DREIUNDZWANZIG

Jack sah zu, wie Lacey telefonierte. Aus ihrem Teil des Gesprächs schloss er, dass sie sich Sorgen um eine Freundin machte. Wer waren Chris und Kelly? Verdammt, über ihren Freundeskreis wusste er so gut wie nichts. Er kannte nur den Reporter am anderen Ende der Stuhlreihe. Überhaupt wusste er viel zu wenig über Lacey Campbell. Das musste sich dringend ändern. Aber jedes Mal, wenn sie zusammen waren, passierten völlig irre Dinge. Gestern Abend hatte alles ganz gut angefangen. Bis ihr selbsternannter, vorlauter Bodyguard die Klappe aufgerissen hatte und Jack der Kragen geplatzt war.

Ja, schön. Er besaß ein Apartment in Mount Junction. Na und? Er fuhr Ski. Seine Schwester auch. Melody nutzte die Ferienwohnung sicher zehnmal häufiger als er. Ihr Vater hatte sie vor vielen Jahren für die Skiausflüge der Familie gekauft, aber Brody drehte diese Tatsache jetzt so hin, dass ihn das verdächtig machte.

Man suchte krampfhaft nach Verbindungen zwischen den neuen Morden und alten Fällen in Mount Junction. Aus dem Augenwinkel warf Jack einen Blick auf Brody. Der verfolgte konzentriert Laceys Telefongespräch. Vermutlich wusste er genau, über wen sie redete. Sicher waren alle Details, die Jack unbedingt erfahren wollte, für ihn längst ein alter Hut. Welche Sorte Eiscreme aß sie am liebsten? Welche Musik hörte sie gern?

Jack sah, wie Callahan sich Laceys Handy schnappte und selbst mit dem Anrufer sprach. Plötzlich fing Lacey an zu schwanken. Ihre Knie knickten weg. Jack war mit einem einzigen Sprung an ihrer Seite. Doch der Detective stand näher bei ihr. Mit einem beherzten Griff nach ihren Armen verhinderte er, dass sie hinfiel. Dabei entglitt ihm das Handy. Es knallte auf den Boden und zerbrach. Plastikteile und der Akku schlitterten durch den Raum. Jack schob die Arme unter Laceys Schultern und Knie und hob sie mühelos hoch. Brody war ebenfalls aufgesprungen und nur einen Sekundenbruchteil nach Jack bei Lacey. Er streckte die Hände nach ihr aus, doch Jack schleuderte ihm einen eisigen Blick entgegen.

»Lass das. Setz mich ab.« Dass ihre Stimme so ruhig klang, machte Jack fast noch besorgter.

»Was ist passiert?« Jacks Frage war an Callahan gerichtet, der dem Beamten am Empfangstisch des Foyers im Befehlston Anweisungen gab. »Was haben Sie zu ihr gesagt?«

»Nichts.« Callahan war mit seinen Anweisungen noch nicht fertig. Jack musste warten. Schließlich sagte Callahan: »Eine ihrer Freundinnen ist verschwunden. Wahrscheinlich hat unser Mann sie.« Callahan drehte sich weg und wählte auf seinem eigenen Handy eine Nummer.

Jack ließ Lacey beinahe fallen. »Was? Wer?« Vorsichtig stellte er sie auf die Füße und drehte sie zu sich. Er hob ihr Kinn an, dann sah er ihr forschend in die Augen. »Was ist passiert? Wer ist weg?«

Lacey war blass. Die halbmondförmigen Schatten unter ihren Augen zeigten, wie müde sie war. »Kelly. Sie ist verschwunden. Ihr Mann war am Telefon. Er kann sie nirgends finden und sie ist schon seit gestern Abend nicht mehr da.« Laceys Augen füllten sich mit Tränen. »Kelly war auch Zeugin beim Prozess, aber ihre Aussage war nicht wirklich wichtig. Sie konnte nur beschreiben, wie sie mich gefunden hat«, flüsterte Lacey.

»Dich gefunden? Wo? Wann?« Jack schüttelte sie sanft an den Schultern. Ihre Augen blickten verschwommen durch ihn hindurch.

»Danach.« Mehr sagte sie nicht.

»Kelly war die Turnerin, die kurz nach Suzannes Entführung an die Stelle kam, an der Lacey lag«, erklärte Brody leise. Er sammelte die Einzelteile des Telefons vom Boden auf und setzte es mit ein paar geschickten Handgriffen wieder zusammen. Michael war schlau genug, in Jacks derzeitiger Verfassung die Hände von Lacey zu lassen.

»Dieses Mädchen war in der Nacht damals auch dabei?« Eine weitere Beteiligte am DeCosta-Prozess war verschwunden?

»Kelly hat nur Lacey am Boden liegen sehen. Blutend. Sonst nichts«, sagte Brody.

Lacey hatte Jack davon erzählt. Von dem gebrochenen Bein. Dem zerschlagenen, blutigen Gesicht.

Als Brody von dem reparierten Handy besorgt zu Lacey schaute, sah Jack, wie wütend er war. Vermutlich dachten sie beide dasselbe: Lacey befand sich in höchster Gefahr. Brody machte den Eindruck, als wollte er sie am liebsten den Flur entlangschleifen und in eine Zelle sperren.

Gut. Vielleicht konnten sie die Frau gemeinsam zur Vernunft bringen.

Verdammt. Verbündete er sich etwa gerade mit der Konkurrenz? Jack musste sich eingestehen, dass er im Moment sogar mit einem Terrorkommando zusammengearbeitet hätte, um Lacey zu beschützen.

Callahan fing Jacks Blick auf und machte eine Kopfbewegung.

Jack setzte Lacey auf einen Stuhl, kniete sich vor sie und rieb ihre eisigen Hände. »Ich bin gleich wieder da. Ich muss mit Callahan sprechen.« Lacey nickte stumm. Als Jack aufstand, glitt Michael auf den Stuhl neben ihr. Wachablösung. Fliegender Wechsel. Wegen des Reporters konnte Jack sich im Augenblick keine Gedanken machen. Wenn er nicht selbst auf Lacey aufpassen konnte, war Brody eine akzeptable Alternative.

»Was ist los?« Callahans Gesichtsausdruck gefiel Jack ganz und gar nicht.

Callahan zog ihn so weit in den Flur, dass Michael und Lacey außer Hörweite waren. »Ich wollte ihr gerade zeigen, was wir dem jungen Hausmeister abgenommen haben, aber da kam schon der Anruf, und sie ging in die Knie.« Der Detective zog einen Plastikbeutel aus der Tasche und gab ihn Jack. »Ich glaube nicht, dass ich ihr das jetzt auch noch unter die Nase halten sollte. Im Augenblick hat sie schon genug zu verdauen.«

Jack strich den Beutel glatt. Er enthielt eine Karte und einen kleinen Briefumschlag. Auf den Umschlag stand in Blockschrift »LACEY«. Die Karte war mit dem Bild von einem Strauß zarter gelber und blauer Blumen verziert, die Jack an die Farben in ihrer Küche erinnerten.

»Ich denk an dich …« stand in Prägeschrift unter den Blumen. Stirnrunzelnd und mit einiger Mühe klappte Jack die Karte im Beutel auf. »Ich habe eine besondere Feier für uns beide geplant«, las er. »In zwei Tagen werden wir voller Bedauern seinen Jahrestag begehen. Gemeinsam.«

Jacks Lippen wurden schmal, seine Fingerknöchel traten weiß hervor. »Seinen Jahrestag? Um welchen Jahrestag geht es hier?«

»In zwei Tagen jährt sich DeCostas Verurteilung wieder mal«, erklärte Callahan.

»Und das haben Sie Sean abgenommen?«

»Ja. Er behauptet, er hätte vor Dr. Campbells Haus auf sie gewartet, weil er sich Sorgen machte. Der Vorfall in der Uni hat ihn ziemlich mitgenommen. Bei der Befragung wiederholte er immer und immer wieder, Dr. Campbell sei in Gefahr.« Callahan schüttelte grimmig den Kopf. »Als ich ihm sagte, dass Frank Stevenson auf freien Fuß gesetzt wurde, geriet er völlig außer sich. Wir konnten ihn nur mit Mühe wieder beruhigen.«

»Sean sagte, sie sei in Gefahr?« Jack sah rot. Lacey hatte sich mit dem Jungen angefreundet und jetzt sah es so aus, als wäre er das eigentliche Problem.

Der Detective nickte. »Er sagte, ein Mann hätte ihm die Karte gegeben, als er vor Dr. Campbells Haus gewartet habe. Der Mann sagte Sean, er müsste ihr die Karte unbedingt aushändigen und er solle gut auf Dr. Campbell aufpassen. Sonst könnte ein böser Mann der Zahnärztin etwas antun.«

Jacks Kopf schnellte hoch. Er sah Callahan in die Augen. »Glauben Sie, Sean sagt die Wahrheit?« Sean war nicht derjenige, den sie suchten?

Callahan holte Luft und kniff die Lippen zusammen. »Falls er lügt, müsste er ein verdammt guter Schauspieler sein. Mit seinem IQ ist es nicht weit her. Ich glaube, er hat tatsächlich Angst um Dr. Campbell.«

Jack schnappte nach Luft. Die eigentliche Bedrohung für Lacey lauerte immer noch irgendwo da draußen.

»Konnte er den Kerl beschreiben?«

»Es war ein Mann.«

»Und das ist alles?« Jack sah Callahan ungläubig an. Sie hatten einen Augenzeugen und keine bessere Beschreibung?

»Ein Mann mit einer Mütze.«

»Na prima.« Jack betrachtete die Karte. Von außen wirkte sie so unschuldig. Und innen war sie tödlich. »Auf Fingerabdrücke haben Sie das Ding sicher untersuchen lassen.«

»Außer denen des Jungen auf dem Umschlag haben wir nichts gefunden.«

»Ich glaube, er ist gar kein Junge mehr.«

»Ja, das stimmt. Ich schätze ihn auf Ende zwanzig. Er wirkt nur ziemlich jung.«

»Die Nachricht in der Karte gefällt mir nicht.« Jack atmete tief durch. Am liebsten wollte er sie samt Umschlag und Beutel zerreißen. »Dieses Arschloch plant in zwei Tagen ein großes Finale. Mit Lacey als Ehrengast.« Hinter den oberflächlich kühlen Augen des Cops sah Jack brodelnde Wut.

»Das denke ich auch. Ich wüsste nur gern, warum er uns seinen nächsten Schritt so deutlich ankündigt.«

»Das könnte eine Finte sein.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Der Detective starrte Jack an. »Sollen wir abwarten und herausfinden, wer recht hat?«

»Sie muss dringend hier weg.«

»Sehe ich auch so. Sorgen Sie dafür.«

Jack brachte es nicht fertig, Lacey von der Karte zu erzählen.

Aus einiger Entfernung sah er wortlos zu, wie Brody und Lacey sich verabschiedeten. Überraschenderweise gab es ihm keinen Stich, als Brody sie auf die Stirn küsste und für fünf lange Sekunden an sich zog. Die Botschaft auf der Karte hatte seine Eifersucht betäubt. Er war zu wütend, um sich über Brody zu ärgern.

Mit der Nachricht bestätigte der Killer, dass Lacey auf seiner Liste stand. Verdammt, der Kerl wurde immer dreister. Jack schüttelte den Kopf. Nein. Das war er von Anfang an gewesen. Dieser Psycho war in Laceys Haus eingebrochen und hatte den Ring gestohlen. Danach hatte er es gewagt, Suzannes Ring in Laceys Laborkittel in der Uni zu schmuggeln. Der Mann strotzte vor Selbstbewusstsein. Vor Arroganz.

Die Selbstüberschätzung konnte ihm das Genick brechen.

Jack war klar, dass er Lacey eigentlich von der Karte erzählen sollte. Aber die Sache mit Kelly musste ihr doch zeigen, in welch großer Gefahr sie sich befand. Wenn sie das nicht sah, war sie wirklich blind.

Auf keinen Fall würde er sie noch einmal zu ihr nach Hause bringen. Wenn sie irgendetwas brauchte, würde er es ihr kaufen. Er konnte einen Katzensitter damit beauftragen, sich um ihren Stubentiger zu kümmern, aber Lacey würde er nicht mehr aus den Augen lassen.

Jetzt musste sie nur noch Ja sagen.

Und wie standen die Chancen dafür? Er schüttelte den Kopf.

Brody musste noch einmal nach Mount Junction. Er wollte dort noch weitergraben. Die Karte hatte er gesehen und Callahan hatte sie fast mit Gewalt wegziehen müssen, damit er sie nicht in Stücke riss. Brody sagte Jack und Callahan, dass das Ufergrundstück in Mount Junction den Eltern von Laceys Exmann gehörte, und erzählte kurz, was er bislang über die Umstände von Amy Smiths Tod wusste. Die Tatsache, dass die Stevensons in Mount Junction ein Stück Land besaßen, machte alle irgendwie stutzig, und Brody wollte sich unbedingt noch mit Amys Eltern treffen. Jack und Brody besprachen in knappen Worten, wie sie Lacey schützen konnten. Sicher würde sie auf den Plan, dass Jack in den nächsten Tagen regelrecht an ihr kleben würde, wütend reagieren. Dabei konnten aus den Tagen sogar Wochen werden. So lang es eben dauerte, bis der Wahnsinnige gefasst war.

Jack sah zu, wie der Reporter sich nach einer letzten Umarmung von Lacey löste. Bevor Brody auf den verschneiten Gehsteig hinaus trat, warf er Jack einen langen, eindringlichen Blick zu. Jack starrte zurück.

Brody überließ ihm einen wertvollen Schatz und er schwor stumm, dass dieser Schatz während seiner Schicht als Wachhabender unversehrt bleiben würde.