ZWEIUNDZWANZIG

Auf dem Heimweg sprach Lacey kein Wort. Sie wusste, dass Michael nicht als Erster mit der Faust zugeschlagen hatte, verbal hatte er aber durchaus ins Wespennest gestochen. Ihre Gedanken schossen immer noch kreuz und quer durcheinander.

Als Michael mit dem Land Rover in ihre Straße einbog, richtete sie sich auf. Wenn er glaubte, er könnte mit ins Haus, mit ihr reden und sich entschuldigen, hatte er sich geschnitten. Er würde schnurstracks nach Hause fahren. Noch mehr Testosterondunst ertrug sie heute nicht mehr. Sie sah den Lichtkegel der Scheinwerfer über die Wagen huschen, die am Straßenrand geparkt waren und wappnete sich für die Konfrontation.

Wie konnten die beiden es wagen, sich zu raufen wie Straßenköter? Männer benahmen sich gelegentlich wie Idioten. Aber der Auftritt heute Abend schlug dem Fass den Boden aus. Lacey stieß ein unwilliges Schnauben aus; Michael sah sie fragend an.

Dass sie wütend war, konnte er sich denken. Lacey fand, er müsste eigentlich vor Angst bibbern. Am liebsten hätte sie ihn verprügelt. Und Jack gleich mit. Aber der war nicht da. Deshalb würde Michael jetzt ihren ganzen Zorn zu spüren bekommen.

Er hielt in ihrer Einfahrt an und stellte den Motor ab.

»Lace …«, begann er zögernd.

»Sag einfach gar nichts«, fuhr sie ihn an. »Ich musste heute Abend mit ansehen, wie zwei erwachsene Männer aufeinander losgegangen sind wie zwei Jungs aus einer Straßengang. Meine Frisur ist im Eimer und mein neues, sündhaft teures Kleid zerrissen.« Sie berührte ihr Ohrläppchen. »Und irgendwo habe ich auch noch meinen Diamantstecker verloren. Mit zweieinhalb Karat.« Sie wurde langsam warm. »Ich weiß, es war nicht allein deine Schuld, Michael. Aber du bist hier und er hockt irgendwo in einer Zelle. Wenn ich nicht so verdammt müde wäre und nicht noch meine Sachen packen müsste, damit ich bei meinem Dad übernachten kann, würde ich runter in die Stadt marschieren und ihm so was von den Kopf waschen. Ich dachte, ihr beide wollt mir helfen. Wie soll ich denn allein damit klarkommen, dass dort draußen ein Killer herumläuft? Wie könnt ihr euch bloß so danebenbenehmen?«

Immerhin besaß Michael den Anstand, ein beschämtes Gesicht zu machen. »Es tut mir leid, Lace. Wirklich. Aber dieser Typ bringt einfach meine schlechtesten Seiten zum Vorschein. Du weißt, ich würde dich nie im Stich lassen. Als ich kürzlich nachts abgehauen bin, war er ja noch da, und mir war klar, dass er dich nicht aus den Augen lassen würde.« Michael rutschte verlegen hin und her. »Er hat etwas an sich. Dasselbe, das ich von mir kenne. Nenn es übertriebenen Beschützerinstinkt. Einerseits macht es mich wahnsinnig, dass er dir gegenüber so etwas empfindet. Andererseits vertraue ich genug darauf, um die Stadt zu verlassen, weil ich weiß, dass du bei ihm sicher bist.«

Damit nahm er ihr komplett den Wind aus den Segeln. »Aber warum hast du dann angedeutet, dass er irgendwie an Amys Tod beteiligt sein könnte? Das war niederträchtig.«

»Ich wollte bloß sehen, wie er reagiert.«

»Tja, das weißt du ja jetzt. Wirklich intelligent war das nicht, Michael. Und warum hast du Anzeige erstattet? So lang er in einer Zelle sitzt, kann er schlecht auf mich aufpassen.«

»Warum bist du bloß so verdammt logisch?«, murrte Michael. »Ich ziehe die Anzeige zurück und hole ihn raus.«

»Ich bin logisch, weil durch mein Hirn nicht nur Testosteron wabert.«

Sie tastete nach dem Türgriff und warf dabei einen Blick zu ihrem Haus.

Was war das?

Lacey erstarrte und fixierte den Punkt im Dunkeln. Da war es wieder. Irgendjemand kauerte im Schatten an der Seite ihres Hauses unter der umlaufenden Veranda.

»Michael.« Sie flüsterte. »Schau.« Ohne die Hand über das Armaturenbrett zu heben, zeigte sie auf den Hauseingang. »Siehst du das? Da ist jemand.« Ihre Stimme zitterte. Sie drückte auf den Türschließer.

»Ja, ich seh’s.« Michael war bereits in Habachtstellung. »Bleib hier.« Er griff ins Seitenfach und glitt aus dem Wagen, bevor sie ein weiteres Wort sagen konnte.

Sie hatte die Pistole in seiner Hand gesehen. Dieser Anblick verschlug ihr die Sprache. Was hatte er vor? Michael besaß eine Lizenz zum verdeckten Tragen einer Waffe. Aber außerhalb der Schießanlage hatte sie nie eine bei ihm gesehen.

Die Person, die sich an der Seite ihres Hauses versteckte, konnte sicher deutlich erkennen, dass Michael aus dem Wagen gestiegen war und dass sie noch darin saß. Michael joggte lässig die Verandastufen hoch und rief über die Schulter: »Ich hole dir kurz deine Sachen, dann können wir fahren!«

Laceys Herzschlag beschleunigte sich. Der Schatten neben der Veranda bewegte sich nicht. Sie sah, wie Michael mit seinem Schlüssel die Tür aufschloss und ins Haus spurtete. Die Tür ließ er sperrangelweit offen stehen.

Wie würde Jack reagieren, wenn er wüsste, dass Michael einen Schlüssel hatte?

Lacey riss die Augen auf. Auf der Veranda schob sich ein zweiter Schatten am Haus entlang. Michael. Er hatte sich zur Hintertür hinausgeschlichen und arbeitete sich langsam zu der Stelle vor, an der die andere Person kauerte.

Lacey biss die Zähne so fest zusammen, dass ihre Kiefermuskeln schmerzten. Ohne die Augen von der Veranda zu lassen, zog sie das Handy aus ihrer Handtasche und drückte es an die Brust. Michael glitt lautlos über das Geländer der Veranda und ließ sich auf den Schatten unter ihm fallen. Lacey konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Die Schatten verschmolzen und rollten unsanft in die Einfahrt.

Während sie den Notruf wählte, behielt Lacey mit einem Auge die ringenden Männer im Schnee im Blick.

Für diesen Ausflug zum städtischen Gefängnis war Mason am frühen Sonntagmorgen gern aus dem warmen Bett gekrochen. Wirklich notwendig wäre das nicht gewesen, aber diesen Anblick wollte er sich nicht entgehen lassen. Bei der Fahrt in die schlafende Stadt rief er sich noch einmal ins Gedächtnis, wie der Streifenpolizist die Festnahme beschrieben hatte. Mason lachte leise vor sich hin.

Verhaftet wegen Körperverletzung bei einer Prügelei um eine Frau – bei einer schicken Champagnerfete. Den Namen der Frau hatte der Cop zwar nicht genannt, aber als Mason gehört hatte, dass hinter der Anzeige ein gewisser Michael Brody steckte, wusste er, dass es sich nur um Dr. Campbell handeln konnte. Mason marschierte den engen Flur entlang, grüßte hier und da einen Uniformierten, den er kannte, und blieb vor einer Arrestzelle stehen.

Unbezahlbar. Köstlich. Der Insasse hockte mit mürrischem Blick auf der Bank. Er trug einen Smoking mit zerrissenem Kragen. Irgendetwas Klebriges war in seinem Haar eingetrocknet. Mit den Händen in den Hosentaschen verlagerte Mason das Gewicht auf die Stiefelabsätze und genoss diesen Anblick. Der wütende Blick seines Gegenübers prallte an ihm ab. Mason bleckte die Zähne zu einem Grinsen. Zu gern hätte er jetzt eine Zigarre gehabt.

Verdammt, er hätte seine Kamera mitbringen sollen.

Schade, dass Dr. Campbells Ex, Frank Stevenson, nicht mehr hinter Schloss und Riegel saß. Mason hätte ihn gern nur so zum Spaß mit zu Harper in die Zelle gesteckt. Aber genauso gut konnte man ein hinkendes Huhn in einen Wolfsbau werfen. Harper hätte den Kerl mit Haut und Haaren gefressen. Mason lachte leise auf.

Der Wolf fuhr ihn an. »Was ist denn so scheißlustig?«

Mason nickte, musterte den wütenden Mann und verriet ihm dann, was er gerade gedacht hatte. Der Wolf ließ sich besänftigen und brachte sogar ein widerwilliges Raubtiergrinsen zustande.

»Ja. Gegen einen Boxsack hätte ich gerade nichts einzuwenden. Und Stevensons Visage wäre perfekt«, knurrte Harper.

Mason schürzte die Lippen. Der Mann beeindruckte ihn von Mal zu Mal mehr. Nicht unbedingt bescheiden, aber ehrlich und direkt. Leidenschaftlich im Kampf für eine gute Sache – wie zum Beispiel Dr. Campbell zu beschützen. Harper war vermutlich ein guter Cop gewesen. Die Sache mit der Schießerei war ein Jammer.

Schon nach dem ersten Gespräch mit Harper hatte Mason sich intensiver mit dem Vorfall beschäftigt. Harper war im Dienst angeschossen worden. Seine Vorgesetzten waren der Meinung, das hätte ihn emotional derart aus der Bahn geworfen, dass er ein Sicherheitsrisiko geworden sei. Trotz etlicher Sitzungen beim Seelenklempner der Lakefielder Polizei war er schließlich aus dem Polizeidienst ausgeschieden.

In seinem eigenen Revier war Harper der Platzhirsch. Das hatten Mason und Lusco bei ihrem Besuch in seinem Büro erleben können. In seinem Territorium herrschte er unangefochten, als Firmenchef hatte er seinen Laden und seine Angestellten im Griff. Mit den Arbeitsbedingungen eines Cops war das nicht zu vergleichen. Mason konnte sich vorstellen, dass Harper viel Geduld mit seinen Angestellten hatte, von seinen Geschäftspartnern aber einiges erwartete. Wer seinen Teil des Handels nicht erfüllte, musste sich auf etwas gefasst machen.

Aber bei der dickköpfigen Zahnärztin konnte er ganz sicher nicht den Platzhirsch markieren. Nur eine Frau brachte es fertig, einen Kerl wie ihn so aus dem Gleichgewicht zu bringen. Fast wie seine Exfrau bei ihm … Mason schob den Gedanken an sie sofort beiseite, doch seinen Sohn bekam er nicht so leicht aus dem Kopf. Jake hatte er seit … seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Bald war Februar und er war seit den Feiertagen nicht mehr mit Jake zusammen gewesen. Klar, sie telefonierten regelmäßig. Aber sie sahen sich nicht. Der Junge hatte zu tun. Stand kurz vor dem Highschool-Abschluss. Spielte Basketball. Musste lernen. Dieser ganze Quatsch.

»Callahan.«

Mason schreckte aus seinen Gedanken. Harper stand jetzt an den Gitterstäben, nur einen guten halben Meter von ihm entfernt, und Mason hatte es nicht bemerkt. »Was ist?«

»Ich habe gefragt, wann ich aus diesem Dreckloch wieder rauskomme. Sie wissen genau, dass es dort draußen eine Frau gibt, die ich im Auge behalten möchte.« Jack starrte Mason ins Gesicht. »Nicht gut geschlafen? Tut mir leid, dass Sie so früh aus der Kiste mussten.« Er lächelte.

»Nein. Ich habe bloß gerade daran gedacht, dass ich meinen Sohn seit Weihnachten nicht mehr gesehen habe. Er lebt bei seiner Mutter.« Mason schoss die Röte ins Gesicht. Warum vertraute er sich einem Kerl an, den er kaum kannte?

Harpers Grinsen fiel in sich zusammen. Sein Blick wurde undurchdringlich. »Das ist übel.« Er wusste, wovon er sprach. Im Grunde hatte er seinen Vater schon seit Jahren nicht mehr wirklich gesehen. Diese Alzheimer-Kacke.

»Ich erkundige mich mal, wann Sie raus können.« Mit rotem Kopf und ohne ein weiteres Wort wandte Mason sich ab und stapfte den Flur entlang. Er spürte, wie Harpers Augen ihm folgten.

»Notrufleitstelle. Welche Art von Notfall wollen Sie melden?«

»Vor meinem Haus ist jemand!« Lacey ratterte die Adresse herunter. »Und er prügelt sich mit Michael! Die zwei rollen …«

»Wo sind Sie, Ma’am?«

»Im Wagen! Aber Michael hat eine Waffe und ich habe Angst, dass jemand …«

»Eine Waffe? Ist jemand verletzt? Brauchen Sie einen Notarzt?«

»Nein! Nein. Er hat nicht geschossen. Aber ich weiß nicht, ob der andere Kerl auch bewaffnet ist!«

»Die Polizei ist unterwegs. Sie bleiben besser im Fahrzeug, Ma’am. Sind die Türen verschlossen?«

»Nein. Ich meine …« Lacey drückte den Schließknopf. Als Michael ausgestiegen war, hatte sie das vergessen. »Die Türen sind jetzt zu.« Warum fragte die Frau nach ihr? Michael war doch in Gefahr!

Die Gestalten im Schnee hörten auf, sich herumzuwälzen. Michael kniete auf dem Rücken des anderen Mannes und drehte ihm die Arme nach hinten.

»Er hat ihn. Er kniet auf ihm«, schrie sie ins Telefon.

»Steigen Sie auf keinen Fall aus, Ma’am.«

Lacey schlitterte bereits die Einfahrt entlang. Das Telefon hatte sie am Ohr. Mit den hohen Absätzen fand sie kaum Halt auf dem eisigen Untergrund. Angestrengt versuchte sie, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Sie wollte sehen, ob Michael verletzt war. Zwei Schlägereien in einer Nacht! Morgen würde er jeden Knochen spüren.

»Ma’am. Bleiben Sie im Wagen.«

»Schon okay. Er kann nicht mehr weg.«

»Ich habe die Polizei informiert, dass einer der Männer bewaffnet ist.«

»Was?« Hatte sie das Problem noch größer gemacht? »Michael! Wo ist die Pistole?«

Zu der Frau in der Notrufzentrale sagte sie: »Sagen Sie der Polizei, die Waffe ist weg! Sie liegt hier vor mir im Schnee. Die sollen auf keinen Fall schießen! Ich nehme die Pistole an mich.«

»Fassen Sie die Waffe nicht an, Ma’am.«

Lacey knirschte mit den Zähnen. Die besorgte Telefonistin ging ihr mächtig auf die Nerven. »Ich kicke sie auf die Straße raus. Wahrscheinlich fährt die Polizei direkt darüber.«

Vorsichtig trat Lacey die Pistole mit dem Fuß ein paar Meter von Michaels Truck weg. Sie hörte, wie die Frau die Information an irgendjemanden weitergab, wusste aber, dass das kaum einen Unterschied machen würde. Die Polizei war bereits in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Einsätze, bei denen Waffen im Spiel waren, erfreuten sich keinerlei Beliebtheit. Sie ließen den Stresslevel ins Unendliche hochschnellen.

Vor ihren Augen drückte Michael das Gesicht des Mannes in den schneebedeckten Schotter der Einfahrt. Michael hatte anscheinend nichts abbekommen. Aber seine Ausdrucksweise sorgte dafür, dass Laceys Augenbrauen in die Höhe schossen. Der Gute war stinksauer.

Schwankend ging Lacey in sicherem Abstand in die Hocke. Sie wollte das Gesicht des Eindringlings sehen, hoffte aber, dass er sie nicht direkt anstarrte. Die Einblicke, die ihr Kleid bot, waren nicht für fremde Augen bestimmt. Heulende Polizeisirenen zerrissen die Nachtstille.

Michael packte den Kerl schnaufend an den Haaren, riss seinen Kopf nach hinten und drehte sein Gesicht zu Lacey. »Kennst du ihn?«

Der erschrockene Gesichtsausdruck des Mannes wich sofort tiefer Verlegenheit. Anscheinend gewährte Laceys Outfit freie Sicht auf sehr persönliche Details.

Doch Laceys Schreck war größer als seiner.

»Sean?«, presste sie mühsam hervor. »Sean? Sind Sie das?«

Michael kniete auf dem Uni-Hausmeister, ihrem Retter.

Jack nahm gerade an der Ausgabetheke im Zellentrakt seine Brieftasche und sein Kleingeld an sich, als Callahan plötzlich neben ihm auftauchte. »Vielleicht möchten Sie ja noch ein bisschen bleiben«, sagte er.

»Und welchen verdammten Grund sollte ich dafür haben?« Jack dachte sehnsüchtig an sein Bett.

»Freunde von Ihnen sind auf dem Weg hierher.«

Jack antwortete mit einem vollendeten Und-wen-juckt-das-Brauenzucken.

»Eine Zahnärztin ist auch dabei.«

Jetzt war Jack hellwach. Die Hand, mit der er die Brieftasche in seine Jacke stecken wollte, erstarrte mitten in der Bewegung. »Was? Lacey? Fehlt ihr etwas? Ist sie hier?«

»Zusammen mit ihrem Lover.« Callahan zeigte sämtliche Zähne.

»Und der Arsch will verhindern, dass ich hier rauskomme?« Dank Callahans Wortwahl hatte Jack nun lauter Herzstechen.

»Nein. Anscheinend hat der Lover vor ihrem Haus einen Eindringling überwältigt.«

Jacks Herz wurde endgültig zu einem Klumpen. »Ist er es?«

Callahan musste nicht erst fragen, wen er meinte. »Keine Ahnung. Die sagen, Dr. Campbell kennt den Typen. Anscheinend ist es jemand aus der Uni.«

»Trotzdem kann er der Killer sein.« Hatte der Reporter ihn davon abgehalten, sein nächstes Opfer zu töten?

»Ich weiß.«

Die Männer sagen einander beklommen an.

»Geht er jetzt oder bleibt er?«, fragte der Cop hinter der Theke.

Callahan nickte dem Mann zu. Dann zog er Jack am Ärmel in den Flur. »Wollen Sie sich ein bisschen frisch machen?«

Jack rückte seinen Kragen zurecht und hörte eine Naht reißen. Er fuhr sich durchs alkoholverkrustete Haar und betrachtete sein fleckiges Hemd. Keine Krawatte. Er suchte in seinen Taschen. Nichts.

»Sehe ich denn nicht gut aus?«

»Fast so gut, wie Sie riechen.«

Laceys aufgebrachte Stimme drang durch den Flur bis zu Jack und Callahan. »Nein! Wieso denn einsperren? Er wusste doch gar nicht, was er tat! Er … er denkt nicht so wie wir. Wir kennen uns von der Arbeit und er versteht nicht, dass er etwas falsch gemacht hat!«

Jack sah Lacey zwar nicht, hörte aber deutlich, dass sie ziemlich in Rage war. Seine Anspannung ließ ein wenig nach. So lang sie derart schäumte und brodelte, konnte ihr nicht viel fehlen. Im Kopf wiederholte er noch einmal ihre Worte und versuchte zu verstehen, worüber sie sich so aufregte. Wer … Sprach sie vielleicht von dem Hausmeister? Von dem geistig zurückgebliebenen jungen Kerl, der mit einem Besenstil und Stevensons Kopf Baseball gespielt hatte? Der sollte in ihr Haus eingebrochen sein?

Die Arme vor der Brust verschränkt starrte Lacey aus dem tristen Foyer der Polizeiwache hinaus auf die dunkle Straße. Michael und Jack saßen so weit wie möglich voneinander entfernt an den jeweiligen Enden der Stuhlreihe an der Wand. Beide ließen Lacey nicht aus den Augen. Sie nahmen ihre Aufgabe als ihre persönlichen Bewacher überaus ernst. Die zwei mieden jeden Blickkontakt miteinander und schwiegen eisern. Lacey nahm an, es war besser so. Sie fing wieder an, auf und ab zu gehen. Sie machte sich Sorgen um Sean. Der Junge war vor Angst erstarrt, als die Streifenwagen mit blitzenden Lichtern in die Einfahrt gebraust kamen und bewaffnete, brüllende Cops herausgesprungen waren. Michael hatte Sean gar nicht mehr festhalten müssen. Er hatte sich mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Boden gedrückt und sich nicht mehr bewegen wollen.

Nur mit einigem Kraftaufwand war es gelungen, Sean vom Boden hochzuhieven und in einen Streifenwagen zu verfrachten.

Lacey hatte kein Wort aus ihm herausbekommen. Genauso wenig wie die Cops. Die Polizisten sahen sich in ihrem Haus um, meinten, es hätte keinen Einbruch gegeben, und erklärten, sie würden den Mann mit in die Stadt nehmen. Anfangs hatte Lacey heftig dagegen protestiert. Aber die Cops hatten ihr versichert, sie wollten ihn nur befragen. Schließlich fügte sie sich. Sean sagte nicht, wo er wohnte, und nannte auch keine Person, die ihn abholen konnte. Dass er nichts bei sich hatte, womit er sich ausweisen konnte, passte den Cops überhaupt nicht. Sie wollten seine Adresse wissen und wer er war. Aber Lacey konnte ihnen auch nicht weiterhelfen. Sie kannte seinen Namen, mehr nicht.

Auf der Wache hatte Sean sich sofort zusammengekauert. Zwischen ihm und den beiden Cops, die ihn den Flur entlangschieben wollten, war es zu einem Gerangel gekommen. Lacey und Michael waren gerade rechtzeitig aufgetaucht, um mitanzusehen, wie allseits die Emotionen hochkochten. Lacey war es gelungen, Sean zu beruhigen und ihn zu überreden, mit den Polizisten mitzugehen. Sie hatten ihn in ein Befragungszimmer gebracht und ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Das bekannte Gesicht von Detective Callahan zu sehen, war eine gewisse Erleichterung. Auf Laceys Bitte hin setzte er sich als Zeuge in das Befragungszimmer. Darüber war sie froh. Michael und Jack erklärte sie, sie würde erst gehen, wenn die Polizei mit Sean fertig war. Jack wollte das Präsidium erst verlassen, wenn sie es tat, und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Michael hatte sich nach einem einzigen Blick in Jacks stures Gesicht auf dem Stuhl am anderen Ende der Reihe niedergelassen. Die düsteren Blicke der Männer sagten Lacey, dass Widerspruch zwecklos war.

Die zwei sahen aus, als hätten sie sich die ganze Nacht geprügelt. Was ja beinahe stimmte. Michael hatte sich bei dem Gerangel mit Sean die Hose zerrissen. Das Jackett hatte er nachlässig auf einen Stuhl geworfen, an seinem Hemd fehlten zwei Knöpfe. Er krempelte die schmuddeligen Ärmel hoch, sah ihr zu, wie sie auf und ab tigerte, und schaffte es irgendwie, dabei bedrohlich zu wirken.

Jack sah mindestens genauso verwahrlost und gefährlich aus. Und beide Männer stanken immer noch nach dem Alkohol, den sie ihnen über die Köpfe gekippt hatte. Der Geruch von Tequila hing im Raum. Vermutlich war das der Grund für die missbilligenden Blicke der Cops, die durchs Foyer gingen.

In Laceys Kleid klaffte immer noch der Riss. Ohne Nadel und Faden konnte sie erst einmal nichts daran ändern. Sie hatte sich im Damenklo die verschmierte Wimperntusche vom müden Gesicht gewaschen. Ihre Haarspange blieb unauffindbar, ihre Frisur war endgültig hinüber. Mit den Fingern kämmte sie sich das Haar notdürftig hinter die Ohren.

Sie sahen aus wie Gäste eines Staatsbanketts, die von einem Erdbeben überrascht worden waren.

Lacey seufzte. Sechs Uhr morgens. Und es war Sonntag. Eigentlich sollte sie im Bett liegen. Sie sollte sonst wo sein, aber auf keinen Fall hier.

Als ihr Handy klingelte, zuckten alle drei zusammen. Es steckte in ihrer Handtasche, und die lag unter Michaels Jacke auf dem Stuhl. Ohne sie anzusehen, hielt er ihr die Tasche hin.

Der Anruf kam von Chris, Kellys Mann.

»Hast du etwas von Kelly gehört?« Er war völlig außer Atem.

»Nein. Nicht seit vorgestern, als ich euch beide in der Sporthalle gesehen habe.« Lacey wusste nicht, was sie davon halten sollte. Chris klang ziemlich gestresst.

»Was ist los?« Chris war sonst nie gestresst.

»Kelly ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.«

»Was? Wo ist sie?« Lacey erstarrte. Sie spürte, wie die Angst nach ihr griff.

»Ich weiß es nicht! Sie ist nach dem Abendessen in die Turnakademie gefahren und wollte Schreibkram erledigen. Als es immer später wurde, habe ich sie auf dem Handy angerufen, aber nur die Mailbox erreicht. Also bin ich zur Halle gefahren. Ihr Wagen stand aber nicht da. Ich habe trotzdem im Büro nachgesehen. Den Schreibkram hat sie erledigt, aber sie ist weg. Hast du irgendeine Ahnung, wo Kelly sein könnte?« Chris sprach, ohne Luft zu holen.

»Nein, Chris. Wirklich nicht. Hast du bei ihren Eltern nachgefragt und bei ihrer Schwester?« Laceys Gedanken jagten. Ihr Magen zog sich zusammen. Lieber Gott. Bitte nicht auch noch Kelly.

»Ich habe gestern Abend noch ziemlich spät dort angerufen, aber nicht nach Kelly gefragt. Weil ich nicht wollte, dass sie sich Sorgen machen, habe ich mir eine Ausrede ausgedacht. Aber von Kelly hat niemand etwas gesagt.«

»Hast du die Polizei angerufen?«

Lacey hörte Stiefelschritte. Sie blickte auf. Detective Callahan warf ihr einen langen Blick zu und er sah nicht glücklich aus.

»Augenblick, Chris. Ich bin gerade bei der Polizei. Ich sorge dafür, dass die sich darum kümmern.« Sie bedeckte das Handy mit der Hand und wandte sich an den Detective. »Meine Freundin ist verschwunden. Ihr Mann ist am Telefon. Er hat furchtbare Angst um sie. Er hat sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen.«

»Wen? Welche Freundin?«

»Kelly. Kelly Cates. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass sie denselben Ring hat wie ich.« Lacey brach ab. Callahans Augen verengten sich.

»Die Turnerin? Das andere Mädchen, das im DeCosta-Prozess ausgesagt hat? Verdammt, warum hat er uns nicht gleich angerufen?« Callahan schnappte sich das Telefon und fing an, Chris mit Fragen zu bombardieren.

Er hat sie. Er hat Kelly.

Lacey rang nach Luft.