FÜNFZEHN
Der Latte passte ihm ganz und gar nicht. Er war ihm nicht süß genug. Einen Becher hatte er bereits umgetauscht. Die Barista hatte den Kaffee verbrennen lassen und er bekam den widerlichen Geschmack nicht mehr von der Zunge. Sie hatte ihm einen neuen hingestellt und einen Gutschein für einen Gratislatte beim nächsten Besuch dazugelegt. Immerhin hatte sie sich um die Reklamation gekümmert. Egal, was man tat – man sollte es richtig machen.
Während er wartend an dem kleinen Tisch saß, hüpfte sein Knie auf und ab. Er ließ den Blick über die anderen Gäste schweifen und summte mit der Musik aus den Lautsprechern mit, bis er merkte, dass Willie Nelson sang. Er hasste Countrymusik. Sie erinnerte ihn immer an seinen Vater.
Das Wetter war klar und sonnig, doch die Temperaturen lagen deutlich unter null Grad. Am schlimmsten war der Wind. Er war so eisig und schneidend, dass einem draußen innerhalb von fünf Sekunden die Nase zufror. Nur ganz Hartgesottene wagten es, auf den spiegelglatten Straßen herumzufahren.
Ihm machte das Fahren bei Schnee und Eis nichts aus. Er kannte solches Wetter aus seiner Kindheit und Jugend. Doch für diese Stadt waren derart lange Kälteperioden eher ungewöhnlich. In einem typischen Portland-Winter reichte ein guter Zentimeter Neuschnee, um das Leben komplett lahmzulegen. Innerhalb kürzester Zeit waren dann aufgrund von Unfällen sämtliche Freeways verstopft. Die Bewohner von Portland hatten keinen Schimmer, wie man auf Schnee einen Wagen lenkte. Zum Glück hatte er lang an Orten gelebt, wo Autofahren bei solchen Bedingungen etwas ganz Alltägliches war.
Ob Lacey sein Geschenk wohl gefiel? Zunächst hatte er den Clip mit ihr und Harper gar nicht anhängen wollen. Aber dass der Mann sie geküsst hatte, machte ihn stinksauer.
Und eifersüchtig.
Diese Frau löste völlig unerwartet irgendetwas in ihm aus.
Und was jetzt? Was bedeutete das für seinen Plan? Er spielte im Kopf die Alternativen durch. Nachdenklich nippte er an dem heißen Kaffee. Lacey war in seinem Masterplan schon immer eine nicht ganz eindeutige Variable gewesen. Über ihr Schicksal hatte er nicht gleich zu Anfang entschieden. Er runzelte die Stirn. Für jeden anderen hatte er jeden einzelnen Schritt ebenso detailliert wie unverrückbar festgelegt. Warum nicht für sie?
Hatte er im Unterbewusstsein schon immer geahnt, dass sie etwas Besonderes war?
Auch Suzanne war etwas Besonderes gewesen. Das wehmütige Lächeln, das über seine Züge huschte, veranlasste die attraktive Frau am Nebentisch dazu, ihn anzulächeln. Sie versuchte, Blickkontakt herzustellen. Doch er ignorierte sie und schaute aus dem Fenster. Es gab noch einiges zu bedenken und er musste sich konzentrieren.
Den alten Film hatte er sich seit Jahren nicht mehr angesehen und jetzt hatten ihm die Bilder die Kehle zugeschnürt. Suzanne war so hinreißend gewesen, war aufgeblüht, als das Kind in ihrem Bauch gewachsen war. Sie war die Auserwählte unter all den Mädchen. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er mit den Händen über ihren schwangeren Bauch gefahren war und die Tritte des Kindes gespürt hatte. Suzanne töten zu müssen, hatte ihn furchtbar geschmerzt. Beinahe hätte er es sich anders überlegt, aber er hatte keine andere Wahl gehabt. Ihr ganzes Leben lang hätte sie gekämpft und versucht, ihm zu entkommen. Das konnte er nicht zulassen. Deshalb musste sie das Schicksal der anderen teilen.
Egal, was man tat – man sollte es richtig machen.
Er zwang sich, weiter über sein aktuelles Problem nachzudenken. Lacey Campbell. Einen Augenblick lang malte er sie sich an Suzannes Stelle aus. Auf dem klapprigen Bett, mit dickem Bauch. Sein Inneres zog sich zusammen. Konnte er so etwas noch einmal riskieren?
Diesmal gelang es der Frau am Nebentisch, seinen Blick aufzufangen. Sie lächelte noch einmal. Er starrte in seinen Kaffee, wollte sie nicht ermutigen. Früher hatten Frauen sich immer abgewandt. Als Teenager war er ein dürrer Schlaks gewesen. Zahnklammer, Pickel, Brille. Er hatte sehr darunter gelitten.
Doch inzwischen achtete er sehr auf sein Äußeres. Seine Kleider waren ordentlich gebügelt, sein Haar gut frisiert und die Zähne frisch gebleicht. Es gab keinen Grund, auszusehen wie ein Penner. Nur schade, dass er an seiner Größe nichts ändern konnte. Auf der Highschool hatte ihn der Football-Coach einmal im Flur angehalten, ihn von oben bis unten gemustert, über seine Größe den Kopf geschüttelt und gesagt: »Zum Glück hast du was in der Birne.«
Der Mann wusste ja nicht, wie recht er hatte.
Der Football-Coach hatte nie erfahren, wer sich während des Homecoming-Spiels mit einem Baseballschläger über die Scheinwerfer seines geliebten Firebirds hergemacht hatte.
Etwas konsequent durchzuziehen war sehr wichtig.
Die erste Tötung eines Menschen war ein Desaster gewesen, doch er hatte sich gezwungen, die Sache zu Ende zu bringen. Ihm war nicht klar gewesen, dass Menschen sich viel verbissener wehrten als Tiere. Keine Spezies hatte einen ausgeprägteren Lebenswillen als der Mensch. Davon hatte er sich einige Male überzeugen können und dann nie mehr den Fehler gemacht, die ausgewählte Person zu unterschätzen. Er blieb stets auf der Hut, hatte immer alles im Griff.
Nicht wie Ted Bundy. Bundy hatte am Ende die Kontrolle verloren und war zum Opfer seiner eigenen Schwäche geworden. Der Mann war zu dreist gewesen, hatte geglaubt, man könnte ihn nicht erwischen, und wenn, dann gäbe es kein Gefängnis, das sicher genug für ihn wäre. Zweimal war ihm die Flucht gelungen, und vor seiner Hinrichtung in Florida hatte er einen dritten Fluchtversuch geplant. Bundy war topfit und mit gebräunter Haut gestorben. Er hatte Selbstbräunungslotion benutzt und regelmäßig trainiert. Vermutlich hatte er fliehen und sich unter die sonnenverwöhnten Bürger Floridas mischen wollen. Es war ihm nicht gelungen.
Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Dabei dachte er über sein eigenes Ende nach. Zwar konnte er sich das Finale nicht bis ins letzte Detail vorstellen, doch die Menschen sollten erkennen, dass er es minutiös vorbereitet hatte. Er gierte danach, angehimmelt und bewundert zu werden. Das musste doch möglich sein. Aber um sich im Rampenlicht zu sonnen, musste er die Öffentlichkeit suchen. Nur – wie sollte er das machen, ohne dabei verhaftet zu werden? Versonnen kaute er an seiner Lippe und starrte hinaus in den Schnee. Er konnte ein Geständnis ablegen und dann Selbstmord begehen. Damit würde er der Welt zeigen, dass er ein Genie war und gleichzeitig der Gefängnishölle entgehen. Er kannte ein halbes Dutzend Möglichkeiten, sich ohne Hilfsmittel umzubringen.
Das Gefängnis machte ihm Angst. Tod und Selbstmord nicht. Der Tod war ihm schon oft begegnet und schien recht friedlich zu sein. Wenn seine Opfer den magischen Ort jenseits des materiellen Seins erblickten, trat Gelassenheit auf ihre Züge. Was sahen sie dort? Was wartete auf sie?
Die Vorstellung vom Tod beunruhigte ihn nicht. Nur der Dreck störte ihn. Der Tod war widerlich, übelriechend, unhygienisch.
Er musste noch weiter an den Feinheiten seines Plans feilen.
Er warf einen Blick auf die Kaffeetassen-Uhr an der Wand. Fünf Minuten würde er noch warten. Länger nicht.
Gelangweilt schaute er zu der Frau hinüber, versuchte, sie mit der Kraft seiner Gedanken dazu zu bringen, ihn noch einmal anzusehen. Sie tat es. Ihre rechte Augenbraue hob sich ein wenig, ihr Gesichtsausdruck war offen und warm. Im Grunde war sie recht anziehend. Er musterte sie eingehend. Vielleicht ein wenig älter als er es gern hatte, aber sehr gepflegt. Das war wichtig. Nur ihr braunes Haar gefiel ihm nicht. Sie sollte blond sein. Kokett warf sie die dunklen Locken mit der Hand über die Schulter. Er fixierte diese Hand. Ein Ehering.
Angewidert sah er beiseite. Untreue Ehefrauen ekelten ihn an. Jetzt hatte er endgültig lang genug gewartet. Ohne auf den fragenden Blick seiner Bewunderin zu achten, stand er auf. Auf dem Weg zur Tür ließ er den fast vollen Kaffeebecher in den Mülleimer fallen und zog wegen des kalten Windes draußen seinen Mantel fester um sich. Höflich hielt er dem Mann, der gerade hereinkam, die Tür auf, sah zu, wie er den Schnee von den Stiefeln stampfte, und grinste über sein Glück.
Genau das Opfer, auf das er gewartet hatte. Heute war der Unglückstag dieses Kerls.