ZEHN

Mason Callahan hatte einen Blick dafür, wo tatsächlich das große Geld saß. Bei diesem Harper zum Beispiel. Die Büroräume von Harper Immobilien waren in dem unaufdringlich dezenten Stil gehalten, der erfahrungsgemäß ein Vermögen kostete.

Die typischen Farben des Nordwestens bestimmten das Design: kräftige Grau- und Blautöne, dazu erdige Braunnuancen mit tannengrünen Akzenten. Die Räumlichkeiten posaunten den Erfolg der Firma nicht lautstark hinaus – sie raunten nur leise. Selbst Ray hatte es für dreißig Sekunden die Sprache verschlagen. Mit offenem Mund sah er sich um, während sie darauf warteten, dass Jack Harper ihnen ein paar Minuten seiner wertvollen Zeit widmete.

Schon die Aussicht war atemberaubend. Mit dem Cowboyhut in den Händen sah Mason aus den Ostfenstern des Konferenzzimmers und fragte sich, ob Harper dem Mount Hood befohlen hatte, für seine Gäste zu posieren. Wie aus Kristall geformt erhob sich der eisige Gipfel stolz hinter der Stadt. Beim Anblick des klaren blauen Himmels glaubte man kaum, dass die Temperatur draußen deutlich unter dem Gefrierpunkt lag.

Harper öffnete die Tür. »Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Was kann ich für Sie tun? Rückt die Hausverwaltung in Lakefield alles heraus, was Sie für die Ermittlungen brauchen?« Noch während er redete, schüttelte er die Hände beider Männer, ging um den Tisch und schenkte drei Tassen Kaffee ein – und das alles, ohne dabei nervös zu erscheinen. Der Mann dominierte einen Raum allein, indem er ihn betrat.

Effizient war das Wort, das Mason spontan dazu einfiel. Und selbstbewusst. Er nahm die Kaffeetasse entgegen, musterte Jack Harper und musste sich widerwillig eingestehen, dass ihm gefiel, was er sah. Der direkte Blick des Mannes wirkte aufrichtig, seine Ausstrahlung war freundlich, aber nicht anbiedernd.

Mason und Ray hatten sich alle Mühe gegeben, sämtliche Winkel von Harpers Vergangenheit auszuleuchten. Jeder, mit dem sie sprachen, lobte ihn in den höchsten Tönen. Von ein paar Exfreundinnen abgesehen, was aber kaum verwunderlich war. Etwas beunruhigend war allerdings, dass sie unter jedem Stein, den sie umdrehten, jeweils eine weitere Verbindung zwischen Harper und DeCosta oder Harper und einem anderen Aspekt des Falles entdeckten, der immer komplexer wurde.

Selbst wenn das nicht automatisch bedeutete, dass Harper etwas mit den Verbrechen zu tun hatte, mussten sie ihm auf den Zahn fühlen.

Den Anfang machte Ray. »Der Hausverwalter ist sehr kooperativ. Ich glaube, er will auf keinen Fall Krach mit Ihnen. Jedenfalls liest er uns jeden Wunsch von den Augen ab.« Ray schnaubte. »Er hat mir sogar einen guten Deal für die Reparatur der Beule in meinem hinteren Kotflügel angeboten.«

Harper grinste kurz. »Sein Bruder hat eine Karosseriewerkstatt. Guter Mann, übrigens. Ich bringe meinen Wagen auch dorthin.«

Mason sah, wie Ray einen Schluck von dem brühendheißen Kaffee nahm und erfolglos zu verbergen versuchte, dass er sich gerade die Zunge verbrannt hatte. Trotzdem gelang es ihm, eine weitere Frage zu stellen. »Wir wüssten gern, was Sie an dem Morgen, an dem das Skelett gefunden wurde, in Lakefield gemacht haben. Eigentlich wohnen Sie doch in Portland. Korrekt?«

Harpers Blick verschloss sich. »Ich habe meinen Vater besucht. Er wohnt in der Nähe des Mietshauses. Am Wochenende bin ich öfter dort.«

»Wir konnten die Adresse Ihres Vaters in keinem öffentlichen Verzeichnis finden. Jacob Harper? Richtig? Wohnt er zur Miete?«

»Nein. Oder irgendwie schon.« Harper trat ans Fenster und betrachtete den Berg. »Er lebt in einer Pflegeeinrichtung für Erwachsene.«

»Wie bitte?«

Harpers Gesicht spiegelte sich im Glas. Mason glaubte, darin Ungeduld und Irritation zu erkennen. »Mein Vater wird in einer kleinen privaten Wohngruppe betreut, die ältere Menschen mit besonderem Pflegebedarf aufnimmt. Er wohnt dort mit vier anderen Männern und ein oder zwei Betreuern zusammen.« Harpers Ton klang steif.

Ray wurde rot. Er machte den Mund auf und wieder zu. Diese offensichtlich ziemlich persönliche und ziemlich schmerzhafte Erklärung schien ihn zu überrumpeln. Mason übernahm.

»Ich dachte, Ihr Vater sei nach wie vor in der Firma aktiv.«

Jack schüttelte den Kopf. »Sein Name steht noch auf dem Briefkopf. Das ist alles. Er erinnert sich nicht mehr daran, dass er die Firma gegründet hat, und kann keine Entscheidungen mehr treffen.«

»Alzheimer?«

Harper drehte sich zu Mason und starrte ihm voll ins Gesicht. »Ja. Und meistens weiß er nicht mal mehr, dass er einen Sohn hat.«

»Das muss ziemlich hart für Sie sein. Beschissene Krankheit.«

Eine von Harpers Brauen hob sich fast unmerklich. »Haben Sie noch andere Fragen?«

»Was können Sie uns über Hillary Roske erzählen?«

»Wir hatten ein paar Dates. Und wir haben uns getrennt. Lang bevor sie verschwand. Haben Sie heute Morgen keine Zeitung gelesen?«

Ray tat, als würde er etwas in sein kleines Notizbuch schreiben – so als hätte Harper gerade ein wichtiges Detail preisgegeben. Harpers Vergangenheit wurde heute auf der Titelseite ausgebreitet. Der Artikel gab sämtliche Fakten akkurat wieder, die auch Mason vorlagen.

»Wissen Sie noch, was Sie in der Nacht von Suzanne Mills’ Entführung getan haben oder mit wem Sie zusammen waren?«

Harpers sah in ungläubig an. »Das ist nicht Ihr Ernst, oder? Das ist jetzt über zehn Jahre her! Erinnern Sie sich vielleicht noch, mit wem Sie in der Nacht zusammen waren?«

»Geben Sie uns einen Namen. Einen Mitbewohner oder eine Freundin – irgendjemanden, mit dem Sie damals viel Zeit verbracht haben.« Mason ließ nicht locker.

»Mein damaliger Mitbewohner hieß Dave Harris. Er lebt jetzt in Bend.«

Diesmal machte Ray sich tatsächlich eine Notiz.

»Soweit ich weiß, haben Sie wegen dieses Falls Kontakt mit Dr. Campbell aufgenommen. Anscheinend ist Ihnen bekannt, dass sie vor elf Jahren nur mit knapper Not einer Entführung entgangen ist.«

»Ja? Und? Was hat sie Ihnen gesagt?« Harper drückte den Rücken durch. Er musterte die Detectives mit einem abwehrenden Blick.

»Wir haben seit Samstag nicht mehr mit ihr gesprochen. Unsere Informationen stammen aus einer anderen Quelle.«

Ray blickte von seinem Notizbuch auf; beide Detectives sahen Harper an. Die kleine Doktorin schien den Mann nicht kaltzulassen. Im Gegenteil: Als Mason sie erwähnt hatte, war Harper beinahe ins Schwitzen geraten. Die Detectives tauschten einen Blick aus. An dieser Stelle würden sie weiter bohren.

»Wie haben Sie erfahren, dass sie diejenige war, die DeCosta entkommen ist? Ihr Name stand nie in der Zeitung.«

Harper stützte die Hüfte gegen den Konferenztisch. Keiner der Männer hatte sich gesetzt. »Sie waren am Samstag doch auch in Lakefield und haben gesehen, wie sie reagiert hat, als die Überreste ihrer Freundin gefunden wurden. Bei der Polizei dort kursiert das Gerücht, sie sei damals diejenige gewesen, die entkommen konnte. Dass das nie in der Zeitung stand, überrascht mich. Alles andere hat der Reporter, der sich mit der Sache beschäftigt, bis ins letzte Detail breitgetreten.«

»Brody?«

»Ich glaube, so heißt er.«

»Der Mann ist eine Nervensäge. Schnüffelt überall herum und will sein Geschreibsel am liebsten immer auf der Titelseite sehen.«

»Was Sie nicht sagen. Mein ganzes Leben war in den letzten fünf Tagen dort nachzulesen. Langsam nehme ich das persönlich. Der Kerl ist vermutlich stinksauer, weil ich seine Fragen nicht beantworte.«

»Möglicherweise ist er vor allem neugierig. Immerhin waren Sie mit einem Opfer des College-Girl-Killers zusammen. Zudem gehört Ihnen das Gebäude, unter dem die Überreste eines anderen Opfers gefunden wurden – und zwar zusammen mit der Dienstmarke eines ermordeten Cops, der früher mal Ihr Partner war.« Mason musste Luft holen. Er war gespannt auf Jack Harpers Reaktion.

Harpers Unterkiefer spannte sich an. »Falls Sie noch einmal mit mir reden wollen, hätte ich gern meinen Anwalt dabei.« Er stieß sich vom Tisch ab und ging zur Tür. »Wir sind hier fertig.«

Er ließ die beiden Männer stehen und marschierte in den Flur.

»Begleiten Sie die Herren bitte hinaus«, warf er ärgerlich über die Schulter, als er am Tisch der Empfangsdame vorbeistapfte. Die Frau riss die Augen auf und ging so zögerlich zum Konferenzzimmer, als fürchtete sie, dort zwei Leichen vorzufinden.

Jack musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht laut mit der Bürotür zu knallen. Er schloss sie behutsam, dann lehnte er die Stirn gegen das Holz. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Wann würde das endlich aufhören? Wer zum Teufel tat ihm das an? Und warum? Erst wurde er in den Zeitungen nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen. Und jetzt auch noch von der Polizei. Besonders schlau hatte er sich bei der Befragung nicht angestellt. Aber er hatte den Raum verlassen müssen, bevor er sich Callahans Cowboyhut schnappen und ihn dem Cop in den Hals stopfen konnte.

Jack richtete sich auf. Er musste sich ablenken. Mach dich wieder an die Arbeit. Schließlich hatte er eine Firma zu leiten. Jetzt nicht die Kontrolle verlieren. Jack griff nach einem Stapel Telefonnotizen und sah ihn durch.

Verdammt. Vielleicht hatte er gar keine Firma mehr zu leiten.

Drei Kunden hatten wichtige Besprechungen abgesagt.

Innerlich schäumend warf er die Notizen in den Aktenvernichter. In dem Moment wurde die Bürotür aufgerissen. Angeklopft hatte niemand. Seine Schwester Melody rauschte herein. »Bryce sagte, du würdest mit zwei Polizisten sprechen. Was wollten die denn? Glauben die etwa den ganzen Mist, der in der Zeitung steht?«

Melodys graue Augen waren hart. Sie baute sich vor Jacks Schreibtisch auf und grub die Absätze in den Boden. Seine ältere Schwester war groß, stets perfekt gestylt und in teuren Hosenanzügen für jeden Kampf gerüstet. Sie strahlte die Angriffslust einer Tigerin aus, die ihre Jungen verteidigen will. Aber Jack wusste, dass der Besuch der Detectives sie verunsicherte.

»Was in der Zeitung steht, ist wahr, Mel. Die haben sich nichts ausgedacht.« Verteidigte er etwa gerade diesen Brody? »Schwachsinnig ist bloß die reißerische Aufmachung.«

»Aber was wollte die Polizei denn hier?«

»Auf unserem Grund und Boden wurde eine Leiche gefunden. Und ich habe früher mit Cal Trenton zusammengearbeitet. Die machen nur ihren Job.«

»Aber du bist der Chef dieser Firma! Wie können die einfach hier reinschneien und …«

»Meine Stellung schützt mich nicht vor Ermittlungen. Es ist doch klar, dass sie mit mir reden müssen.«

Verteidigte er jetzt auch noch Callahan?

Jack fuhr sich durchs Haar. »Ich weiß, diese Art von Publicity ist das Letzte, was wir brauchen. Glaub mir, ich bin genauso genervt wie du. Aber bis Gras über die Sache wächst, musst du mir helfen, das Beste daraus zu machen – anstatt auch noch auf mich einzuhacken.«

»Wenn du nicht …«

»Wenn ich nicht was? Auf dem College eine Freundin gehabt hätte? Mit Cal Streife gefahren wäre? Was willst du eigentlich, Mel?« Er wandte ihr den Rücken zu und starrte blicklos aus dem Fenster.

»Also. Was tun wir jetzt?« Ihre Stimme war um zehn Dezibel leiser geworden. Jack wusste, dass es ihr schwerfiel, diese fünf Worte auszusprechen. Auch wenn sie sich häufig stritten – eigentlich liebten sie einander von Herzen. Genau wie die Firma ihres Vaters.

»Du machst deinen Job und ich meinen. Wir zeigen allen, dass sich bei Harper Immobilien nichts ändert und dass die polizeilichen Ermittlungen nichts damit zu tun haben, wie wir unsere Geschäfte führen.«

Er dachte an die Telefonnotizen, die er gerade geschreddert hatte. Auf keinen Fall würde er sie auch nur erwähnen. Sonst ging Mel durch die Decke.

Melody schwieg eine ganze Minute lang. Ihrem Spiegelbild im Fenster sah er an, dass sie Angst hatte, es aber nicht zeigen wollte. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und fegte aus seinem Büro. Jack stieß den Atem aus. Gemeinsam würden sie es schaffen.