ZWANZIG

Mount Junction zeigte sich in allen Schattierungen von Grau bis Weiß. Makellos weißer Schnee bedeckte die umliegenden Gebirgszüge, ein dunkelgrauer Dreckfilm die Schneehaufen an den Rändern der hellgrauen Straßen. In dieser südöstlichen Ecke Oregons war Mount Junction die größte Stadt im Umkreis von hundert Meilen und mehr oder weniger um die Universität herum gewachsen. Die Hochschule war der größte Arbeitgeber des Countys. Wer nicht dort arbeitete, bewirtschaftete eine Ranch oder verdiente sein Geld in Restaurants und Kleiderläden, deren Kunden wiederum Studenten waren. Mount Junction galt als konservativ und die Uni pflegte stolz ihren Ruf als republikanisch ausgerichtete Institution in einem Staat, in dem bei den Wahlen stets die Demokraten die Nase vorn hatten. Aber Michael fiel sofort etwas ganz anderes auf: Die Autofahrer von Südost-Oregon kamen mit den winterlichen Straßenverhältnissen weitaus besser zurecht als die Bürger Portlands. Hier draußen gehörte Schnee zum täglichen Leben.

Michael stellte die Heizung in seinem gemieteten Geländewagen auf die höchste Stufe und studierte die Karte. Er wollte die Sache hier so schnell wie möglich hinter sich bringen, denn er hatte Lacey nur sehr ungern mit Jack Harper allein gelassen. Eigentlich durfte es ihn nicht kümmern, wen sie küsste. Aber bei diesem Kerl war das etwas anderes. Harper hatte sich in ihren engsten Umkreis gedrängt und schien die Beschützerrolle übernehmen zu wollen, die Michael als sein ureigenstes Privileg betrachtete. Jack würde sich gut um sie kümmern und sich mit ganzer Kraft für ihre Sicherheit einsetzen – aber das bedeutete nicht, dass er ihn deshalb mögen musste.

Verdammt, er ließ sich zu leicht ablenken. »Reiß dich zusammen!«, murmelte Michael. Erledige alles Notwendige und dann nichts wie zurück zu ihr.

Lacey war ihm zu nichts verpflichtet. Das wusste Michael. Doch nicht alle Aspekte ihrer Beziehung hatten sich verändert. Sie behandelte ihn immer noch wie eine besorgte Schwester, er bewachte sie wie ein älterer Bruder. Und falls sie je das Bedürfnis haben sollte, die alten Zeiten wieder aufleben zu lassen … er hätte nichts dagegen. So kurz ihre gemeinsame Zeit als Paar auch gewesen war, für ihn war diese Beziehung die bislang wichtigste in seinem Leben gewesen. An Knalleffekten hatte es nicht gemangelt. Im Bett und außerhalb. Schluss gemacht hatte sie vermutlich wegen letzteren. Über das Ende ihrer Liebe war er lang nicht hinweggekommen, aber inzwischen hatte er gelernt, sich auf die Zunge zu beißen und abzuwarten. Die Sache mit Harper beunruhigte ihn allerdings. Hier bahnte sich etwas Größeres an. Das sagte ihm sein Gefühl.

Michael schüttelte die Karte und atmete tief aus. Konzentration.

Er hatte bei der örtlichen Polizei eine kooperative Kontaktperson aufgetan, die bereit war, den offiziellen Unfallbericht von Amy Smith auszugraben, der Turnerin aus Mount Junction, die mit ihrem Auto im Fluss gelandet war. Michael hatte zwar eigene Recherchen über den Unfall angestellt, war aber bei den Nachforschungen über Amys Lebensumstände bald auf Probleme gestoßen: zu viele Smiths in Oregon. Die Quelle hatte versprochen, ihm alles zu mailen, was sich über die persönlichen Verhältnisse des Mädchens herausfinden ließ. Aber am meisten interessierte ihn der Autopsiebericht.

Die gebrochenen Oberschenkel gingen ihm nicht aus dem Kopf. Amys, Suzannes und jetzt die der drei Männer aus Portland und Umgebung. Es war immer dieselbe Art von Bruch.

Michael suchte auf der Karte nach der Stelle, an der Amys Wagen gefunden worden war. Laut dem, was in den Zeitungen stand, war sie in den Fluss gefahren, von der starken Strömung aus ihrem Fahrzeug gerissen und durch das felsige Flussbett geschleift worden. Paddler hatten den Wagen, der im Uferschlick steckengeblieben war, am nächsten Tag entdeckt. Drei Wochen später war eine Meile flussabwärts die Leiche angetrieben. Das junge Paar, das am Fluss gecampt hatte und buchstäblich über Amys sterbliche Überreste gestolpert war, hatte anfangs gar nicht erkannt, dass es sich um eine menschliche Leiche handelte.

Michael wollte genau an der Stelle stehen, an der Amy verschwunden war, und versuchen, sich vorzustellen, was an diesem Tag geschehen sein könnte. Als Nächstes würde er zu dem Campingplatz fahren, an dem sie gefunden worden war. Auf Fotos und Hörensagen allein wollte er sich nicht verlassen. Er ging den Dingen gern auf den Grund und machte sich selbst ein Bild.

Die Karte führte ihn auf einer kurvigen, schneebedeckten Straße drei Meilen weit aus der Stadt zu der Fundstelle des Wagens. Er hätte ein Navigationsgerät benutzen können, aber er wollte die Topografie der Gegend kennenlernen und ein Gefühl für die Umgebung entwickeln. Das ging am besten mit einer echten, altmodischen Karte aus Papier.

Er parkte den Truck am Straßenrand und ging die letzte Viertelmeile bis zum Fluss zu Fuß. Mühsam kämpfte er sich durch den Schnee, der hier fast einen halben Meter tief war, und kam schwitzend am Ufer an. Michael fluchte. Der Unfall war im Frühjahr passiert. Wie sollte er ihn sich um diese Jahreszeit realistisch vorstellen können? Die ganze Landschaft lag unter einer dicken Schneedecke.

Langsam drehte er sich im Kreis und ließ die Schönheit der Umgebung auf sich wirken. Er betrachtete den schmalen Pfad, den er von der Straße bis zum Fluss getrampelt hatte und legte die Stirn in Falten. Amy war von der Straße abgekommen, eine Viertelmeile durch die Landschaft geholpert und dann im Wasser gelandet? Große Felsblöcke und Buschgruppen säumten seinen eigenen Zickzackkurs. Offensichtlich war es ihr gelungen, diesen Hindernissen auszuweichen, dem Fluss aber nicht. War sie betrunken gewesen? Niemand erinnerte sich daran, sie an diesem Tag schon einmal gesehen zu haben. Bis zur Entdeckung ihres kleinen Corollas hatte sie kein Mensch vermisst.

An der Stelle, an der Michael stand, fiel das Ufer steil ab. Er schätzte die Distanz bis zur Wasseroberfläche auf sechs oder sieben Meter. Auf gar keinen Fall hätte sie die steile Böschung wieder hochfahren können. Vielleicht hatte sie aussteigen wollen und war dabei von der starken Strömung erfasst worden. Hätte sie ans Ufer waten können, wenn sie nicht zu schwer verletzt gewesen wäre?

Ein Blick auf die umgebenden Berghänge sagte ihm, dass die Wassertemperatur auch im Frühjahr nur wenig über dem Gefrierpunkt lag. Ein Sturz in eisiges Wasser war immer ein Schock. Michael lief ein kalter Schauer über die Beine bis in die gefrorenen Wanderstiefel. Auch er war schon einmal in mörderisch kaltem Wasser gelandet. Bei der Erinnerung an das unfreiwillige Bad in dem zähflüssigen Eisbrei zog sich sein ganzer Körper schmerzhaft zusammen. Er war so ungeschickt gewesen, sich an einer Krabbenfalle festzuhalten, die vom Deck eines Krabbenkutters über den Ozean geschwenkt war, und hatte dann prompt den Halt verloren. Ohne die blitzschnelle Reaktion des Captains und der Crew würde er heute als menschlicher Eisklumpen durch die Beringsee treiben. Einen Sturz in dieses Gewässer überlebte fast niemand.

Er riss den Blick von dem dunklen Wasser los, rieb sich die Hände und versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen, indem er seine Gedanken in eine andere Richtung lenkte. Befand er sich auf Privatbesitz oder gehörte das Flussufer der Stadt, dem County, dem Staat? Etwa eine Meile weit entfernt auf der anderen Flussseite stand eine Scheune. Kalt und verlassen lag sie da. Der Zaun, der einmal zwischen der Scheune und dem Fluss gestanden hatte, war nur noch eine undeutlich erkennbare Linie aus bröseligem verrottetem Holz. Er musste herausfinden, wem das Grundstück gehörte.

Michael stellte den warmen Kragen seiner dicken Jacke auf, um seinen Hals zu schützen. Dann arbeitete er sich zum Wagen zurück. Ein sanftes Schneegeriesel setzte ein und verwandelte die Landschaft in eine Weihnachtspostkarte. Noch einmal wandte er sich um, sah hinunter auf den tödlich grauen Fluss und fragte sich, ob er einer fixen Idee hinterherjagte.

Mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand klickte Michael sich durch die Seiten des Grundstücksregisters. Seine Zehen waren immer noch nicht ganz aufgetaut, obwohl er die Heizung im Hotelzimmer voll aufgedreht hatte. Die Fahrt zu dem Campingplatz, an dem Amys Leiche gefunden worden war, hatte sich als Pleite erwiesen. Der Platz war geschlossen, die Zufahrt über den Winter durch ein Tor versperrt. Er hatte sich überlegt, ob er den Wagen abstellen und vom Tor aus zu Fuß weitergehen sollte. Aber von dort bis zum Fluss waren es fast zwei Meilen. Außerdem war aus dem romantischen Schneegeriesel ein heftiges Schneetreiben geworden und er hatte Hunger. Er konnte sich die Stelle auch auf Google Earth ansehen. Vielleicht fand er dort ein paar gute Bilder aus der Vogelperspektive.

Seine Augen glitten über die aktuelle Seite des Grundstücksregisters auf dem Bildschirm seines Laptops. Er suchte nach den Besitzern der Grundstücke am Fluss. Ungeduldig scrollte er sich durch jede Menge Kleingedrucktes, dann stand mitten auf der Seite ein Name. Michael hielt den Atem an. Seine Gedanken überschlugen sich. Die öffentliche Hand war definitiv nicht Eigentümer des Landes direkt am Ufer. Die Stelle, an der er am Morgen gestanden hatte, war Teil einer über hundert Hektar großen Parzelle im Besitz von Joseph und Anna Stevenson.

Laceys ehemaligen Schwiegereltern.

Ärgere nie einen Reporter.

Jack warf die Zeitung auf den Schreibtisch und versuchte, Michael in der Redaktion zu erreichen. Janice, Jacks Sekretärin, hatte ihm die Nachmittagsausgabe des The Oregonian ein wenig beklommen hingelegt. Sie war zum Kiosk hinuntergelaufen und hatte die Zeitung gekauft, weil ihre Mutter ihr am Telefon gesagt hatte, ihr Boss sei auf der Titelseite.

Brody riss sich bei den Recherchen über Jacks Vergangenheit anscheinend regelrecht den Hintern auf. Der verdammte Artikel schilderte detailgetreu Jacks über zehn Jahre zurückliegende Befragung zu den Campus-Morden durch die Polizei in Corvallis. Die Fakten waren korrekt wiedergegeben. Aber das bedeutete nicht, dass er sie auf der Titelseite lesen wollte.

Laut Brodys Anrufbeantworter befand sich der Reporter auf einer Auswärtsrecherche und Jack erinnerte sich wieder daran, dass er und Lacey in der Nacht etwas von einem Kurztrip nach Mount Junction gesagt hatten. Wie lang würde der Kerl wohl weg sein? Jack rieb sich den Nacken und legte auf. Er lehnte sich auf seinem Bürosessel zurück und starrte stumm auf das Telefon. Was jetzt? Untätig herumsitzen war ihm zuwider, aber Lacey nach Brodys Handynummer zu fragen, war auch keine Option. Er hatte noch immer ein leicht ungutes Gefühl wegen der Geschichte mit der DVD.

Lacey hatte ihn um vier Uhr morgens vor die Tür gesetzt – nicht ohne ihm vorher einen Vortrag über ihre Beziehung zu dem Reporter zu halten. Jack hätte sich geweigert zu gehen, aber sie hatte ihren Vater angerufen und ihn gebeten, zu ihr zu kommen. Schon nach wenigen Minuten war er dagewesen. In den ersten zehn Sekunden ihrer Tirade hatte Jack erfahren, dass Michael Brody zu Laceys allerbesten Freunden gehörte, die sie beschützte wie eine Gänsemutter ihre Brut. Eine Gänsemutter mochte nicht besonders groß sein, aber wenn sie laut kreischend auf einen zustob, rannte man besser in der Gegenrichtung davon.

Es musste ihm gelingen, sie zu besänftigen. Irgendwie.

Wenigstens wusste er nun, dass sie und Brody kein Paar waren und nichts miteinander hatten.

Jack schob die Gedanken an die peinliche frühmorgendliche Situation beiseite. Stattdessen nahm er sich den Artikel noch einmal vor. Natürlich war da zu lesen, Jack habe ausgesagt, er hätte nichts mit dem Knochenfund unter seinem Gebäude zu tun. Auch sei in keinem Punkt Anklage gegen ihn erhoben worden. Weiter hieß es, er kooperiere in allen Belangen bereitwillig mit der Polizei. Eigentlich musste er doch dankbar sein, oder?

Doch dann kam die Liste seiner Berührungspunkte mit den Verbrechen vor zehn Jahren, gefolgt von der Feststellung, das Mehrfamilienhaus in Lakefield hätte ihm auch damals schon gehört. Das entsprach nicht ganz den Tatsachen. Jack schürzte die Lippen. Besitzer des Hauses war zu jener Zeit sein Vater gewesen. Ein paar Zeilen weiter hieß es, Jack habe zum Zeitpunkt der ersten Entführungen noch an der Oregon State University studiert. Das stimmte zwar, aber dasselbe galt für fast ein Drittel aller College-Absolventen aus Oregon. Auch dass er sich öfter mit Sportlerinnen vom College verabredet hatte, erfuhren die Leser. Alle Mordopfer waren blonde Athletinnen gewesen. Und Brody hatte von einer Quelle, die nicht namentlich genannt werden wollte, erfahren, dass Jack während seiner Studentenzeit immer nur blonde Freundinnen gehabt hätte. Er runzelte die Stirn. War das tatsächlich so gewesen? So sehr er sich auch das Gehirn zermarterte – ihm fiel keine Ausnahme ein. Aber das hieß noch lang nicht, dass er jemanden umgebracht hatte.

Lacey. Blond. Sportlerin. Kacke. Er warf die Zeitung zum Altpapier, drehte den Sessel zum Fenster und starrte den Berg an.

Im Kopf ging er den Artikel noch einmal durch. Nach fünfmaliger Lektüre kannte er ihn fast auswendig.

Und Hillary Roske.

Jack fischte die Zeitung noch einmal aus dem Abfall, sah sich das alte Bild von ihr an und suchte nach Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit. Viel fiel ihm nicht mehr ein. Sie war ein hübsches Mädchen gewesen. Süß. Aber sie hatten nie wirklich gut zusammengepasst.

Ihre Augen bohrten sich in seine. Stumm und vorwurfsvoll. Damals war er wie besessen davon gewesen, bei der Suche nach ihrem Entführer zu helfen. Auch während der Zeit bei der Polizei in Lakefield hatte er die Verbrechen immer im Hinterkopf gehabt. Die Verbrechen an ihr und den anderen Mädchen.

Jetzt sprach die Öffentlichkeit wieder über die alten Fälle und sein Name tauchte auf wie ein versenkter Korken, der an die Wasseroberfläche schoss. Er kniff die Augen zusammen, aber es half nichts. Er sah immer noch Hillarys forsches Lächeln vor sich.

Mit schlechter Presse hatte er sich schon öfter herumschlagen müssen. Normalerweise saß er so etwas einfach aus. Als Chef einer großen, bekannten Firma musste man mit so etwas immer rechnen und durfte es nicht allzu persönlich nehmen. Er war stolz auf die Bauprojekte des Unternehmens und darauf, wie er es nach dem Rückzug seines Vaters weiter vorangebracht hatte. Möglicherweise gab es Leute, die ihm den Erfolg neideten. Aber sie würden darüber hinwegkommen.

Diese Sache hier jedoch war ein anderes Kaliber.

Als das Telefon klingelte, öffnete er erst einmal nur ein Auge. Nach drei Anrufen von irgendwelchen lästigen Zeitungsfritzen hatte er Janice gesagt, sie solle alle weiteren Anrufer abwimmeln. Der hier musste wichtig sein. Janices Stimme tönte aus der Sprechanlage.

»Es ist Bill Hendricks, Jack. Ich dachte, mit dem wollen Sie vielleicht reden.«

»Ja. Das sollte ich wohl. Danke, Janice.«

Jack legte die Zeitung weg und fuhr sich durchs Haar, was dazu führte, dass die kurzen Igelstoppeln noch stacheliger in die Höhe standen. Hendricks kam immer sofort zur Sache und war im Augenblick einer der wichtigsten Geschäftspartner von Harper Immobilien. Er und Jack steckten mitten in der Planung für einen Wohnturm im heiß umkämpften South-Waterfront-Viertel, das sich derzeit zu einem von Portlands teuersten Wohnquartieren mauserte. Jack griff nach dem Hörer. Bill Hendricks wollte immer nur unverblümte Fakten hören. Der Mann witterte eine Lüge zehn Meter gegen den Wind.

»Morgen, Bill.«

»Jack! Was zum Teufel ist eigentlich los?«, brüllte Hendricks. Jack riss den Hörer vom Ohr. Hendricks redete wirklich nicht um den heißen Brei herum.

»Du kannst jedes Wort glauben, das in der Zeitung steht, Bill. Unter einem meiner älteren Mehrfamilienhäuser in Lakefield wurde ein Skelett gefunden.«

»Hast du es dort versteckt?« Die Stimme des alten Mannes klang mächtig. Mächtig aufgebracht.

»Ich bitte dich, Bill! Natürlich nicht! Traust du mir das etwa zu?« Jack versuchte, nicht über die gnadenlose Offenheit des alten Haudegens zu lachen.

»Nein. Aber ich dachte, ich frage mal, was du dazu zu sagen hast.« Zum Glück fuhr Bill nun die Lautstärke herunter. »Drei Zulieferer haben mich schon angerufen, weil sie befürchten, dass ich wegen ein paar lausigen Artikeln im The Oregonian aus dem Turmprojekt aussteige. Haben diese Leute eigentlich zwei Gramm Hirn zwischen den Ohren? Jeder, der dich kennt, weiß, dass dieses Geschreibsel ein Haufen Eselmist ist.«

Eselmist? Wenn er sich eine Person aussuchen konnte, die sich für ihn stark machte, dann war das definitiv Bill Hendricks. Das Wort dieses Mannes hatte in Oregon Gewicht und konnte Jacks angeschlagenes Image durchaus ein Stück weit kitten.

Bills Monolog dauerte noch eine weitere Minute. Nach dem Gespräch rieb Jack gedankenverloren die gefühllose Stelle an seinem rechten Oberschenkel. Wenn schon Bill Hendricks von Vertragspartnern angerufen wurde, die sich Sorgen um seine geschäftliche Zukunft machten, dann gab es sicher noch viele andere Leute mit ernsthaften Bedenken. Die miese Publicity war wie ein Morast, aus dem man nur schwer wieder herauskam. Wie viel bleibenden Schaden hatte Michael Brody der Firma Harper Immobilien bereits zugefügt?

»Mr Harper, Ihre Schwester ist auf Leitung zwei.«

»Danke, Janice.« Er hatte vergessen, seiner Sekretärin zu sagen, dass sie Melody auf keinen Fall zu ihm durchstellen sollte. Vermutlich erwartete sie, dass er sich auf irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung blicken ließ oder einen Scheck für eine gute Sache unterschrieb. Wenn es darum ging, das Geld der Firma für mildtätige Zwecke auszugeben, war seine ältere Schwester unschlagbar. Widerstrebend nahm er das Gespräch an.

Nach Melodys Anruf lehnte er sich zurück. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die Lösung für wenigstens eines seiner Probleme rückte näher. Das Schicksal hatte sie ihm gerade auf einem Silbertablett präsentiert und er würde diese Gelegenheit nutzen.

Dafür warf er sich gern für eine glamouröse Party in Schale.

Im Dämmerlicht der frühen Abendstunden hetzte Lacey zur Turnakademie. Endlich konnte sie dem Cop entkommen, der schon den ganzen Tag vor ihrer Haustür saß. Er war geblieben, bis Detective Callahan zurückgerufen und sie über den Toten, der am Morgen gefunden worden war, auf den neuesten Stand gebracht hatte. Bei dem Ermordeten handelte es sich um den Rechtsanwalt Richard Buck. Wieder eine Verbindung zu DeCosta. Als Lacey auf dem schummrig beleuchteten Parkplatz aus dem Truck stieg, warf sie einen Blick über die Schulter. Unruhig war sie schon den ganzen Tag. Aber deshalb würde sie sich noch lang nicht unter dem Bett verkriechen.

Der Detective war immer noch der Meinung, sie sollte die Stadt verlassen. Sie hatte ihm gesagt, sie würde bei ihrem Vater übernachten. Morgen musste sie zu einer Benefizveranstaltung im luxuriösen Benson Hotel. Vielleicht konnte sie sich dort anschließend einquartieren.

Callahan sagte ihr, Frank sei auf freien Fuß gesetzt worden, und Lacey erklärte noch einmal, dass sie auf eine Anzeige verzichten würde. Vor Frank hatte sie keine Angst. Sie wollte nur einfach nichts mehr mit ihm zu tun haben. Außerdem hoffte sie, dass ihm der Vorfall eine Lehre gewesen war. Seine erste und bisher einzige Nacht im Gefängnis würde er sicher nicht so schnell vergessen. Was Franks Patienten wohl denken würden, wenn sie erfuhren, dass er wegen eines Angriffs auf seine Exfrau in einer Zelle übernachtet hatte?

Falls Frank keine Ruhe gab, konnte sie ihm diese Frage ja einfach einmal stellen.

Lacey drückte die schwere Tür der Turnakademie auf. Sie atmete den charakteristischen Geruch von Desinfektionsmitteln und verschwitzten Körpern ein. Diese vertraute Mischung wirkte entspannend auf sie. Beim Betreten einer Sporthalle spürte sie immer eine gewisse Harmonie, eine besondere beruhigende Schwingung. Sie fühlte sich in ihrem Element. Anfeuerungsrufe und die Rockmusik, die eine Bodenübung begleitete, brachen sich an den Wänden. Ihr geschultes Auge folgte den Bewegungen eines jungen Mädchens auf dem Schwebebalken.

Sie hatte einen langen Tag hinter sich und war völlig durch den Wind. Angefangen hatte er mit Michaels wütendem Abgang. Anschließend hatte sie Jack vor die Tür gesetzt, später den üblen Artikel auf der Titelseite der Zeitung gelesen und dann von Richard Bucks Ermordung erfahren. Zu allem Überfluss war auch noch ihr Ring am Tatort gefunden worden. Dass sie nach diesem Tag nicht mehr klar denken konnte, wunderte sie kein bisschen. Am liebsten hätte sie das Denken komplett eingestellt. Die Versuchung war groß, sich die Bettdecke über den Kopf zu ziehen und die Realität mit ein paar dämpfenden Pillen in Schach zu halten. Nur mit einiger Mühe war es ihr gelungen, dieser Versuchung zu widerstehen. Fünf Minuten lang hatte sie das Xanax-Röhrchen in der Hand gehalten, es dann wieder ins Regal gestellt und sich bewusst gemacht, dass sie sich gefährlich nahe am Rand einer Depression befand. Sie wusste, dass sie sich in diesem Zustand einen Tritt geben, das Haus verlassen und Sport treiben musste. Deshalb war sie ins Studio geflüchtet. Wenn sie sich jetzt ins Bett legte, konnte es Tage dauern, bis sie die Kraft fand, wieder aufzustehen. Das durfte ihr nicht passieren. Sie musste herausfinden, was mit Suzanne geschehen war.

Wie hatte Michael eine weitere Story über Jack in die Zeitung setzen können? Sicher, der Artikel war sorgfältig recherchiert. Michael überprüfte sämtliche Informationen immer dreimal. Wenigstens hatte die Geschichte in der Spätausgabe gestanden, die lediglich einen Bruchteil der Auflage der Morgenzeitung erreichte. Lacey konnte nur hoffen, dass irgendeine Sensationsgeschichte Jack morgen von der Titelseite verdrängen würde.

Dass Michael nach dem Kuss auf der DVD wutentbrannt aus ihrem Haus gerannt war, fand sie ziemlich überzogen. Sie war ihm bis zum Wagen gefolgt und hatte ans Fenster geklopft. Doch er hatte nur ablehnend den Kopf geschüttelt und war weggefahren.

Michael hatte Glück, dass er im Augenblick weit weg war. Wenn sie ihn das nächste Mal sah, würde sie ihn erdrosseln. Er führte sich auf wie ein verwöhnter Fratz, der nicht ertrug, wenn jemand anderes mit seinen Sachen spielte.

Kleine Arme schlangen sich um Laceys Oberschenkel. Sie beugte sich zu Megan hinunter und umarmte sie. Seit drei Jahren unterrichtete sie die Zwergenriege und genoss jede einzelne Minute. Die vierjährigen kleinen Turnerinnen schäumten über vor Energie und Lebendigkeit. Lacey ließ sich jede Woche einen neuen Parcours mit einfachen Turnübungen und Spielen einfallen. Die Kinder waren jedes Mal Feuer und Flamme, warfen sich in den Behälter voller Schaumgummistücke, sprangen auf dem Trampolin und hüpften einen niedrigen Übungsbalken entlang.

Die Zwergenriege brachte Lacey immer zum Lachen und oft freute sie sich die ganze Woche über auf das Training.

»Hey.«

Lacey wandte sich um. Kelly Cates sah sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Neugier an. Kelly und ihr Mann Chris waren die Besitzer der Turnakademie.

»Alles klar bei dir?«, fragte Kelly leise. Dann umarmte sie Lacey lang und fest. Kelly war schon immer ein eher stiller Mensch gewesen. In den letzten Jahren hatte sie ihren durchtrainierten Turnerinnenlook verloren und war etwas fülliger geworden. Doch das zarte, spitzbübische Gesicht und der blonde Bob hatten sich nicht verändert.

»Mehr oder weniger. Zurzeit passiert einfach zu viel auf einmal«, antwortete Lacey.

Kelley war eine Mannschaftskameradin von Lacey und Suzanne gewesen und hatte Lacey blutend auf dem Gehsteig gefunden, als sie den beiden Mädchen in jener Nacht hinterhergerannt war. Eigentlich hätte sie zusammen mit Chris zum Restaurant kommen sollen, aber er hatte es sich anders überlegt. Deshalb war Kelley ein gutes Stück hinter ihren Teamkolleginnen gewesen. Sie gehörte immer noch zu Laceys engstem Freundeskreis. Genau wie Michael und Amelia.

Was wäre geschehen, wenn Kelly und Chris ihnen damals direkt gefolgt wären? Wäre Suzanne dann noch am Leben?

Lacey schob den Gedanken weg. Schon tausendmal durchgekaut. Erledigt.

Sie lächelte Kelly an, dann begrüßte sie ein anderes Kind, das aufgeregt zu ihnen rannte.

Jahrelang hatte Lacey gegen die Vorwürfe angekämpft, die sie Kelly und Chris insgeheim gemacht hatte, weil sie nicht dagewesen waren, als sie sie am meisten gebraucht hatte. Natürlich wusste sie, dass die beiden keinerlei Schuld traf. Aber es hatte eine Zeit gegeben, in der sie jemanden verantwortlich machen wollte.

Lacey beneidete Kelly um ihre Beziehung zu Chris. Genau wie Lacey und Frank waren sie während der gesamten College-Zeit zusammen gewesen. Anfangs hatte es zwischen den beiden gelegentlich gekracht. Aber Chris war ein wunderbarer Mann und die Ehe hielt. Er betete Kelly geradezu an.

Kelly sah sich um. Dann sagte sie leise: »Die Polizei hat mich angerufen. Es ging um meine Aussage damals beim DeCosta-Prozess.« Kelly hatte weder den Angriff noch den Täter gesehen. Im Zeugenstand hatte sie lediglich den Zustand beschrieben, in dem sie Lacey vorgefunden hatte. »Die meinen, ich muss mich in Acht nehmen. Anscheinend arbeitet der neue Killer eine Liste von Leuten ab, die etwas mit dem DeCosta-Prozess zu tun hatten.« Ihre Augen wurden feucht, ihre Stimme ein wenig unsicher.

»Du musst unbedingt vorsichtig sein, Kelly. Geh nicht allein aus dem Haus und schließ nachts die Tür gut ab. Vielleicht wäre jetzt sogar der passende Zeitpunkt für einen Besuch bei deiner Mom in Nevada.«

Kelly nickte. »Ich rede mit Chris darüber.«

»Ich habe mir schon eine Alarmanlage einbauen lassen und heute Nacht schlafe ich bei meinem Dad.«

»Hast du denn keine Angst?«, fragte Kelly.

Lacey konnte ihr nicht mehr antworten. Ein großer, muskulöser Mann hatte sich an sie herangepirscht, warf die Arme um die Schultern der Freundinnen und drückte sie herzhaft an sich. »Wie geht es meinen beiden Lieblingsfrauen?« Lacey zuckte zusammen. Chris. Inzwischen erschrak sie schon fast vor ihrem eigenen Schatten.

Ein wenig zittrig boxte Lacey ihm in die Brust. Chris war ein lieber Kerl. Mit dem rotbraunen Haar, dem bronzenen Teint und seinem guten Aussehen wirkte er auf Frauen jeden Alters anziehend. Aber er hatte nur Augen für Kelly.

»Ach, entschuldige. Ich muss mich korrigieren. Lace, du kommst leider erst an dritter Stelle. Gleich hinter Jessica.«

Erleichtert stellte Lacey fest, dass ihm nicht aufgefallen war, wie sehr er sie erschreckt hatte. »Ich glaube, das verkrafte ich.« Jessica war die Tochter der beiden, ein furchtbar verwöhntes Einzelkind. »Wie geht’s ihr denn? Interessiert sie sich inzwischen fürs Turnen?« Lacey wusste, dass die Viertklässlerin diesen Sport hasste wie die Pest.

Kelly verdrehte die Augen. »Sie tut, als wäre Turnen die Höchststrafe. Dafür ist sie komplett fußballverrückt. Ganz der Vater eben.«

Chris hatte nach dem College ein paar Jahre lang in der Profiliga gekickt. Nach seinem Karriereende durch eine schwere Knieverletzung hatte Kelly ihn überredet, mit ihr zusammen die Turnakademie zu eröffnen. Überraschenderweise machte es ihm Spaß, als Coach in einer völlig anderen Sportart zu arbeiten. Außerdem hatte er ein gutes Auge fürs Turnen. Vermutlich weil er Kelly jahrelang beim Training zugesehen und sie zu den Wettkämpfen begleitet hatte.

»Jess fragt dauernd nach dir, Lacey. Kommst du morgen Abend zum Essen zu uns?«

»Das geht leider nicht. Morgen muss ich zu einer Benefizveranstaltung für die rollende Zahnklinik. Die darf ich nicht schwänzen.«

Kelly nickte, wirkte aber nach wie vor alles andere als unbekümmert.

»Die neuen Morde beschäftigen dich – oder, Lace?« So ernst schaute Chris sonst nie.

»Ja. Es ist grauenhaft. Die Polizei warnt alle, die damals irgendetwas mit dem DeCosta-Prozess zu tun hatten. Und sie sucht in DeCostas ehemaligem Umfeld nach einer Person, die ihn vielleicht rächen will oder als Nachahmungstäter infrage kommt.«

»Was ist mit dem Typ aus der Zeitung?«, fragte Chris. »Der, über den Michael so viel schreibt. Meinst du, die verhaften ihn? Er scheint ziemlich viel mit den alten und den neuen Fällen zu tun zu haben. Verdächtig viel.«

»Jack Harper weiß selbst nicht, wie ihm geschieht. Er hat keinerlei Motiv und es gibt keinen Grund, ihn aus dem Verkehr zu ziehen.« Lacey verteidigte ihn, obwohl einiges von dem, was in der Zeitung stand, sie überrascht hatte. Aber Jack hatte ihr beigestanden, als sie der Polizei die DVD gezeigt hatten, und mit seiner Einschätzung ihres Exgatten lag er genau richtig. Außerdem fühlte sie sich in Jacks Gegenwart sicher.

Und das sprach eindeutig für ihn.