DREIUNDDREISSIG

Es ging ihr gut. Seiner Schwester ging es gut.

Jack setzte sich auf die Gehsteigkante, vergrub den Kopf in den Händen und kämpfte gegen den Schwindel an. Erst der Schock über Laceys Verschwinden, dann die Erleichterung, dass Melody sich nicht mehr in den Klauen des Killers befand – das Gefühlschaos drohte, ihn zu überwältigen. Gleich als er Frank Stevenson aus dem Haus hatte kommen sehen, hatte er gewusst, dass Lacey in höchster Gefahr war.

Er hatte sie allein gelassen.

Die Schuldgefühle nahmen ihm fast den Atem. Warum hatte er nicht darauf bestanden, dass sie mitkam? Warum hatte er keinen Uniformierten als Wächter vor den Truck gezerrt? Rückblickend gab es unzählige Dinge, die er hätte tun können. So wie beim letzten Mal, als er eine Frau im Stich gelassen hatte. Wenn er und Cal damals nur … Wenn. Ja, wenn.

Er hatte Lacey versprochen, er würde sie beschützen.

Aber er hatte kläglich versagt und sie würde dafür vielleicht mit dem Leben bezahlen. Die Wut brannte bitter in seiner Kehle, sein Blickfeld verengte sich. Langsam bis zehn zählen.

In der vergangenen Nacht hatte sie ihn fast um den Verstand gebracht. Diese dickköpfige Frau hatte sich in sein Herz geschlichen und dort eingenistet. Als sie sich geliebt hatten, hatten ihre Augen ihm ein stummes Versprechen gegeben, und seine Augen hatten dasselbe getan.

Eine Zukunft ohne Lacey Campbell wollte er sich schon gar nicht mehr vorstellen.

Er durfte sie nicht verlieren. Er hatte sie doch gerade erst gefunden.

Jacks Magen rebellierte. Er musste gegen den Brechreiz ankämpfen.

Es war ein paar Grad unter null und er saß in einem Schneehaufen und schwitzte, als wäre er im Sprint einen Marathon gelaufen.

Er musste etwas tun.

Die Polizei hatte ziemlich lang gebraucht, um dieses Haus zu finden. Sie hatten nicht noch eine Woche Zeit, um auch Laceys Versteck aufzuspüren. Vielleicht nicht einmal einen Tag.

Jack hörte Stimmen. Niedergeschlagen drehte er sich zu den Detectives um. Callahan sah aus, als würde er demnächst Feuer speien, und Lusco machte ein Gesicht, als wollte er am liebsten um sich schlagen. Die beiden waren gute Männer. Der Fall lag ihnen wirklich am Herzen und sie gaben ihr absolut Bestes, um diesen gerissenen Killer dingfest zu machen. Jack stemmte sich hoch und verzog das Gesicht. Sein Hosenboden hatte sich mit Eiswasser vollgesogen.

Wenn er Lacey finden wollte, musste er sich zusammenreißen.

»Und jetzt?« Er sah zu, wie die Männer um seinen Truck herumgingen und sich das Fahrzeug genau ansahen. Glaubten sie, der Killer hätte einen Pfeil in den Schnee gemalt? Damit sie wussten, in welche Richtung er verschwunden war? Er hatte bereits nachgesehen. Keine erkennbaren Fußabdrücke. Gar nichts.

Lusco zückte sein Handy und einen Bleistift. Callahan trat zu Jack und linste ihn unter der Krempe seines Cowboyhutes hervor prüfend an. Vermutlich versuchte er abzuschätzen, inwieweit er noch zurechnungsfähig war.

»Keine Angst. Diesmal gehe ich nicht in die Knie.« Jack brachte ein dürftiges Lächeln zustande.

Callahan musterte ihn noch einmal eingehend. Dann nickte er. Wirklich überzeugt schien er nicht zu sein.

»Ray überprüft gerade, ob noch andere Immobilien auf den Namen Robert Costar eingetragen sind. So nennt sich unser Mann statt DeCosta. Und Ihren Freund Brody versucht Ray auch zu erreichen. Er soll die alte Frau noch mal befragen. Vielleicht weiß sie, wohin ihr Sohn sich zurückziehen könnte.«

Callahan schnaubte. »Sie muss ihn gewarnt haben.« Seine Lippen waren schmal, den Hut hatte er sich tief in die Stirn gedrückt. »Ihrer Schwester geht es gut. Ihr ist bloß eiskalt und der Schreck sitzt ihr in den Knochen. Wir bringen sie vorsichtshalber ins Krankenhaus. Aber sie sagt, er hätte sie nicht angefasst.«

Jack fuhr sich zittrig durchs Haar. »Und was jetzt?«

»Jetzt warten wir.«

»Verdammt, wir können doch nicht einfach Däumchen drehen.«

»Die Polizei sperrt sämtliche Straßen im Umkreis und überprüft jedes Fahrzeug. Aber ich glaube, dafür ist es schon zu spät. Er hat sie vermutlich sofort hier weggebracht«, sagte Callahan grimmig.

Gemeinsam schauten er und Jack zu, wie Lusco mit dem Handy am Ohr sein halbes Notizbuch vollkritzelte. Jack betete, dass unter den Hinweisen die entscheidende Spur war.

Lusco blickte plötzlich auf, als hätte er Jacks Gedanken gehört. Er nickte. Seine Augen glänzten.

»Es gibt eine weitere Adresse unter dem Namen Robert Costar. Eine einsame Hütte in der Nähe von Lakefield. In dieser Ecke von Oregon kennt unser Junge sich anscheinend gut aus.«

»Lakefield«, sagte Mason.

Dort war Suzannes Skelett gefunden worden. Offenbar schloss sich jetzt der Kreis.

»Ruf die Kollegen in Lakefield an. Die sollen rausfinden, was es über die Hütte rauszufinden gibt. Und ich will dort eine Spezialeinheit haben, nicht bloß ein paar Streifenpolizisten.«

Jack fuhr zu seinem Truck herum. Er berechnete bereits die kürzeste Route nach Lakefield. Die Fahrt würde trotzdem Stunden dauern. Doch als er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, schlug Callahan sie weg. Verdammt, was soll das?

Der Detective sah angepisst aus. Widerwillig, aber eindeutig angepisst. »Sie können jetzt nicht wegfahren.«

»Was?« Jack war nicht zum Scherzen aufgelegt.

»Ihr Wagen ist ein Beweisstück. Der Truck bleibt hier.«

Jack blieb fast das Herz stehen. Beweisstück? Er starrte erst Callahan an, dann Lusco. Lusco nickte.

»Dann fahre ich mit Ihnen.«

Beide Männer schüttelten wie auf Kommando die Köpfe. »Nein.« Callahan beugte sich so weit vor, dass seine Nase beinahe mit der von Jack zusammenstieß. »Sie halten sich da raus. Wenn es etwas Neues gibt, rufen wir Sie an.« Sein Blick sagte Jack, dass Widerspruch zwecklos war. Jack machte den Mund auf und wieder zu, spürte die Wut in seinen Adern kochen und zählte noch einmal langsam bis zehn. Er wollte die Trucktür aufreißen und einfach davonrasen.

Doch er nickte.

Er würde sich etwas einfallen lassen.

Callahan gab ein paar Uniformierten kurze Anweisungen. Dabei zeigte er auf Jacks Truck. Lusco behielt Jack stumm im Auge. Er schien ihm zuzutrauen, dass er sich den Wagen schnappen und wegfahren würde.

Schlaues Kerlchen.

Jack setzte sich wieder auf die Gehsteigkante. Im Moment war er hier so gut wie gestrandet. Mit den Augen suchte er in den Gruppen von Cops, die geschäftig auf der Straße herumliefen, nach dem Gesicht eines Freundes, der ihm vielleicht helfen konnte. Er ging sämtliche Möglichkeiten durch, nach Lakefield zu kommen, und verwarf sie allesamt wieder.

Wie konnte er es schaffen, zu Lacey zu gelangen?

Lacey wachte in der eisigen Dunkelheit auf. Der Schmerz durchzuckte ihren Kopf wie ein Stromschlag. »Verdammt.«

Sie erinnerte sich nicht daran, sich den Kopf angeschlagen zu haben. Aber ihr Schädel pochte höllisch und sie spürte ein Bohren und Stechen in der rechten Schläfe, die gegen den Erdboden pulsierte. Reglos lag sie in der Dunkelheit, blinzelte und versuchte, ruhig zu atmen. Wie war sie … DeCosta. Kampf. Der Lappen auf ihrer Nase. Ihr Körper zitterte, wie von Krämpfen geschüttelt, wehrte sich gegen die Kälte, die aus dem gestampften Lehmboden durch alle Kleider bis tief in ihre Knochen drang.

Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Lacey sah sich um und schluckte. Niedrige Decke, enger Raum. Es roch nach feuchtem Schmutz und kaltem Moder. Durch die Balkendecke des Zimmers sickerten ein paar zuckende Lichtstrahlen. Ein Feuer in einem Kamin. Er hatte sie unter einem Gebäude eingesperrt. Vermutlich unter einem Haus. Angestrengt lauschte sie nach Schritten. Dabei starrte sie sehnsüchtig auf die Schlitze in der Decke, wünschte sich, die Wärme möge von oben zu ihr herunterdringen. Alles blieb still. Ihr Atem stand in Wolken in der Luft. Ihr war so furchtbar kalt.

Bei den derzeitigen Temperaturen dauerte es bis zum Erfrierungstod nicht lang.

Sie musste sich bewegen.

Lacey setzte sich auf und betastete die Fesseln an ihren Fußgelenken. Die Hände hatte er ihr ebenfalls zusammengebunden. Zum Glück nicht auf dem Rücken. Aber sie waren fast taub. Die Finger zu bewegen, tat so weh, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Doch nach und nach kehrte das Blut in ihre Hände zurück.

Sie war so dumm gewesen.

DeCosta. Ihr Entführer war DeCostas jüngerer Bruder, Bobby.

Zu spät war ihr aufgegangen, dass Detective Callahan niemals jemanden schicken würde, der sie in Sicherheit bringen sollte. Aber der Mann war ihr irgendwie bekannt vorgekommen und das hatte sie einen Moment lang verwirrt. Callahans vage Ahnung, wer hinter den Morden stecken könnte, bestätigte sich jetzt. DeCostas kleiner Bruder war erwachsen geworden. Wenn sie nicht so müde und halb krank vor Angst und Schuldgefühlen wegen Melody Harper gewesen wäre, wäre sie vielleicht aufmerksamer und weniger arglos gewesen. Sie blinzelte die Tränen weg und wackelte angestrengt mit den Fingern, um die Taubheit loszuwerden.

Ihr Widerstand hatte nichts genützt. Bobby DeCosta war erstaunlich stark für seine Größe. Das Pfefferspray hatte wieder einmal außer Reichweite in ihrer Handtasche gesteckt, als der Mann ihre Arme gepackt hatte. Sie hatte ihm das Gesicht blutig gekratzt; er hatte aufgeheult und sie geohrfeigt. Der Schmerz veränderte seine Augen. Er sah plötzlich nicht mehr aus wie ein menschliches Wesen, sondern wie etwas, das aus der Wut geboren war.

Lacey zwang sich, die Finger trotz des Schmerzes weiter zu bewegen. Sie biss sich auf die Lippen. Nach einer endlos scheinenden Minute spürten ihre Fingerspitzen den groben Strick, mit der er ihr die Fußgelenke aneinandergefesselt hatte. Die Knoten saßen fest und waren noch dazu aufgequollen, weil ihre Füße in einer Schmelzwasserpfütze gelegen hatten. Beim Versuch, einen der feuchten Knoten zu lösen, riss Lacey sich einen Fingernagel ab. Neue Tränen schossen ihr in die Augen. Sie schnappte scharf nach Luft.

Ihr Kopf dröhnte wie die Bässe in den Lautsprecherboxen eines Teenagers. Eine Gehirnerschütterung? Ihr tat alles weh. Überall. Es war die Art Schmerz, bei der die einzelnen Schmerzquellen sich nicht unterscheiden ließen, weil es so viele davon gab.

Wann würde er zurückkommen? Lacey bewegte die Hände schneller. Er hatte sie noch nicht umgebracht. Und bei Gott, sie würde nicht zulassen, dass er es tat.

Jack mussten sämtliche Sicherungen durchgebrannt sein, als er seinen Truck leer vorgefunden hatte. Erst wurde Melody entführt und dann sie.

Es tut mir so leid, Jack. Das hast du nicht verdient.

Ein Knoten lockerte sich ein kleines bisschen. Lacey stemmte sich gegen den Schmerz und bearbeitete den Strick noch heftiger. Sie würde diese verdammten Fesseln loswerden und einen Fluchtweg finden. Das Schloss an der Tür verschwamm vor ihren Augen. Als sie blinzelte, waren es plötzlich zwei Schlösser. Sie machte die Augen fest zu und dann wieder auf. Nur ein Schloss. Verdammt. Ihr Kopf hatte tatsächlich etwas abbekommen.

Sie atmete tief durch und konzentrierte sich auf ihre Finger. Sie musste hier weg.

Jack und Alex rasten in Alex’ altem Bronco in der einsetzenden Dämmerung den Freeway entlang. Bei diesem Tempo würden sie Lakefield in knapp einer Stunde erreichen. Jack warf einen Blick auf das Navi auf dem Armaturenbrett. Es war ihm gelungen, die Adresse von Luscos Notizbuch abzulesen. Ihr Ziel lag draußen in einer sehr ländlichen Gegend am Rand des Küstengebirges. Dicht bewaldet. Sehr abgelegen. Wenn sie dort ankamen, würde es stockdunkel sein.

Alex’ Truck war zwar alt, aber mit jedem erdenklichen elektronischen Schnickschnack ausgestattet, der das Herz eines Technik-freaks höher schlagen ließ. Jacks Freund hatte keine Sekunde gezögert, als er ihn um Hilfe gebeten hatte. Er wollte nur wissen wann und wo.

Die Tachonadel bewegte sich auf die 95-Meilen/Stunde-Marke zu; Jack klammerte sich ein wenig fester an den Türgriff. Möglicherweise war die ganze Mühe umsonst. Der Killer konnte auf dem Weg nach Mexiko sein. Oder nach Kanada. Im Augenblick setzten sie alles auf eine Karte.

Heute war es so weit. Dave DeCostas Verurteilung jährte sich zum zehnten Mal. Alles, was an Schrecklichem passieren konnte, würde heute passieren. Das stand auf der Karte, die Bobby DeCosta an Lacey geschrieben hatte. Seine genauen Pläne hatte er zwar nicht offenbart, aber sein Ziel war klar.

Erst hatte Jack geglaubt, DeCosta hätte sich Melody geholt, weil sie Laceys Platz einnehmen sollte. Aber jetzt wusste er, dass Melody nur der Köder gewesen war, mit dem er Lacey angelockt hatte.

Und Jack hatte ihm die erhoffte Beute auf einem Silbertablett serviert.

Er würde Lacey zurückholen. Er hatte versprochen, sie zu beschützen, und dieses Versprechen würde er halten. Alles andere war einfach undenkbar. Energisch schob Jack die Bilder einer blutüberströmten schwangeren Frau aus seinem Kopf.

Alex konzentrierte sich stumm auf die glatte Straße. Jack war so mit seinen Gedanken beschäftigt, dass er sein Handy anfangs gar nicht hörte. Dann ignorierte er das Klingeln. Es hörte auf, fing aber gleich darauf noch einmal an.

Er drückte die Lautsprechertaste. »Was ist?«

»Er hat Kontakt aufgenommen.« Callahan setzte die knappe Botschaft mit gepresster Stimme ab.

»Was? Wie?«

»Er weiß, dass wir kommen. Er hat gesehen, wie die Polizei und das Sondereinsatzkommando sich in Stellung bringen, und die Zentrale angerufen. Die haben ihn durchgestellt. Er will verhandeln.«

»Verhandeln? Wie viel brauchen Sie? Ich kann das Geld besorgen. Wie viel verlangt er?« In Jack flackerte ein Funke Hoffnung auf. Geld konnte er auftreiben. Über Geld konnte man reden.

Callahan ließ eine Sekunde vergehen. Dann sagte er: »Er will kein Geld, Harper.«

»Was dann?« Der Funke erlosch.

Alex wich einer gefrorenen Pfütze auf der Ausfahrt nach Lakefield aus. Jack wurde auf seinem Sitz zur Seite geworfen und ließ beinahe das Handy fallen.

»Wo sind Sie grade?« Callahan wechselte das Thema.

»Etwa fünfzehn Minuten hinter Ihnen.«

»Verdammt. Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen wegbleiben. Wenn ich Sie am Einsatzort sehe, reiße ich Ihnen eigenhändig den Arsch auf. Dass Sie uns im Weg rumstehen, fehlt gerade noch. Wenn es sein muss, lasse ich Sie in Handschellen abführen.«

»Wenn er kein Geld will, was dann?« Jack ignorierte die Drohungen.

»Er verlangt einen Austausch. Dr. Campbell gegen Sie.«

»Geht klar«, blaffte Jack ohne Zögern.

Wieder ließ Callahan sich mit der Antwort Zeit. »Das ist gequirlte Scheiße. Er will uns bloß hinhalten. Ich frage mich, wie er auf eine derart idiotische Idee kommt. Er kann sich doch denken, dass wir auf dieser Basis nicht verhandeln.«

»Sie vielleicht nicht. Ich schon.« Jack legte auf.

Alex sah ihn schweigend an.

»Hast du sie mitgebracht?«, fragte Jack.

»Im Handschuhfach.«

Jack öffnete die Klappe. Er kniff den Mund zusammen, zögerte einen Moment und griff dann zu. Die teure Heckler & Koch gab er Alex. Er selbst behielt die Glock. Mit ihrem Gewicht und dem Gefühl einer Waffe in seiner Hand musste er sich erst wieder vertraut machen. Jack versuchte, nicht auf die dumpfe Übelkeit tief unten in seinem Bauch zu achten. Diese Waffe hatte er früher im Polizeidienst getragen und vor Jahren bei Alex deponiert.

Er legte das Magazin ein und lud durch.

Mason starrte ungläubig auf das Display seines Handys. Dort blinkte noch die Gesprächsdaueranzeige für das kurze Telefonat mit Harper. Der Kerl war so besessen von Dr. Campbell, dass seine Denkfähigkeit litt. Bobby DeCosta hatte keinerlei Interesse an Jack Harper. Er spielte nur mit ihnen.

»Was hat er gesagt?« Ray lenkte mit einer Hand und schaute von der Straße zu Mason, als befänden sie sich auf einer vergnüglichen sonntäglichen Spritztour. Früher hatte diese gefährliche Marotte Mason nervös gemacht. Aber inzwischen hatte er sich daran gewöhnt. Rays Blickfeld war phänomenal groß.

»Willst du raten?«

»Er will sich mit wehenden Fahnen ausliefern.«

Mason schnaubte. Hinter Rays bulligem Äußeren verbarg sich ein weiches, romantisches Herz. Und ein Hang zum Kitsch. »Das Sondereinsatzkommando wird ihn nicht durchlassen. Die haben Unterhändler angefordert und bringen gleichzeitig die Scharfschützen in Stellung.«

»Weiß Harper das?«

Mason sah ihn an. »Du glaubst doch nicht etwa, dass er wirklich bis zum Äußersten geht?«

»Hast du nicht gesehen, wie er diese Frau anschaut? Der Mann steckt drin bis über beide Ohren. Er denkt nicht mehr klar. Er würde sich, ohne zu zögern, zwischen sie und eine Kugel werfen.«

»Aber er macht doch wohl keine Dummheiten«, murmelte Mason. Oder doch?

Nach kurzem Schweigen sagte Ray: »Du warst noch nie richtig verliebt, oder?«

Mason verdrehte die Augen. »Ach, halt die Klappe. Das hier ist kein Hollywood-Film.«

Er fummelte an seinem Handy herum und tat, als sehe er den forschenden Blick nicht, mit dem Ray ihn maß. Das Mitleid in Luscos Augen gab ihm einen Stich.

Lacey konzentrierte sich angestrengt auf den Strick um ihre Knöchel. Endlich gelang es ihr, einen der Knoten zu lösen. Das machte ihr Hoffnung für den Rest. Immer wieder musste sie Pausen einlegen. Die Taubheit in ihren Fingern kam und ging. Die Kälte machte ihr furchtbar zu schaffen. Ihre Muskeln krampften, ihre Zähne klapperten und ihr zitterten die Arme. Als wäre es nicht auch so schon schwierig genug gewesen, die Knoten aufzubekommen.

Der Schwindel packte Lacey ganz plötzlich. Sie kippte zur Seite. Obwohl sie versuchte, sich mit den gefesselten Handgelenken abzufangen, schlug sie mit dem Kopf auf dem Boden auf. Der Schmerz in ihrem Schädel steigerte sich um ein Vielfaches und ihr Ellbogen hatte widerlich geknackt. Schwer atmend überlegte sie, ob sie sich etwas gebrochen hatte. Sie holte tief Luft, dann richtete sie sich vorsichtig wieder auf. Der Schmerz schoss wie ein Blitzstrahl durch ihren Arm.

In diesem Moment hörte Lacey ein Rascheln vor der Tür. Vorsichtshalber ließ sie sich zur Seite fallen. Wieder war der Aufprall ihres Kopfes auf dem Boden viel zu heftig. Aber falls der Kerl nach ihr sah, sollte er glauben, sie wäre noch bewusstlos. Das Schloss und die Türklinke klapperten; die schwere Tür öffnete ich langsam und kratzte über den gefrorenen Schnee. Das Geräusch hallte unnatürlich laut durch die arktische Stille. Lacey versuchte, ruhig zu atmen und die Augenlider nicht zu auffällig zuzudrücken.

Entspannt wirken.

So entspannt wie ein eiskalter, gefesselter Körper eben wirken konnte.

»Lacey?«

Sie riss die Augen auf. Die weibliche Flüsterstimme kannte sie nur zu gut. »Kelly?«, krächzte Lacey mit rostig-rauen Stimmbändern.

Eine Taschenlampe flackerte trübe auf. Die Batterien mussten fast leer sein. Kelly legte die Hand über die Lampe, sodass nur ein schwacher orangefarbener Schein über Laceys Gesicht huschte. Dann stürzte sie zu ihr und riss an den straffen Stricken um ihre Knöchel.

Einen Moment lang konnte Lacey sie nur wortlos anstarren.

Kelly trug eine dicke Kapuzenjacke und Stiefel. Die Handschuhe hatte sie sich mit den Zähnen abgezogen, um besser an den Knoten nesteln zu können.

»Kelly! Was machst du hier? Wie hast du mich gefunden? Konntest du fliehen?« Die Fragen stolperten über Laceys vor Kälte ganz lahme Zunge.

»Nein.« Kelly warf einen Blick hinauf zur Decke. »Sei leise«, flüsterte sie.

»Was heißt nein?«, flüsterte Lacey zurück.

»Er hat mich nicht entführt.«

War ihr Gehirn bereits eingefroren? »Er hat dich nicht entführt? Warum bist du dann hier?« Die Erinnerung an den Schmerz, den Lacey bei Kellys Verschwinden empfunden hatte, war noch sehr klar. »Wo warst du? Chris und Jessica kommen fast um vor Sorge um dich.«

Kelly hatte Laceys Fußfesseln schon fast gelöst. Auf ihre Fragen ging sie nicht ein. »Pssst. Wir müssen uns beeilen. Ich hab’s gleich.«

»Kelly.« Lacey schüttelte die gefesselten Beine. Kelly sollte sie ansehen. »Was hat das alles zu bedeuten?« Kelly zog den Strick von Laceys Knöcheln. Laceys Rückgrat prickelte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Eine undeutliche Erinnerung regte sich: Vor dem Gerichtssaal stand eine viel jüngere Kelly. Sie sprach mit einem verschlossenen Jungen mit hängenden Schultern. »Kennst du ihn? Von früher?«

»Gib mir deine Hände.« Kelly wich ihrem Blick aus.

Lacey wollte Antworten haben. Aber der Wunsch, aus diesem Gefängnis herauszukommen, war im Augenblick noch viel größer. Sie streckte Kelly die gefesselten Hände entgegen.

»Verdammt. Der Strick ist nass und aufgequollen. Ich kriege das nicht auf.« Kelly stellte ihren Kampf mit den Knoten schnaufend ein. »Kannst du laufen? Du musst hier weg, bevor er wieder da ist.« Sie rappelte sich hoch und zerrte Lacey grob auf die Füße.

»Autsch. Augenblick.« Lacey schüttelte die Beine und stampfte mit den Füßen, um das Blut wieder zum Fließen zu bringen. Ihre Füße fühlten sich an wie Backsteine. Sie schwankte ein wenig und wollte einen kleinen Schritt machen, um die Balance zu halten.

Es gelang ihr nicht.

Kelly packte sie an Arm und Schulter, damit sie nicht hinfiel. Der Schmerz, der Lacey daraufhin bis ins Handgelenk schoss, trieb ihr die Tränen in die Augen.

»Ich spüre meine Füße nicht.«

»Das wird beim Laufen sicher gleich besser. Wir müssen hier raus!«, drängte Kelly. Sie zerrte Lacey zur Tür. »Komm, Süße.«

Lacey machte vorsichtige kleine Trippelschritte. Wenn sie hinfiel, würde sie sich das Handgelenk brechen. »Ich versuche es ja.« Die Bilder von Angelhaken, die ihr plötzlich vor Augen standen, sorgten dafür, dass sie die Füße schneller bewegte.

»Gut. So ist es besser.« Kellys Stimme klang freundlich und ermutigend. Doch sie zog Lacey hektisch zur Tür.

Lacey schlurfte weiter, versuchte, den unebenen Boden unter ihren Sohlen zu spüren. Kelly schaltete die schwächer werdende Taschenlampe aus. »Wir müssen die Batterien schonen. Ich weiß, wohin wir gehen können.«

»Wohin denn, Kelly?«, fragte eine männliche Stimme drohend.

Die Frauen erstarrten. Lacey spürte, dass Kellys Hände zitterten. Die Umrisse der männlichen Gestalt erschienen in der dunklen Türöffnung. Im schwachen Licht, das der Schnee reflektierte, sah Lacey sein dunkles Haar.