ACHTUNDZWANZIG

Sie ließen ihn nicht hinein.

Frustriert stapfte Michael vor einem kleinen Gemischtwarengeschäft im Südosten Oregons auf und ab. Er hatte sich auf sein entwaffnendes Lächeln verlassen und geglaubt, er könne einfach ans Tor klopfen, seinen Charme spielen lassen und auf diese Art an Dave DeCostas Mutter Linda herankommen. Leider hatte ein Mann aufgemacht.

Die Recherchen über das Grundstück von Frank Stevensons Eltern lagen im Moment auf Eis. Luscos Auftrag interessierte Michael mehr. Das Gespräch mit Amys früherem Freund, Matt Petretti, hatte ihn auch nicht wirklich weitergebracht. Petretti war es sichtlich unangenehm gewesen, in Gegenwart seiner Frau über Amy zu reden. Er hatte nur kurz ein paar Fragen beantwortet, Michael aber nicht viel Neues sagen können.

Erst Luscos Anruf hatte Michael von dem frustrierenden Gefühl befreit, der Trip in den Südosten des Staates wäre reine Zeitverschwendung.

Lusco wollte, dass er ein paar Nachforschungen über die Mutter des Killers anstellte. Außerdem brauchten Lusco und Callahan Informationen über DeCostas jüngeren Bruder Bobby. Sie hielten es für möglich, dass er etwas mit den Morden in und um Portland zu tun hatte und vielleicht der Stalker war, der Lacey bedrohte.

Auch Michael hatte das Gefühl, diese Spur könnte tatsächlich wichtig werden.

Der Mann am Tor des Sektengrundstücks hatte Michael in deutlichen Worten gesagt, was ein Reporter aus seiner Sicht mit seiner Tastatur tun konnte. Michael musste sich eingestehen, dass es vermutlich keine gute Idee gewesen war, dem Kerl seine Visitenkarte unter die Nase zu halten. Die Öffentlichkeit gierte nach Geschichten über Polygamie und fanatische Sekten. Deshalb saßen diesen Freaks sicher ständig irgendwelche Journalisten im Nacken, die auf sensationelle Nachrichtenhäppchen aus waren.

Die Sicherung des Grundstücks erinnerte Michael an Waco, wo vor Jahren so viele Menschen ihre Sektenmitgliedschaft mit dem Leben bezahlt hatten. Hohe Mauern, Zäune, Tore. Laut seinen bisherigen Recherchen regierte der Sektengründer dort wie ein König. Er herrschte uneingeschränkt über seine Frauen und Kinder. Die anderen Männer, die dort lebten, bekamen ihre Frauen von ihm zugeteilt. Eine große, glückliche Familie. Michael dachte an die Bhagwan-Jünger in ihren orangefarbenen Pyjamas. Vor drei Jahrzehnten hatte die Sekte die Big Muddy Ranch im Herzen Oregons übernommen und dort die Siedlung Rajneeshpuram gebaut. Jahre später hatte ihr dramatisches Ende die Schlagzeilen beherrscht.

Die Sekte, die Michael im Augenblick beschäftigte, hatte sich weit draußen auf dem Land, eine Autostunde von Mount Junction entfernt, niedergelassen. Und im Moment sah es so aus, als hätte er sich umsonst hier herausgequält. Lusco versuchte, Unterstützung durch die örtlichen Polizeikräfte zu organisieren. Bislang ohne Erfolg. Michael war auf sich selbst gestellt und er wollte unbedingt rein in diese Festung.

Mit dampfendem Atem ging er weiter vor dem Geschäft auf und ab. Dabei spielte er im Kopf verschiedene Möglichkeiten durch. Was tun? Am Tor darauf zu warten, dass Sektenmitglieder herauskamen, und ihnen dann zu folgen, war sinnlos. Reden würden sie sowieso nicht mit ihm.

Aber wenn jemand hineinmusste? Er rieb sich die kalten Hände. Es musste doch Leute geben, die drinnen irgendetwas zu tun hatten. Einen Klempner vielleicht oder einen Lieferanten. Michael betrachtete das verstaubte Schild des Ladens. Gingen die Sektenmitglieder selbst zum Einkaufen oder ließen sie sich Lebensmittel liefern? Er schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich kauften sie selbst ein und pflanzten auch einiges im eigenen Garten an. Über irgendwelche geschäftlichen Aktivitäten der Gruppe hatte er nichts herausgefunden. Vermutlich gehörte Sparsamkeit zu ihren Glaubenssätzen.

Was brauchten sie überhaupt aus der Welt draußen?

Ein rostiger Viehtransporter fuhr vorbei. Michael lächelte. Die Tiere auf dem Grundstück hatte er vom Tor aus riechen können. Wahrscheinlich hielt die Sekte Hühner, Rinder und Hunde. Da wurde doch sicher hin und wieder ein Tierarzt benötigt. Michael ging zu dem antiquierten Münzfernsprecher an der Außenwand des Ladens. Das Telefonbuch, das dort hing, sah aus, als wäre es Mitte der 1970er-Jahre gedruckt worden. Er schnappte sich die dünne Kladde und sah unter »V« wie Veterinärmedizin nach.

Irgendwo musste er schließlich anfangen.

Irgendwo war am Ende ein Hufschmied, etwa dreißig Minuten von der Sekte entfernt. Der Tierarzt, Jim Tipton, hatte am Telefon mit viel »Ähm« und »Tja« reagiert, als Michael erklärt hatte, was er wollte. Michael hatte seine Verbindungen mit der Polizei ein wenig offizieller klingen lassen, als sie es waren. Zum Glück erinnerte der Tierarzt sich an die DeCosta-Morde. Eigentlich wollte der Mann ihm auch gern helfen, doch er hatte Skrupel, Michael auf das Grundstück zu schmuggeln. Tipton kannte die Sekte und war auf den Oberindianer dort nicht gut zu sprechen. Aus seiner Sicht ließen die Haltungsbedingungen der Tiere zu wünschen übrig. Der Tierarzt wurde nur bei schweren Verletzungen oder lebensbedrohlichen Krankheitssymptomen gerufen.

Tipton gefiel der Lebensstil der Gruppe kein bisschen.

Er verwies Michael an einen Hufschmied namens Sam Short und meinte, der Schmied hätte eine noch schlechtere Meinung von den Leuten und wäre sicher begeistert, helfen zu können. Begeistert? Tiptons Wortwahl hallte Michael noch im Ohr, als er den Mietwagen vor dem eleganten Haus des Schmieds parkte. Dahinter lagen ein großer Stall und eine Reitbahn. Warum sollte der Mann begeistert sein?

Michael stieg aus dem Truck. Auf dem Weg zum Stall sah er sich eingehend um. Was für eine Anlage. Das Grundstück, die Gebäude, die Pferdetransporter und die Pferde – das waren Millionenwerte. Er ging zu einer Weide, lehnte sich an den Zaun und beobachtete lächelnd, wie sechs Pferde übermütig durch den Pulverschnee tobten. Ein dunkles Pferd mit zwei weißen Fesseln entdeckte Michael und trabte neugierig an den Zaun. Schnaubend untersuchte es Michaels ausgestreckte Hand. Nachdem es freundschaftlich an seinem Ärmel geknabbert hatte, rieb es den Kopf an Michaels Ellbogen. Lang und ausdauernd. Fasziniert sah Michael zu, wie das Pferd sich an ihm kratzte. Mit der freien Hand tätschelte er den Hals des Tieres.

»Wenn Sie ihn lassen, macht er das den ganzen Tag.«

Michael zuckte zusammen. Damit erschreckte er das Pferd. Es galoppierte zurück zu seinen Kameraden.

»Oder auch nicht.«

Michael musterte sein Gegenüber eingehend. Welliges schwarzes Haar, zu zwei lockeren Zöpfen zusammengebunden. Schmutzige Jeans, rote, schneeverkrustete Stiefel. Doch die fleecegefütterte, königsblaue Jacke war makellos sauber. Die Augen hatten denselben Farbton. Michael schätzte die Frau auf um die dreißig. Die Arme vor der Brust verschränkt stand sie da und maß ihn mit misstrauischen Blicken.

»Michael Brody. Jim Tipton sagte, ich würde hier einen Sam Short finden. Wissen Sie wo?« Er versuchte es mit seinem charmantesten Lächeln. Die Schwarzhaarige war ein lebhafter Farbtupfer vor dem verschneiten Hintergrund. Hübsch.

»Sam Short?« Die forschenden Augen wurden kein bisschen weicher. »Steht vor Ihnen.«

Verspätet registrierte Michael die Stickerei auf ihrer Jacke. Samantha Short. Shorts Pferdepension.

»Oh«, sagte er. »Wenn nicht grade tiefster Winter wäre, würde ich sagen, ich habe mich in die Nesseln gesetzt.«

Lacey nahm einen Schluck von ihrem extragroßen Latte. Sie sah die beiden Männer in der Kochnische an. Jack hatte den Vorfall im Schlafzimmer nicht mehr erwähnt und war dankenswerterweise in Jeans zum Frühstück erschienen. Es fiel ihr schwer, ihm ins Gesicht zu schauen. Sich mit Alex zu unterhalten, war im Moment einfacher. Nervös löcherte sie ihn mit Fragen über sein Haus und den Garten. Seine Antworten bestanden meist nur aus einem oder zwei Worten. Alex hatte einen kurzen Ausflug zu Starbucks gemacht. Der Gute. Sie fing an, den stillen Mann zu mögen. Ans Spülbecken gelehnt blies er in seinen Kaffee.

Jack beendete ein Telefongespräch mit Detective Callahan und starrte danach still in seinen Becher. Einen Kater schien er nicht zu haben. Überhaupt merkte man ihm eigentlich nicht an, dass er betrunken gewesen war. Seit dem Morgen knisterte die Luft zwischen ihnen noch heftiger als zuvor. Er hatte sie bei sich im Bett haben wollen und sie hatte sich dasselbe gewünscht. Die wohlige Wärme tief unten in ihrem Bauch verstärkte sich. Lacey befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. Sie und Jack befanden sich auf Kollisionskurs. Warum kämpfte sie dagegen an?

Das Gespräch mit Callahan schien ihn zu beschäftigen.

»Die Detectives verfolgen eine Spur.«

»Ich hoffe, nicht nur eine!«

Er ignorierte ihren Sarkasmus. »Sie haben DeCostas Mutter im Südosten von Oregon aufgespürt und wollen nun von ihr wissen, wo ihr anderer Sohn ist.«

Lacey versuchte, sich Dave DeCostas jüngeren Bruder ins Gedächtnis zu rufen – mit mäßigem Erfolg. Sie erinnerte sich nur an einen stillen, dunkelhaarigen Jungen, der während des Prozesses seiner Mutter nicht von der Seite gewichen war. »Er war damals noch fast ein Kind. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Was es genau war, weiß ich nicht mehr, aber die Polizei schloss ihn als möglichen Komplizen seines Bruders mit größter Wahrscheinlichkeit aus. Ich glaube, der Junge hatte eine geistige Behinderung. DeCosta hat allein gemordet. Keine Familie. Keine Freunde.« Laceys Worte klangen sicherer als sie sich fühlte. Denkbar war alles. DeCostas Bruder war zur Zeit des Prozesses jünger gewesen als sie. Vierzehn oder fünfzehn vielleicht.

»Callahan meint, Rache könnte ein Motiv sein. Damit kämen die Mutter und der Bruder infrage.«

»Mutter und Sohn?« Lacey schüttelte den Kopf. Bei den Verhandlungen hatte Linda DeCosta ausgesehen, als könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Und diese Frau sollte eine Mörderin sein?

Jack nickte.

Lacey bemerkte den granitharten Zug um sein Kinn.

Trotzdem schüchterte er sie nicht ein. Zumindest nicht, solang er voll bekleidet vor ihr saß. Jack konnte gelegentlich geradezu beängstigend wirken, doch sie wusste, dass er ihr nie etwas zuleide tun würde. Nachdenklich nahm sie einen Schluck Kaffee. Wenn er sich über sie ärgerte, würde er ihr sicherlich ordentlich den Kopf waschen. Aber nie, niemals würde er die Hand gegen sie erheben. Diese Gewissheit hatte sie bei ihrem Exmann am Ende ihrer Ehe nicht mehr gehabt.

»Hat er etwas über Kelly gesagt? Kommen sie bei der Suche weiter?« Lacey hielt gespannt die Luft an.

Jack schüttelte den Kopf. »Es gibt nichts Neues. Vielleicht findet die Polizei ja bei DeCostas Familie den entscheidenden Hinweis.«

Alex warf einen Blick auf die Uhr. Jack stand auf und schob seinen Stuhl an den Tisch. Auch er hatte die Bewegung bemerkt.

»Wohin gehen wir?« Lacey drückte den Deckel auf ihren Becher.

»An einen Ort etwas südlich von Hood River.«

»Hood River? Südlich? Da ist doch der Berg. Bei dem Schnee?« Lacey ließ beinahe den Pappbecher fallen. Von der Ortschaft Hood River war es nur ein Katzensprung bis zum Mount Hood.

Jack hob eine Augenbraue. »Im Moment schneit es überall.«

»Ja. Aber …« Lacey beließ es dabei. Ihn umstimmen zu wollen, wenn er so entschlossen guckte, war aussichtslos. Das hatte sie bereits gelernt. Wenn er wirklich eineinhalb Stunden lang durch dieses Hundewetter an einen Ort fahren wollte, wo das Wetter noch scheußlicher war – bitte.

»Fahrt ihr zur Hütte?« Alex griff nach der Macy’s-Einkaufstüte mit Kleidern, ihrem einzigen Gepäckstück.

»Hütte?« Das klang nach einem Bretterverschlag ohne Wasser und Strom. Eindeutig nichts für sie. »Aber warum denn? Gibt es kein Hotel, wo wir …« Jacks Blick sorgte dafür, dass sie sich den Rest der Frage sparte.

»Es ist die Berghütte der Firma. Dahin gehen wir.«

»Aber wieso denn?« Lacey hatte ihr Rückgrat wiederentdeckt. Sie hielt Jacks Blick stand. Sag jetzt bitte nichts von einem Plumpsklo.

»Fällt dir etwas Besseres ein? Wir wissen beide, dass wir nicht in ein Hotel einchecken können. Und ich möchte weder deine noch meine Freunde in Gefahr bringen.« Er warf Alex ein schiefes Lächeln zu. »Sofern nicht bereits geschehen.«

Alex zuckte die Schultern.

»Wir fahren allein dorthin?« Lacey blieb fast die Stimme weg. Nur Jack und sie in einer kleinen, abgelegenen Hütte …

Alex hustete. Sie sah ihn stirnrunzelnd an.

Ein Hauch von Jacks frischem, männlichem Duft stieg ihr in die Nase, als er sich zu ihr beugte. Ihr wurde ein bisschen schwindelig. »Keine Sorge. Ich werde nichts tun, was du nicht auch willst.« Er zwinkerte.

Lacey zuckte zurück, dabei schwappte ihr ein wenig Kaffee über die Hand. Sie drückte den Deckel fester auf den Becher. Jacks Augen brannten heißer als die Flüssigkeit.

Was wollte sie ihn tun lassen?

Hinter der getönten Scheibe der Ladeflächenverkleidung von Sams Truck biss Michael sich auf die Lippen. Sonst hätte er laut aufgejubelt. Sam hatte mit einem Klimpern ihrer langen sexy Wimpern dafür gesorgt, dass das Tor zum Sektengrundstück sich öffnete. Was sie gesagt hatte, konnte Michael nicht verstehen. Doch der Farmarbeiter war hin und weg von ihr. Genau wie er.

Sam Short beeindruckte ihn über die Maßen. Er hatte ihr erklärt, welche Rolle er bei der Mörderjagd spielte und warum er auf das Gelände der Sekte musste. Und sie war sofort bereit gewesen, ihm zu helfen. Aber vorher stellte sie ihm ein paar Fragen und ließ ihn warten, während sie mit Lusco telefonierte. Dann ging sie flott voran zu ihrem Truck. Sie fuhr oft zu diesen Leuten hinaus, weil sie eine größere Anzahl Pferde hielten. Der Sektenboss mochte nicht viel von Tierärzten halten, aber der Farmverwalter bestand darauf, alle Pferde beschlagen zu lassen.

Auf dem Weg zum Truck erklärte sie Michael deutlich, was sie von Polygamie und Sekten hielt.

»Kranke Idioten. Unterziehen die Frauen einer Gehirnwäsche. Angeblich vermindert Polygamie für Ehemänner den Druck, Ehebruch zu begehen.« Sam schnaubte. »Die Frau muss also keine Angst haben, ihren Mann und Versorger zu verlieren. Er heiratet nur einfach noch jemanden. Eine jüngere, attraktivere Frau. Die dann auch im Haushalt helfen kann.«

»Hmm. Vielehe. Jede Nacht eine andere. Ein Männertraum«, sagte Michael trocken. Dann beschleunigte er vorsichtshalber seinen Schritt. Sam hielt mühelos mit ihm mit. Einen Moment lang fürchtete er, sie würde ihm einen Tritt geben.

»Ha! Und die Männer tun so, als wäre das eine schwere Bürde. Sie stöhnen darüber, wie anstrengend es ist, eine so große Familie zusammenzuhalten. Wie schwer, alle glücklich zu machen. Bevor er sich eine weitere Frau nehmen darf, muss er nachweisen, dass er für den Unterhalt der Kinder sorgen kann. Mir kommen die Tränen.«

»Sie scheinen ziemlich viel über diese Leute zu wissen.«

Sam blieb abrupt stehen, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. »Ich kenne mich aus. Mein Vater hatte auch mehrere Frauen.« Mit schief gelegtem Kopf starrte sie ihn an. Sie wartete auf seine Reaktion. Die blauen Augen blitzten, ihre Lippen wurden schmal.

»Ähm …« Ihr Vater? Michael saß schon wieder in den Nesseln. Er ließ den Blick über die luxuriöse Anlage schweifen. »Wie …?«

Sam erriet seine Gedanken. »Die Pferdepension hat meinem Mann gehört. Und jetzt gehört sie mir.«

»Hat er …? Sind Sie …?«

Sam lachte auf, dann marschierte sie mit energischen Schritten weiter. »Ich war seine einzige Ehefrau. Er hielt nichts von der Vielehe. So wenig wie ich. Er ist vor drei Jahren gestorben. Fiel vom Pferd und brach sich den Hals.« Sehr traurig klang sie bei den letzten Worten nicht.

Michael wusste nicht, was ihn mehr überraschte: die persönlichen Informationen, die sie ihm um die Ohren schlug, oder die Tatsache, dass sie das alles einem Fremden sagte. »Tut mir leid.«

»Danke. Mir nicht. Vielleicht hätte er es doch mal mit Polygamie versuchen sollen, anstatt unsere Ehe mit seinen Affären zu ruinieren.« Michael hörte die unterdrückte Wut in ihrer Stimme.

Bevor er wieder etwas Falsches sagte, hielt er lieber den Mund.

Hinten im Truck versteckt dachte er darüber nach, wie es wohl war, mit mehreren Müttern zusammenzuleben. Es gab immer genügend Babysitter, aber auch mehr Kinder zu hüten. Mehr Leute, die Essen kochten, aber auch mehr hungrige Münder. Die Hausarbeit konnte man sich teilen, musste aber gleichzeitig viel mehr waschen und putzen.

Und Sam war unter solchen Umständen aufgewachsen?

Ihr Truck hielt so plötzlich an, dass er mit dem Kopf gegen das kalte Metall knallte. Durchs Fenster sah er heruntergekommene Schuppen und Zäune, die kaum ein Schaf beeindrucken würden – geschweige denn eine Pferdeherde. Nach Sams herrlicher Ranch wirkte diese Anlage absolut abbruchreif.

Sam öffnete die Klappe der Ladefläche, sah sich um und gab ihm ein Zeichen, dass er aussteigen solle. »Im Augenblick ist niemand in der Nähe. Ich wollte Sie nur am Tor verstecken, falls der gleiche Typ aufmacht, der Sie schon gesehen hat. Allen anderen sage ich, Sie würden mir heute helfen.«

»Warum arbeiten Sie für diese Leute, wenn die Ihnen so zuwider sind?«

Sam hob eine Augenbraue. »Geld stinkt nicht. Und abgesehen davon hat der einzige andere Schmied der Gegend zwei linke Hände. Den Pferden zuliebe kümmere ich mich lieber selbst um ihre Hufe.«

Eine knallharte Geschäftsfrau.

Michael wandte sich zum Haus um. Zu den Häusern. Einige Einzel- und Doppeltrailer standen in einem unregelmäßigen Halbkreis um eine verschneite Fläche voller Kinderspielzeug. »Haben Sie eine Ahnung, wo ich die Frau finde, nach der ich suche?«

Sam kräuselte die Nase. »Sie sagten, sie sei um die sechzig? Wie war ihr Name noch mal?«

»Linda.«

»Linda, Linda«, murmelte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Das könnte die mit dem grauen Zopf sein. Sie ist die Älteste hier und spricht nicht viel. Ich glaube, sie ist seit etwa fünf Jahren bei der Gruppe. Scheint die meiste Zeit in der Küche zu sein oder sich um die Kinder zu kümmern.«

»Sie waren schon mal im Haus … in den Trailern?«

Sam nickte. »Ich hole mir dort immer mein Geld ab. In bar. Und bevor ich überhaupt mit der Arbeit anfange. Jed eine Rechnung zu schicken, wäre sinnlos.« Ihr spitzbübisches Lächeln löste in Michaels Magen ein angenehmes Ziehen aus. »Er erträgt es nicht, dass ich als Witwe nicht am Hungertuch nage. Heiratsanträge kriege ich hier draußen öfter.«

»Und wie finde ich jetzt Linda?«

»Kommen Sie.« Eilig ging sie auf den größten Trailer zu. Michael kannte keine andere Frau, die ununterbrochen so schnell unterwegs war. Sam strahlte eine ungeheure Energie aus, war selbstbewusst, intelligent – und sehr attraktiv.

Er trottete hinter ihr her wie ein Esel hinter einer Karotte.

Sie hatten seit zwei Stunden nichts mehr von Brody gehört.

»Ich dachte, du hättest ihm gesagt, er soll sich stündlich melden.« Mason sah zu, wie sein Partner auf die Tastatur einhackte. Er konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren, ging nervös im Büro auf und ab und schüttete dabei viel zu viel Kaffee in sich hinein. Er brannte darauf zu erfahren, was die Mutter gesagt hatte. Ihre Antworten bestimmten vielleicht ihre nächsten Schritte.

»Habe ich auch. Bei seinem letzten Anruf sagte er, er hätte eine Möglichkeit gefunden, auf das Gelände zu kommen. Aber der Handyempfang dort draußen sei miserabel. Es kann also eine Weile dauern, bis wir wieder von ihm hören.«

»Scheiße. Wir hätten ihn nicht mit reinziehen sollen. Wenn ihm etwas passiert …« Mason wollte sich lieber nicht ausmalen, was dann los war. Er zog eine Packung Magensäureblocker aus der Schreibtischschublade. Sie war leer. Verdammt.

»Was soll schon passieren?« Ray warf Mason einen verschwommenen Blick aus seinen geröteten Augen zu. »Er ist bloß in der Südostecke des Staates, Mann. Hast du Angst, ihn könnte eine Schlange beißen?«

Mason schwieg. Er starrte auf sein Diagramm voller sich kreuzender Linien. Er hatte Angst, seinen Job und seine Pension zu verlieren.

»Wow.«

Lacey schaute durch die Windschutzscheibe von Jacks Truck. Etwas so Schönes hatte sie noch nie im Leben gesehen. Als Jack von einer Hütte gesprochen hatte, hatte sie an eine Bretterbude mit Plumpsklo gedacht.

Aber das hier sah aus wie das Feriendomizil eines Millionärs in Aspen. Die riesige »Hütte« war auf drei Seiten von hohen Tannen umgeben, hatte vier Erker und eine umlaufende Veranda. Durch die ganz in Tannengrün und dunklem Holz gehaltene Fassade fügte sie sich harmonisch in die Umgebung ein. Auf dem Dach lag frischer, unberührter Schnee. Das Haus hätte gut auf das Cover des Sunset-Magazins gepasst.

»Die Hütte ist wunderschön.« Lacey spürte einen Klumpen im Magen. Aber einen angenehmen. Sie waren meilenweit von jeder anderen menschlichen Behausung entfernt. Der Schnee rieselte sanft, dunkle Wolken kündigten weitere Schneeschauer an. An einem Ort wie diesem hätte sie leben können. Seine Schönheit ließ sie für einen Augenblick die Sorge um Kelly vergessen. Lacey atmete tief ein und merkte, wie die Anspannung von ihr abfiel. Dass sie sich Sorgen machte, brachte niemanden auch nur einen Schritt weiter.

»Drinnen wird es ziemlich kalt sein«, sagte Jack. »Hier war schon seit einem Monat keiner mehr und der Thermostat steht auf der niedrigsten Stufe. Es dauert eine Weile, bis das Haus warm ist.«

»Gibt es einen offenen Kamin? Können wir ein Feuer machen?« Lacey stellte sich vor, wie sie mit einer dampfenden Tasse heißer Schokolade in der Hand in farbenfrohe Pendleton-Decken gehüllt vor einem lodernden Feuer saß. An Jack gekuschelt.

Augenblick. Unter einer warmen Decke konnte es auch allein ganz gemütlich sein. Wenn sie gemeinsam mit Jack unter eine Decke kroch, würde der es ganz bestimmt nicht beim Kuscheln belassen.

Wollte sie denn überhaupt, dass er es dabei beließ? Sie spürte ein angenehmes Kribbeln im Bauch und seufzte.

Jack hatte gerade stirnrunzelnd zu den Schneewolken hinaufgeschaut. »Ja. Der Kamin ist gigantisch. Ich mache ein Feuer an. Fehlt dir was?«

Lacey beendete ihren Tagtraum und drückte den Rücken durch. »Bin bloß müde.«

»Hast du heute Nacht nicht gut geschlafen?«

Ungläubig sah sie ihm ins Gesicht.

»So gut es eben geht, wenn ein betrunkener Bär einem ins Ohr schnarcht.«

»Ich schnarche nicht.«

»Wollen wir wetten?«

»Ja.« Sein Lächeln verwandelte sich in ein lüsternes Feixen. Lacey lachte auf. Dieses Feixen passte so gar nicht zu ihm. Der letzte Rest Anspannung fiel von ihr ab. Lachend öffnete sie die Tür des Trucks. »Wer zuerst oben an der Haustür ist!« Damit rannte sie los. Hinter sich hörte sie ihn fluchen und die Trucktür aufstoßen.

Sie war vor ihm an der Treppe, nahm immer zwei Stufen auf einmal und warf sich oben gegen die ausladende Doppeltür. Lacey schlug mit den Handflächen auf das dunkle Holz.

»Gewonnen!«

Jack kam eine halbe Sekunde nach ihr an. Jetzt war sie zwischen der Holztür und seiner harten Brust gefangen. Er legte die Hände über ihre. Dann knabberte er spielerisch an ihrem Ohr. Lacey schnappte nach Luft. Das fühlte sich genau an wie gestern Nacht im Bett. Nur dass er diesmal nüchtern und hellwach war.

»Und hier ist dein Preis.« Sein Mund tastete sich über ihren Hals. Zärtlich küsste und knabberte er sich bis zu ihrem Schlüsselbein hinunter. Dann hob er ihr Haar an und seine Lippen wanderten zu ihrem Nacken.

Lacey schmolz dahin. Die Außentemperatur lag deutlich unter dem Gefrierpunkt, aber sie schmolz wie Butter in der Sonne.

»Oh Lacey«, presste er hervor. »Das wollte ich schon so verdammt lang tun.«

Lacey schloss die Augen, atmete tief und lehnte sich an ihn. Die heiße Welle, die ihr Rückgrat hinunterrollte, staute sich zwischen ihren Hüften und spülte jeden letzten Rest Widerstand weg. Genau das wollte sie jetzt. Sie hatte sich eine Pause verdient, eine kleine Flucht aus der realen Welt. Sie wollte nichts mehr spüren außer dem Mann hinter ihr. Als sie den Kopf zu ihm bog, nutzte er die Gelegenheit, um seine Lippen auf ihre zu legen und sie zu sich herumzudrehen.

Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände, zeichnete sanft mit der Zunge die Linie zwischen ihren Lippen nach. Lacey stöhnte auf, öffnete den Mund, schob die Hände in seinen Nacken und fuhr mit den Fingernägeln über seine Kopfhaut. Heiß. Viel zu heiß.

Sie spürte, wie sein Körper sich als Antwort auf die Berührung mit ihren Nägeln anspannte. Seine sanfte Zärtlichkeit wich aggressivem Drängen. Jacks Kuss wurde fordernd. Ohne sich von ihr zu lösen, schob er einen Arm hinter ihren Rücken und den anderen unter ihren Oberschenkel. Er hob sie hoch und drückte sie an die Tür. Als er sie hatte, wo er sie haben wollte, drängte er sich zwischen ihre gespreizten Beine. Seine Erregung war deutlich spürbar.

Und dieser Mann wusste, wie man küsste. Verführte. Anmachte. Laceys Beine schlangen sich fast wie von selbst um seine Hüften. Sie drängte sich an ihn, fühlte, wie ihr Blut zu der empfindlichen Stelle zwischen ihren Beinen strebte. Sie schwelgte in dem, was der Mund mit ihr machte, den sie tagelang angestarrt hatte. Jacks Kuss wurde härter, tiefer. Seine Zunge glitt über ihre. Es war ein himmlisches Gefühl. Ihr war, als wäre sie noch nie zuvor geküsst worden.

War sie auch nicht. Jedenfalls nicht so.

Er küsste sie wie ein Verhungernder. Er hungerte nach ihr.

Und sie wollte alles, was sie kriegen konnte. Mit jeder Faser sehnte sie sich nach ihm, jede Zelle schrie Ja!

Sie spürte, wie er am Bund ihres Pullovers zerrte, ihn anhob. Seine Hand glitt darunter und …

»Aaaah!« Lacey zuckte zurück und Jack fuhr zusammen.

Der Mann mit dem siedend heißen Mund hatte eiskalte Hände.

»Habe ich dir wehgetan? Was ist passiert?«

Er hatte sie beinahe fallen lassen. Der Schreck dämpfte sein Verlangen deutlich.

»Deine Hände sind wie Eiszapfen!«

Er starrte sie ungläubig an. »Und das ist alles?« Er hatte geglaubt, er hätte sie mit seinen Schlüsseln durchbohrt oder einen zarten Teil ihres Körpers zerquetscht. Ihre Beine klemmten noch immer auf seinen Hüften. Jack zog die Hand unter Laceys Pullover hervor. »Besser?«

Sie nickte, doch der wachsame Ausdruck auf ihrem Gesicht sagte ihm, dass sie sich viel zu viele Gedanken darüber machte, was im Augenblick geschah.

»Hör auf zu denken.« Er drückte sie wieder gegen die Tür.

Ihre Mundwinkel kräuselten sich ein wenig. »Dann lenk mich ab.«

Darum musste sie ihn nicht zweimal bitten. Zum Glück. Denn sie hatte diese Ablenkung bitter nötig. Nach all dem Schrecklichen, was geschehen war, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als alle Gedanken an Kelly und die Morde eine Zeitlang zu vergessen. Er stürzte sich auf ihre Lippen, als wolle er sie um den Verstand küssen. Sie öffnete den Mund bei der ersten Berührung und er nutzte die Gelegenheit. Ihre Brustwarzen richteten sich auf. Sie bebte in seinen Armen. Er wollte diesen dicken Pullover loswerden. Nur nicht hier draußen. Jack suchte in seiner Tasche nach dem Schlüssel der Hütte.

»Verdammt. Er muss im Truck sein.«

Er machte Laceys Beine von sich los und stellte sie auf die Füße. Lacey lehnte sich schwer atmend gegen die Tür. »Sag jetzt nicht, du hast die Schlüssel zu Hause vergessen. Sonst erdrossle ich dich.«

Jack bewegte sich rückwärts von ihr weg; ihren Blick ließ er dabei nicht los. »Rühr dich nicht von der Stelle.« Mit ein paar Schritten war er am Truck.

Er balancierte die Macy’s-Tüte und zwei Tüten Lebensmittel in einem Arm, während er mit der freien Hand den Schlüssel ins Türschloss der Hütte bugsierte. Seine Hände zitterten. Herr im Himmel. Er wusste nicht, ob er warten konnte, bis das Feuer brannte, die Heizung lief und die Lebensmittel verstaut waren. Am Ende überlegte sie es sich noch anders.

Jack drückte die Tür auf und schob Lacey ins Haus. Nach zwei Schritten blieb sie wie angewurzelt stehen. Er musste einen Schlenker machen, um nicht gegen sie zu prallen.

»Ich fand die Hütte schon von außen wunderschön. Aber von innen ist sie einfach umwerfend.«

Lacey betrachtete die rustikalen Dachbalken, die die hohe Decke trugen. Der aus Flusssteinen gemauerte offene Kamin reichte bis zum höchsten Punkt des Raumes. Er diente als Raumteiler zwischen der Küche und dem Wohnbereich. Polstersessel und Sofas in warmen Farben sorgten für Gemütlichkeit. Über den Sitzmöbeln hingen Wolldecken mit indianischen Mustern. Jack sah zu, wie Lacey über eine Decke in den Farben eines Sonnenuntergangs strich und dabei etwas vor sich hin murmelte.

»Was hast du gesagt?«, fragte er.

»Pendleton. Das ist eine Pendleton-Decke.«

Er schaute die Decke an. »Ja.« Kurze Pause. »Ist das okay?«

»Perfekt.« Laceys Lächeln war warm, ihre Augen glühten. Sie griff nach den Tüten mit den Lebensmitteln. »Wenn du das Feuer machst, räume ich die so lang weg.« Sie linste in eine der Tüten. »Hast du heiße Schokolade mitgebracht?«

Sie wollte etwas zu trinken? Jetzt? »In der Küche ist welche.«

»Schon wieder perfekt.«

Angetan von ihrem Lächeln sah er zu, wie sie mit den Tüten in die Küche wankte. Hoffentlich konnte sie sich wenigstens für eine Weile entspannen. Mit den langen Streichhölzern vom Kaminsims zündete er einen Stapel Späne und Feuerholz an. Regel Nummer eins in jeder Hütte: Bevor man wieder wegfuhr, reinigte man den Kamin und bereitete alles für das Feuer für den nächsten Besuch vor.

Jack drehte den Thermostat hoch. Und dann noch etwas höher. Lacey sollte nicht frieren, wenn er sie auszog. Leise auflachend hörte er zu, wie sie in der Küche herumkramte.

Und ausziehen würde er sie auf jeden Fall. Bald.