. Nebenher leerte er fast mechanisch seine Pommestüte – und das ohne dabei auszusehen wie ein Schwein. Er war ständig in Bewegung, aß, redete, bewegte die Hände und Arme, wirkte aber keinesfalls nervös. Vermutlich verbrannte er auf diese Art die meisten Kalorien, die er zu sich nahm.
Sie selbst hatte seit dem College nicht mehr so gegessen. Und damals hatte sie noch mindestens sechs Stunden täglich fürs Turnen trainiert.
Lacey betrachtete das gegrillte Sandwich auf ihrem Teller. Sie hatte gerade mal zwei halbherzige Bissen genommen und Jack war fast fertig. Lacey schob das Essen beiseite. Eigentlich hatte sie keinen Hunger. Die Gedanken an DeCosta und Suzanne verdarben ihr gründlich den Appetit. Nach einer Autopsie etwas zu essen, machte ihr nichts aus. Damit hatte sie nie Probleme gehabt. Aber das hier war etwas anderes.
Jack starrte ihr Sandwich düster an. Die senkrechten Linien zwischen seinen Augen verstärkten sich dabei noch. Sie fragte sich, ob er ihr Brot auch noch haben wollte oder ob er irritiert war, weil sie so wenig aß.
»Wie oft haben Sie es mit solchen Situationen zu tun?«, fragte Jack.
»Was meinen Sie?« Serienkiller?
»Wie eben in Ihrem Büro. Die Eltern.«
»Oh.« Einen Augenblick lang dachte Lacey stumm an Mr Spencers schmerzerstarrtes Gesicht. »Eher selten. Das gehört nicht zu meinem Aufgaben. Normalerweise kümmert mein Vater sich um die Hinterbliebenen.«
»Eines der Brandopfer war die Tochter der beiden, nicht wahr? In den Nachrichten wurde gestern etwas von dem Feuer gesagt.«
Mit ihrem Nicken verstieß Lacey gegen sämtliche Vorschriften. Sie nahm einen Schluck von der Schokolade, die plötzlich fad schmeckte. »Sie war eine der beiden Toten.« Plötzlich hatte Lacey den Geruch des verbrannten Fleisches wieder in der Nase. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie fragte sich, was Jack sah, wenn er sie anschaute. Eine emotionslose Gerichtsmedizinerin?
»Sie haben die Sache mit den Eltern wirklich gut gemacht.«
Bis zu dem Augenblick, in dem ich davongerannt bin. Lacey sah zu Boden und schüttelte den Kopf. »Ich habe doch gar nichts getan.«
Jack antwortete nicht. Sie schwiegen so lang, dass die Stille fast greifbar wurde.
»Was ist an dem Abend damals passiert?«, fragte Jack schließlich.
Lacey zupfte am Rand ihres Schokoladenbechers herum und wich seinem Blick aus. Sie wusste, dass er nicht von dem Brand in der vergangenen Nacht sprach. Er redete vom eigentlichen Grund seines überraschenden Besuchs bei ihr.
»Weshalb wollen Sie das wissen?« Sie zwang sich, ihn anzusehen. Warum hatte sie sich bloß auf dieses Gespräch eingelassen?
Er sah sie mit festem Blick an. »So viele Tote. Es ist wie ein Strudel, der meinen Namen einsaugt, und ich suche den Grund dafür. Ich brauche Informationen über die Vergangenheit, damit ich mir ein Bild davon machen kann, was jetzt gerade passiert. Und ich dachte mir, Sie könnten mir dabei helfen.«
Lacey nickte bedächtig. Sie verstand seine Beweggründe. Es war Jahre her, seit sie jemandem von den Ereignissen jenes Abends erzählt hatte. Ein paar Psychologen, ihre Eltern und zwei enge Freundinnen waren die einzigen Menschen, die die Geschichte kannten. Inzwischen war viel Zeit vergangen und ein unerklärlicher Drang, ihm ihre Last vor die Füße zu werfen, ließ sie den Mund aufmachen.
»Suzanne und ich waren auf dem Weg zu einem Restaurant. Wir wollten uns dort nach dem Wettkampf mit den anderen aus dem Team treffen. Das Lokal war nur ein paar Straßen von unserem Hotel entfernt. Unsere Trainer fanden nichts dabei, uns in der Stadt herumlaufen zu lassen, so lang wir nicht allein loszogen.«
Lacey schluckte.
»Als wir eine Gasse hinter dem Hotel überqueren wollten, kam ein Auto. Wir blieben stehen, um es vorbeizulassen, doch der Fahrer winkte uns weiter. Es war ziemlich dunkel. Ich konnte nicht viel erkennen. Nur seine Umrisse und dass er uns zuwinkte. Wir überquerten also die Gasse direkt vor dem Wagen und gingen Richtung Restaurant.«
»Sie haben die Person im Fahrzeug also nicht richtig gesehen?«
»Erst später. Ich hörte, wie eine Autotür sich öffnete und schaute mich um, weil ich es seltsam fand, dass der Motor noch lief.« Sie hatte Mitleid in Jacks Augen erwartet. Doch sie sah nur volle Konzentration und Aufmerksamkeit.
»Er rannte auf uns zu und stürzte sich sofort auf mich. Ich fiel auf den Bauch, er lag auf meinem Rücken, und ich schrie Suzanne an, sie solle weglaufen. Sie blieb.« Lacey wischte sich unwirsch über die Augen. Die unkontrollierbare Nässe ärgerte sie. »Sie trat auf ihn ein, zerrte an ihm herum und schrie, er solle mich loslassen. Das war dumm von ihr! Sie hätte wegrennen und Hilfe holen sollen!«
»Wären Sie denn an ihrer Stelle weggerannt?«
Lacey schüttelte widerstrebend den Kopf. Sie hielt dem Blick seiner grauen Augen stand. Sie hatte erst nach Monaten akzeptieren können, dass sie im umgekehrten Fall ebenso geblieben wäre und versucht hätte, Suzanne zu helfen. Doch das machte den Schmerz nicht erträglicher. Und es linderte nicht den Zorn auf ihre tote Freundin, weil sie so leichtsinnig gewesen war. Lacey wischte sich die feuchte Nase mit der Serviette ab. Ihr Bauch zog sich noch einmal schmerzhaft zusammen, doch sie sprach weiter.
»Er hat sie am Knöchel gepackt und umgerissen. Er war so groß und kräftig. Er konnte mich am Boden halten und gleichzeitig Suzanne umwerfen. Es gelang mir, mich auf den Rücken zu drehen. Ich habe ihn in den Arm gebissen und wollte ihm das Knie in den Unterleib rammen. Aber er kniete sich auf meine Brust und schlug mir auf die Nase.« Sie schüttelte sich. »Ich kann das widerliche Knacken immer noch hören. Dann bekam ich wegen seines Gewichts und wegen des Blutes, das mir in den Rachen lief, keine Luft mehr. Ich weiß nicht, was Suzanne in diesem Moment mit ihm gemacht hat, aber er wurde fast rasend. Er sprang von mir herunter und packte sie an den Haaren. Ich rollte mich zur Seite, lag einfach nur da und versuchte, wieder Luft zu kriegen.«
Zittrig nahm Lacey einen Schluck Schokolade. Sie brauchte ein bisschen Zeit. »Ich weiß nicht, ob ich …«
»Erzählen Sie weiter.« Jacks Stimme klang fest, aber mitfühlend. Lacey holte Luft. Seine Ruhe gab ihr Kraft.
»Ich würgte und spuckte Blut. Ich hörte Suzanne schreien, konnte mich aber nicht bewegen. Noch nie zuvor hatte mich jemand absichtlich geschlagen«, flüsterte Lacey, die Augen fest an den Becher geheftet.
»Plötzlich hörte Suzanne auf zu schreien. Sie war auf einmal ganz still. Erst dieses ohrenbetäubende Kreischen und dann von einer Sekunde zur anderen gar nichts mehr. Das machte mir Angst. Ich rollte mich auf den Bauch, streckte blind die Hände aus und packte, was ich kriegen konnte. Ich erwischte sie am Knöchel. Er versuchte, sie hochzuheben, und sie war ganz schlaff. Ich weiß nicht mal, ob sie geatmet hat oder nicht. Aber mir war klar, dass ich sie festhalten musste, weil sie sonst verschwinden würde. Es war wie ein Tauziehen. Ich zerrte ihren Fuß an meine Brust, hielt ihn mit aller Kraft fest und drückte die Augen zu. Denn plötzlich wusste ich ganz genau: Wenn ich losließe, wäre sie tot.« Lacey blickte auf.
Jacks Augen hatten sich geweitet.
»Er trat mir ins Gesicht. Ziemlich kräftig. Plötzlich hatte ich noch mehr Blut im Mund, ich hustete und würgte. Es schmeckte scheußlich, es war dickflüssig und ekelhaft. Aber ich ließ Suzanne nicht los. Ich drücke mein Gesicht an ihr Bein und hielt sie nur noch fester.«
»Und was ist dann passiert?«
»Er trat mir immer wieder gegen den Kopf, versuchte, mich zum Loslassen zu bewegen. Ich weiß nicht, wie oft er das machte. Als er endlich aufhörte, glaubte ich, wir hätten es geschafft; er würde abhauen und es wäre vorbei. Dann hatte ich plötzlich das Gefühl, mein Bein würde explodieren. Das war der unbeschreiblichste Schmerz, den ich je gespürt habe. Schlimmer als mein zerschlagenes Gesicht und schlimmer als damals, als ich mir das Schlüsselbein gebrochen habe. Er trat auf mein Knie und ich ließ los.«
Laceys Atem ging stoßweise. Sie spürte Phantomstiche im Bein. DeCosta hatte ihr das Schienbein kurz unterhalb des Knies zertrümmert. Ihr fiel auf, dass Jack blass geworden war und sich den Oberschenkel rieb. Er ließ sie nicht aus den Augen.
»Er warf sich Suzanne über die Schulter wie eine Puppe und rannte mit ihr zum Wagen. Ich sehe ihre Arme noch über seinen Rücken baumeln wie gebrochene Äste. Dann reißt meine Erinnerung ab. Angeblich habe ich im Krankenwagen ständig das Autokennzeichen wiederholt. Aber daran erinnere ich mich nicht.«
Laceys Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie wehrten sich gegen das Adrenalin, das ihre Adern flutete, denn sie wollte ruhig wirken – Jack Harper nicht zeigen, wie aufgewühlt sie war. Dass ihre Erinnerung abgerissen sei, hatte sie nur gesagt, weil sie das grauenhafte Entsetzen und das Gefühl, versagt zu haben, nicht beschreiben konnte, das sie gepackt hatte, als sie in der schummrig beleuchteten Seitenstraße versucht hatte, Suzanne nicht aus den Augen zu verlieren und mit schierer Willenskraft wieder zu sich zurückzuholen. Lacey hatte keine Worte für den schwarzen Vorhang, der sich über sie gesenkt hatte, nachdem der Wagen mit durchdrehenden Reifen losgeschossen war. Sie hatte noch einen letzten Blick auf das Kennzeichen zwischen den roten Rücklichtern werfen können. Wie teuflische Augen im Dunkeln.
Der schwarze Vorhang lauerte immer noch auf sie; er glitt über ihre Haut, wenn sie am wenigsten daran dachte.
Sie starrte die hohen Tannen vor dem Fenster an und saugte ihre eisige Schönheit auf, um die Erinnerungen einzufrieren und die versengende Schuld zu kühlen.
Warum hatte sie losgelassen?
Jack fragte nicht, weshalb Lacey nicht weiteraß. Er wusste, dass sie das jetzt nicht konnte. Zum Glück hatte er gegessen, bevor sie angefangen hatte zu erzählen. Sonst hätte sein Sandwich ebenfalls noch auf dem Teller gelegen.
Verdammt. Sie war durch die Hölle gegangen.
Und was noch schlimmer war: Sie konnte sich zusätzlich die Hölle ihrer Freundin ausmalen. Er wusste genau, wie es sich anfühlte, machtlos mit ansehen zu müssen, wie jemand um sein Leben kämpfte. Er kannte das frustrierende nächtliche Spiel der Schuldgefühle, das einem den Schlaf raubte.
Über den Tisch hinweg berührte er die Hand, mit der sie den Becher hielt. Aufgeschreckt blickte sie zu ihm auf, riss den Arm weg und setzte sich ein wenig aufrechter hin.
»Alles in Ordnung?« Blöde Frage.
Sie nickte. Die Lippen hatte sie fest aufeinandergepresst, ihre Augen blickten verschreckt.
Was hatte er sich bloß dabei gedacht, sie einfach so anzufassen. Sprich mit ihr. Lenk sie ab.
»Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich ein paar Dates mit Hillary Roske hatte. Einem der ersten Opfer.«
Sie nickte steif.
»Wir hatten uns ein paar Jahre vor Hillarys Verschwinden kennengelernt und ich wurde mit einem Dutzend ihrer Exfreunde zusammen vorgeladen.« Er grinste schief. »Der Zeitpunkt war mehr als ungünstig. Ich hatte mich gerade bei der Polizei beworben und dort war man von der Tatsache, dass ich als Mordverdächtiger galt, nicht wirklich angetan.«
Ein Winkel ihres großzügigen Mundes zuckte ein wenig nach oben. Aber er wollte das ganze Lächeln sehen. Es war nicht leicht, den Blick von diesen Lippen zu lösen und ihr wieder in die Augen zu schauen. Aufatmend stellte er fest, dass der gehetzte Ausdruck aus ihrem Blick gewichen war. Anscheinend war er auf dem richtigen Weg.
»Man ließ mich aber bald wieder in Ruhe. Ich habe die Ermittlungen mitverfolgt und war froh, als der Killer gefasst wurde.« Da war das Lächeln. Fast zu breit für ihr Gesicht, aber unglaublich anziehend. Ihm wurde warm ums Herz. Er wollte mehr davon. »Jetzt weiß ich, dass es vor allem Ihnen zu verdanken ist, dass man ihn geschnappt hat. Aber ich stecke wieder mittendrin. Ich komme mir vor wie auf einem Schleudersitz. Erst Hillary, jetzt der Fund im Keller unter meinem Mietshaus und der Mord an Cal.«
»Was glauben Sie – wer hat ihn umgebracht?«
»Cal?« Jack schüttelte den Kopf. »Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber ich nehme an, es war dieselbe Person, die die sterblichen Überreste Ihrer Freundin unter das Haus gelegt hat. Jemand hat seine Dienstmarke absichtlich dort hinterlassen, um die Polizei zu meinem Ex-Partner zu führen.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Kannten Sie Cal Trenton?« Es war ein Schuss ins Blaue, aber er musste die Frage stellen.
»Haben Sie vielleicht eine Vermutung, wer gewollt haben kann, dass die Ermordung Ihrer Freundin noch einmal Schlagzeilen macht? Oder warum die Marke zu dem Skelett gelegt wurde?«
Lacey kaute an ihren Lippen. Er sah, wie sie sich konzentrierte. Seine Fragen hatten sie von ihrer eigenen entsetzlichen Geschichte abgelenkt. Das war einer der Gründe gewesen, sie überhaupt zu stellen.
»Mir fällt niemand ein. Warum jemand so etwas tut, ist mir sowieso schleierhaft. Für mich ergibt das alles keinen Sinn. DeCosta ist Geschichte. Tot. Wer hat ein Interesse daran, alles noch mal aufzuwärmen? Warum taucht Suzannes Skelett grade jetzt auf? Glauben Sie, es könnte ein Zufall sein, dass die Marke und Suzanne zusammen gefunden wurden?«
»Großer Gott, nein. Das ist kein Zufall. Auf meinem Grund und Boden? Die Dienstmarke meines Ex-Partners? DeCosta mag tot sein, aber jemand wusste, wo er Suzannes Überreste finden würde. Und dieser jemand wollte, dass ein paar ganz dicke Pfeile direkt auf mich zeigen.«
Einen Augenblick lang saßen sie sich schweigend gegenüber. Jack spürte, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte. Der erste Funke von Interesse für sie vom Samstag hatte sich nicht abgekühlt. Trotz ihrer schrecklichen Geschichte. Ihre Anziehungskraft hatte sich noch verstärkt, denn jetzt wusste er, dass Lacey nicht auf den Kopf gefallen war und ein mitfühlendes Herz hatte. Und sie war unfassbar zäh. Jemand, der erlebt hatte …
Er wollte sie wiedersehen. Jack blinzelte. Diese plötzliche Gefühlswallung überraschte ihn. Warum gerade jetzt? Hastig führte er sich vor Augen, was alles dagegen sprach. Lacey Campbell schleppte tonnenweise emotionalen Ballast mit sich herum und auf ihn kam womöglich eine öffentliche Schlammschlacht zu. Warum gerade jetzt diese romantische Anwandlung?
Unter solchen Bedingungen fing man nichts an.
Sein Handy klingelte. Mit einer gemurmelten Entschuldigung nahm er den Anruf von seiner Sekretärin entgegen. Schweigend hörte er sich ihre wenig überraschende Mitteilung an, während Lacey ihren Teller wegschob und noch einen Schluck Schokolade nahm. Dabei fiel ihr eine dicke blonde Haarsträhne über die Wange und berührte den Becher. Er wollte die Strähne beiseitestreichen, dachte aber gerade noch rechtzeitig daran, wie sie auf seine Berührung an der Hand reagiert hatte, und verwandelte die Bewegung in einen Griff nach seinem eigenen Getränk. Jack trommelte mit den Fingern gegen die Glasflasche, trank aber nicht, sondern betrachtete Laceys zu Boden gerichteten Augen. Wunderschöne kräftige Wimpern. Ungeschminkt. Er fand, dass sie kein Make-up nötig hatte. Ihre Augen waren von Natur aus groß und ausdrucksvoll. Er beendete das Gespräch. »Die Staatspolizei will morgen noch mal mit mir sprechen.« Jack rieb sich das kratzige Kinn. »Das war wohl zu erwarten.«
»Tut mir leid für Sie.« Lacey zog eine Grimasse. »Ich habe das schon am Samstag hinter mich gebracht und es war kein Vergnügen.«
Sie warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. Wieder folgte ein langes Schweigen. Er wollte sie noch nicht gehen lassen. Jack rutschte auf seinem Stuhl hin und her, während der irrationale Teil seines Wesens fieberhaft nach einem Vorwand suchte, sie wiederzusehen. »Darf ich Sie anrufen? Falls ich noch Fragen habe?«
»Ähm … ja, sicher. Wenn Sie wollen.« Sie sprach so langsam, als müsste sie sich jedes Wort erst genau überlegen. »Könnten Sie mir nach dem Gespräch morgen vielleicht sagen, was die Polizei von Ihnen wollte? Und es mich wissen lassen, wenn es in Lakefield etwas Neues gibt?« Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln und sein Herz machte einen Sprung.
»Auf jeden Fall.«
Er spürte tiefe Zufriedenheit.