FÜNFUNDDREISSIG

Callahan sah, wie Pattison die Hand auf sein Headset schlug und erstarrte. Sein Gesicht wurde leer, seine Lippen bewegten sich, als würde er der Stimme in seinem Ohr etwas antworten.

Irgendetwas war geschehen.

Mit der Hand über dem Ohr warf Pattison einen hektischen Blick zu Mason hinüber.

»Was ist passiert?«, murmelte Mason. Er wollte zu Pattison stürzen und es herausfinden. Dass sie sich nicht ausstehen konnten, war ihm im Augenblick egal.

»Ich frage nach.« Ray drängte sich an Mason vorbei und schob seinen massigen Körper zwischen ihn und den Einsatzleiter. Damit zwang er Mason zu einer Vollbremsung.

Mason brodelte innerlich. Überrascht stellte er fest, dass er sich gern eine Zigarette anzünden wollte. Dabei rauchte er seit zwanzig Jahren nicht mehr.

Dieser Fall würde ihn noch umbringen.

Pattison ging einen Schritt auf Ray zu. Mason schloss er mit einem Blick mit ein. Der Captain sah aus, als wolle er mit bloßen Händen eine Tanne entwurzeln.

»Einer meiner Scharfschützen, Cordova, hat gerade den Schrei einer Frau aus der Hütte gehört. Der Schrei brach abrupt ab.«

Mason stand plötzlich der Schweiß auf der Stirn. Seine Eingeweide fühlten sich an, als hätte ihm jemand ein Messer in den Bauch gerammt. DeCosta hatte sie umgebracht. Sie kamen zu spät. Sie hatten sich zu lang mit dem Unterhändlerschwachsinn aufgehalten. Er drückte die Hand auf den rebellierenden Magen.

»Sie lebt«, sagte Ray ruhig.

Die Männer starrten ihn an. »DeCosta will einen ruhmreichen Abgang«, fügte Ray hinzu. »Das hat er deutlich gesagt. Es steht auf der Karte an Dr. Campbell. Und das große Finale hier hat er sorgfältig vorbereitet. Er wird nicht hinter verschlossenen Türen still und leise einen weiteren Mord begehen. DeCosta will einen Hollywood-Film inszenieren, bei dem er die Hauptrolle spielt.«

Mason musterte seinen Partner. Ray hatte recht, verdammt. Er hatte recht.

Aber das war nur ein kleiner Trost.

Jack kauerte nur wenige Meter von der Hütte entfernt im Schnee.

Die entsetzten Schreie hatten sein Blut zum Kochen gebracht. Doch seit sie plötzlich verstummt waren, war ihm, als hätte er Eis in den Venen. Er hätte nie geglaubt, dass es etwas Schlimmeres geben könnte als Laceys Schreie. Aber die lähmende Stille danach war noch zwanzigmal beklemmender.

Er betete, dass er nicht zu spät kam.

Lacey war plötzlich hellwach. Jeder Nerv in ihrem Körper zog sich aus Angst vor dem Mann vor ihr zusammen. Bobby DeCosta war außer sich vor Wut. Speichelfetzen sprühten aus seinem Mund, als er sie anschrie. Er riss ihren Kopf an den Haaren so brutal zurück, dass sie glaubte, er würde ihr die Kopfhaut abziehen. Dann schlug er sie, dass ihr die Ohren klingelten.

Gebannt starrte Lacey DeCostas Zähne zwischen den höhnisch feixenden Lippen an. Die seitlichen Schneidezähne waren im Vergleich zu den anderen Zähnen ungewöhnlich klein, schmal und spitz. Sie sahen aus wie kurze Reißzähne.

Plötzlich klirrte Glas. Lacey schrie erschrocken auf. Bobby ließ ihr Haar los, warf sich zu Boden und legte schützend die Hände über den Kopf. Lacey ließ sich zur Seite kippen, wollte sich so flach wie möglich machen. Ihr entfuhr ein weiterer Schrei. Sie war auf ihren verletzten Ellbogen gefallen. Weißglühende Schmerzpfeile schossen durch ihre Rippen.

Zitternd wartete sie auf weitere Schüsse.

Als sie ihren Entführer fluchen hörte, öffnete sie zögernd die Augen. Ein großer Stein lag mitten in den Scherben des Fensters auf dem unebenen Hüttenboden.

Kein Schuss. Ein Stein.

Sprachlos starrte Lacey auf das graue Ding. Wer hätte gedacht, dass ein Stein DeCosta derart durcheinanderbringen konnte?

Das konnte nur Kelly gewesen sein. In Laceys Augen brannten Tränen. Das dumme Mädchen war noch hier, anstatt wegzulaufen und Hilfe zu holen.

»Blöde Schlampe.« Bobby war zum selben Schluss gekommen. Auf allen Vieren hoppelte er in den Nebenraum und kam gleich darauf mit einem Stück Seil in den Händen zurück.

Noch ein Strick? Wo wollte er sie denn zusätzlich anbinden? Sie konnte doch sowieso nicht weg. Erschöpft drehte Lacey das Gesicht Richtung Boden. Ihre Muskeln waren so schlapp, dass sie sich nicht einmal aufsetzen konnte, und inzwischen war es ihr auch egal, ob sie lag oder saß. Doch Bobby zerrte sie in eine sitzende Position. Sie schwankte wie eine Betrunkene. Er ruckte an dem Strick, mit dem er sie an den Ring im Boden gebunden hatte, überprüfte die Festigkeit der Knoten. Dann nickte er zufrieden.

Als Nächstes legte er ein großes Holzscheit hinter Lacey und überraschte sie damit, dass er sich darauf setzte. Fast zärtlich zog er sie nach hinten und lehnte ihren Rücken gegen seine Schienbeine. Seine Nähe und seine Berührungen ließen ihre Haut unangenehm prickeln. Etwas Dünnes, Kaltes schlang sich fest um ihren Hals. Lacey riss die Augen auf. Der Strick, den er geholt hatte! Er wollte sie strangulieren.

Sie hielt den Atem an.

Doch er zog die Schlinge nicht fester zu. Er saß nur reglos hinter ihr und schaute zur Tür.

Lacey ahnte, was er vorhatte. Bobby wartete auf Publikum.

Dann würde er sie erdrosseln.

Ich habe eine nette kleine Überraschung für dich, Kelly. Als Revanche für den Schlag mit der Taschenlampe. Ein Lächeln schlich sich auf Roberts Gesicht. Er war durch Laceys Körper fast vollständig abgeschirmt. Wenn er den Kopf ein wenig senkte, konnte niemand auf ihn schießen oder ihn angreifen, ohne Lacey zu verletzen.

Kelly würde die langsame Strangulation ihrer Freundin mitansehen und natürlich in die Hütte stürzen und Lacey helfen wollen. Dann konnte er sie überwältigen und mit ihrer Hilfe die Cops zum großen Finale in die Hütte locken. Die warteten noch irgendwo draußen im Gebüsch, genau so, wie es in ihren Lehrbüchern stand. Unfähig eigene Ideen zu entwickeln und kreativ zu denken.

»Komm ruhig rein, Kelly.« Robert sprach so laut, dass man ihn draußen hören konnte. »Ich will dir etwas zeigen.« Es gelang ihm nicht, das Lachen aus seiner Stimme zu verbannen.

Seine Gefangene röchelte leise.

»Sitzt der Strick zu fest? Kein Problem. Ich muss nur die Hand ein bisschen drehen, dann bekommst du mehr Luft.« Er demonstrierte, was er meinte, und Lacey machte einen tiefen Atemzug. »Wenn ich die Hand andersherum drehe, wird die Schlinge enger. Siehst du? So!« Ein schmerzhafter Ruck ging durch Laceys Körper. DeCosta ließ den Strick wieder ein klein wenig lockerer.

Dann tätschelte er ihr Haar, als wäre sie eine schnurrende Hauskatze. Lacey riss den Kopf weg und röchelte. Die Bewegung führte nur zu weiteren Schmerzen und zu noch mehr Atemnot.

»Autsch. Das hat wehgetan«, sagte Robert. »Vielleicht solltest du ganz locker bleiben und mich einfach machen lassen.« Seine Hand schob sich über Laceys Schulter, kroch langsam weiter bis zu ihrer Brust.

Sie schüttelte heftig den Kopf.

Ärgerlich zog er die Schlinge fester. »Glaubst du wirklich, du bist in der Position zu verhandeln?« Seine Hand packte zu, krallte sich in eine ihrer Brüste, drehte und riss daran, bis er sie aufschluchzen hörte.

Er ließ ihr ein bisschen mehr Luft. Wie schön es doch wäre, wochenlang mit ihr spielen zu können.

»Du krankes Arschloch.«

Eine männliche Stimme. Robert zuckte zusammen. Doch der Schreck über den Anblick der hochgewachsenen Gestalt in der Tür verwandelte sich sofort in Freude. Daran änderte auch die Waffe in der Hand des Überraschungsgastes nichts.

Die Situation hatte gerade eine exquisite neue Wendung genommen. Nicht Kelly würde zusehen, wie Lacey starb, sondern ihr Lover.

Perfekt.

Lacey riss die Augen auf.

Jack war da. Er hatte sie gefunden und wollte sie retten. Um ihr zu helfen, hatte er sich sogar überwunden, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Ihre Augen brannten. Er sah so gut aus. Groß, schön und rasend vor Wut. Mit Kiefermuskeln wie aus Granit. Einen Moment lang wurden ihre Gefühle so übermächtig, dass sie die Augen schloss. »Oh Gott«, formten ihre Lippen stumm. Erst jetzt verstand sie das volle Ausmaß ihrer Gefühle: Sie hatte sich in diesen verdammten Querkopf verliebt. Lacey staunte, dass sie überhaupt noch Tränen übrig hatte. Zwei einzelne, salzige Tropfen glitten ihr über die Wangen.

Sein Einsatz konnte Jack das Leben kosten.

Aber doch nicht jetzt! Nicht, nachdem ihr endlich klar geworden war, was er ihr bedeutete. Sie sah ihn an, schüttelte den Kopf. Der Strick rieb schmerzhaft an ihrer Kehle. Stumm flehte sie ihn an, zu gehen, so lang er es noch konnte. Er hatte seit Jahren keine Waffe mehr in der Hand gehabt, was er hier tat, war viel zu riskant. Doch Jack schien sie kaum wahrzunehmen. Er fixierte den widerlichen Scheißkerl in ihrem Rücken.

»Ich könnte dir in den Kopf schießen, Bobby, dann hätten wir die Sache am schnellsten hinter uns.«

Der Strick zog sich zusammen, vor Laceys Augen tanzten Sterne.

»Mein Name ist nicht mehr Bobby. Ich heiße Robert«, quengelte DeCosta wie ein verzogener Fünfjähriger. Selbst in ihrem benebelten Zustand fiel Lacey auf, wie kindisch seine Reaktion war. Bobby hasste seinen Kleinjungennamen.

»Wenn du schießt, triffst du erst mal sie.«

Lacey spürte, wie Bobby sich hinter sie duckte. »Und wenn du nicht schießt, kannst du zusehen, wie sie stirbt. Egal, wofür du dich entscheidest. Lebendig kriegst du sie nicht.« Bobby zeigte auf die Wände der Hütte. Lacey blieb fast das Herz stehen. Erst jetzt bemerkte sie die hauchfeinen Drähte, die kreuz und quer über jede ebene Fläche liefen.

Diese Vorrichtung würde dafür sorgen, dass die Hütte in Sekundenschnelle in Flammen stand.

Jacks Augen weiteten sich. Er starrte auf einen Punkt schräg hinter Lacey. Sie schaffte es, den Kopf ein wenig zu drehen, und erkannte aus dem Augenwinkel eine kleine Fernbedienung in Bobbys Hand.

Lacey ging nicht davon aus, dass das Ding zu einem Fernseher gehörte.

»Verfluchter Mist! Dieser verdammte Idiot!«

Pattisons Gesicht nahm einen so dunklen Rotton an, dass Mason sich ernsthafte Sorgen um den Blutdruck des Einsatzleiters machte.

»Ihr Freund ist grade durch die Eingangstür der Hütte spaziert. Einfach so. Ein Wunder, dass er noch lebt.«

Mason applaudierte Harper, diesem arroganten Schnösel, stumm, um ihn gleich im Anschluss für seine Dummheit zu verfluchen. Der Kerl mischte sich in die Polizeiarbeit ein, verschärfte damit die Situation und brachte sich und andere in Lebensgefahr. Anstatt seinen Kopf zu benutzen, dachte er mit dem Schwanz.

»Und jetzt? Was passiert jetzt?« Rays Stimme klang gepresst. Vermutlich ging ihm dasselbe durch den Kopf wie Mason: Sollte man Harper für seinen Mut bewundern oder für seine Dummheit erschlagen?

»Nichts. Bislang dringt kein Ton nach draußen. Ihre Zivilperson ist übrigens bewaffnet.« Pattison sah die beiden Detectives vorwurfsvoll an. »Das haben Sie mir verschwiegen.«

»Wir wussten es nicht.« Mason zuckte die Schultern. »Aber er ist nun mal ein Ex-Cop.«

Den fragenden Blick, den Mason seinem Partner zuwarf, ignorierte Ray geflissentlich. Er hatte von der Waffe gewusst und es für sich behalten. Mason presste die Lippen zusammen. Auf keinen Fall würde er beim Oberfeldwebel petzen. Den Kopf konnte er Ray auch noch später waschen, wenn sie allein waren.

Pattison trat gegen den Reifen eines Einsatzfahrzeugs. »Jetzt haben wir zwei Geiseln, die wir rausholen müssen. Scheiße noch mal!«

Robert war stolz auf seine Flexibilität und seine gute Vorbereitung. Die Situation hatte sich völlig unerwartet verändert, aber er kam trotzdem bestens zurecht. Diese Szene hatte er sich in den letzten Monaten immer wieder ausgemalt. Nur hatte er immer geglaubt, an seinem großen Tag würde ein Cop auf ihn zielen. Nicht der Freund der Geisel.

Dass Harper früher Polizist gewesen war, betrachtete er als Bonus. Cop und Lover in einem. Traumhaft.

Harpers Brauen zogen sich zusammen. Anscheinend war ihm beim Anblick der verkabelten Wände und des Fernzünders klar geworden, dass er einen idiotischen Fehler begangen hatte. Sicher kam er sich nun nicht mehr so schlau vor. Man sollte eben nie planlos handeln.

Blinder Aktionismus war der sicherste Weg mitten in die tiefste Scheiße. Das zeigte sich hier mal wieder.

Das Machtgefühl füllte Roberts Brust. Seine Rechnung war aufgegangen. Alle tanzten nach seiner Pfeife.

Er spürte, wie Lacey den Kopf drehte, und zog die Schlinge ein wenig fester. Sie erstarrte. Hier hatte er im wahrsten Sinne des Wortes die Fäden in der Hand. Sein Daumen spielte mit dem Knopf des Fernzünders. Eine Sekunde lang empfand er einen Anflug von Wehmut, weil er dieses traute kleine Heim zerstören würde. Hier war so viel passiert. Hier hatte er so viel gelernt.

Er drückte die Gefühle weg, lächelte Jack zynisch an. »Sieh den Tatsachen ins Auge, Harper. Ihr könnt nicht beide lebend hier rauskommen. Geh jetzt. Dann stirbt wenigstens nur sie.«

»Aber du stirbst auch.«

Hielt der Mann ihn für einen Volltrottel? »Was du nicht sagst, Sherlock. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Wenn es sein muss, bezahle ich diesen Preis. Aber vergessen wird man mich nie.«

Jacks Augenbrauen hoben sich. Gut. Er war verwirrt.

Robert spürte, wie Laceys Rücken erschlaffte. Sie wankte leicht, dann kippte sie ein wenig zur Seite. Er hatte ihr die Luft abgeschnürt. Sie wurde ohnmächtig. Nein! Genau jetzt in diesem Moment musste sie bei vollem Bewusstsein sein. Sie sollte alles miterleben. Hastig lockerte er die Schlinge und versuchte, sie mit den Knien abzustützen.

In diesem Moment warf Lacey sich nach links und riss ihm dabei den Strick aus den Händen.

Die Schüsse hörte er schon nicht mehr.

Lacey hoffte, dass Jack sie verstanden hatte. Fünfmal hintereinander hatte sie ihm erst in die Augen gesehen und dann nach links zu Boden geschaut. Er hatte das Kinn fast unmerklich gesenkt. Ein Nicken.

Sie machte sich schwer und fing an zu schwanken, als würde sie vor Atemnot ohnmächtig. Als sie spürte, wie Bobby den Strick lockerte, warf sie sich zur Seite.

Jacks Pistole brüllte zweimal auf. Fast gleichzeitig rasten Blitze über die Wände der Hütte. Es gab eine Kette kleiner Explosionen. Die Decke ging mit einem ohrenbetäubenden Zischen in Flammen auf.

»Raus hier, Jack! Raus!« Die Zeit reichte nicht, sie mitzunehmen. Sie war immer noch mit unzähligen Knoten an dem Ring am Boden festgebunden. Schluchzend rollte Lacey sich auf dem harten Fußboden zusammen, vergrub den Kopf in den Armen und betete, dass es nicht zu sehr wehtun würde.

»Grundgütiger!«

Jeff Cordova riss seinen Kopf hinter dem Zielfernrohr seines Scharfschützengewehrs hoch. Hinter allen Fenstern der Hütte loderten gleichzeitig Flammen auf. Ohne die Sicherheitseinstellung an seinem Nachtsichtgerät wäre er nun halb blind.

Gerade hatte er noch übers Headset zugehört, wie der Einsatzleiter sich über den hirnverbrannten Zivilisten ereiferte, dann hatte der Hall zweier Schüsse die Stille im Wald zerrissen. Bevor Jeff Meldung machen konnte, brannte die Hütte schon an allen Ecken.

»Das Ding brennt! Er hat die Hütte angezündet!«

Das Geschrei der anderen Scharfschützen in seinem Kopfhörer übertönte Pattisons Anweisungen.

Jeff machte zwei Schritte auf das Inferno zu, dann blieb er stehen. Für einen Einsatz in einem brennenden Gebäude fehlte ihm die passende Ausrüstung. Mit den Augen suchte er die Umgebung nach den beiden Teams ab, die bisher auf den Befehl zur Erstürmung der Hütte gewartet hatten. Er riss sich das Headset herunter. Das panische Geschrei machte ihn fast taub. So konnte er nicht denken.

»Neiiiin! Jack, nein!«

Jeff fuhr zu der Stimme hinter ihm herum. Ein hochgewachsener Mann jagte auf ihn zu. Er starrte direkt in die Flammen. Jeff riss das Gewehr hoch, dann registrierte er die schwarze Strickmütze und die schwarze Jacke. Er ließ das Gewehr wieder sinken. Die zweite Zivilperson. Als der Mann an ihm vorbeisprintete, warf Jeff sich auf ihn und riss ihn in den Schnee. Beim Football hätte ihm diese Aktion eine hohe Raumstrafe eingebracht. Der Mann trat um sich, traf Jeff im Gesicht. »Loslassen! Loslassen! Ich muss sie da rausholen!«

Jeff drückte den Mann mit seinem ganzen Gewicht zu Boden und packte ihn an den wild rudernden Armen.

»Runter von mir, verdammt! Ich muss da rein!«

Jeff riss die Hände des Mannes grob nach hinten und presste sein Gesicht in den Schnee. »Das geht nicht! Es ist zu spät!«

Der Mann hörte plötzlich auf, sich zu wehren. Schnaufend hob er den Kopf und starrte auf die brennende Hütte. Dabei murmelte er etwas Unverständliches. Seine Worte klangen nass.

Beim Anblick der Feuerhölle zog Jeffs Magen sich zusammen. Die Hütte brannte noch keine fünfzehn Sekunden und schon loderten die Flammen durch das Dach. Schwarze Rauchwolken mischten sich mit den schweren Schneeflocken.

So etwas konnte kein Mensch überleben.

Noch nie zuvor in seinen acht Jahren beim Sonderkommando hatte Jeff sich so hilflos gefühlt.

Zwei Schüsse hallten durch den Wald. In der Kommandozentrale flogen alle Köpfe hoch. Obwohl die Männer keinen Sichtkontakt mit der Hütte hatten, wussten sie, dass die Schüsse von dort kamen.

»Sind das die Scharfschützen?«, schrie Mason Pattison an. Pattison schüttelte den Kopf. Mason erschrak über die Angst im Gesicht des Einsatzleiters. Der Mann wirkte plötzlich verletzlich.

»Die Hütte brennt«, flüsterte Pattison. Er und Mason starrten einander an.

»Was brennt?«, schrie Lusco.

»Die Hütte. Die verdammte Hütte. Team Eins! Bewegt eure Ärsche da rein!« Pattisons Gesicht glühte vor Wut. Er hatte sich wieder im Griff.

»Cordova! Black! Ellison! Was sehen Sie?«

Mason rannte auf die Bäume zu, doch Ray riss ihn am Arm zurück. Ärgerlich wollte Mason seinen jüngeren Partner abschütteln und ihm gleich noch eine verbale Ohrfeige verpassen. Doch der Zorn in Rays Augen hielt ihn davon ab.

»Was willst du denn tun, du Idiot? Du behinderst die Männer doch bloß bei ihrer Arbeit!«

Mason konnte nicht sprechen. Er hatte einen riesigen Klumpen in der Kehle.

Ray hatte recht.

Er starrte in den goldenen Schein, der zwischen den Bäumen immer heller wurde, schloss die Augen und betete stumm.

Lacey hustete und würgte.

Der dichte Rauch machte ihren Mund und ihre Kehle schmerzhaft trocken. Noch eine Minute, dann werde ich vom Rauchgas ohnmächtig. Dann spüre ich die Flammen nicht. Sie drückte erschauernd ihr Gesicht an den Boden. Der Raum heizte sich immer mehr auf, die Flammen waren nur wenige Meter entfernt.

Lacey schluchzte laut auf. Sie würde verbrennen. Wie die Mädchen im Leichenschauhaus. Wie in ihren schlimmsten Alpträumen.

»Da bist du ja.« Lacey spürte, wie starke Hände sie hochheben wollten. Etwas wurde über ihr Gesicht geworfen. Jack!

Er konnte sie nicht wegtragen. Sie war immer noch an den Ring gefesselt. Lacey hörte ihn fluchen, spürte, wie er an den Stricken riss. Sie fiel in sich zusammen, weinte. Er konnte sie nicht mehr rechtzeitig losbinden. »Lauf weg! Lass mich liegen und lauf weg!«, schrie sie. Sie spürte noch einen Ruck an den Stricken, versuchte, Jack mit den gefesselten Händen wegzustoßen. Sehen konnte sie nichts, er hatte ihr seine Jacke übers Gesicht geworfen. Lauf weg!

Er ließ sie wieder auf den Boden sinken. Schmerz schoss durch ihren Kopf. Sie spürte, wie er sich entfernte, und atmete erleichtert aus. Gut. Er floh. Er würde in Sicherheit sein.

Die Fesseln fingen an, an ihren Fußgelenken zu reiben. Jack bearbeitete sie mit einem Messer. Plötzlich schnappten Laceys Beine hoch. Das Messer polterte zu Boden und Jack riss sie in seine Arme.

Verdammter Idiot! Die Zeit reichte nicht, um sie auch noch mitzunehmen. Lacey trat und schlug um sich, wehrte sich gegen seinen Griff. Sie warf den Kopf hin und her, um seine Jacke loszuwerden.

»Lacey! Halt still, verdammt!«

Sie spürte, wie er stolperte. Unsanft krachten sie zu Boden. Jack landete auf ihr und presste ihr die Luft aus der Lunge. Verzweifelt wand sie sich unter ihm. Er musste hier weg!

»Zwing mich nicht, dich k. o. zu schlagen. Hör auf, dich zu wehren.«

Er hob sie wieder hoch und warf sie sich über die Schulter wie einen nassen Sack. Dabei klaffte die Jacke über ihrem Gesicht auf. Lacey atmete tief ein.

Sofort hatte sie das Gefühl, ihr Rachen würde kochen. Sie hustete und würgte. Ihre Schleimhäute fühlten sich an wie versengt. Dunkle Nebel zogen vor ihren Augen auf; sie rang nach Luft. Umsonst. Sie trieb auf dem Rauch davon.

Was sollte das?

Lacey zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Jack verstand nicht, warum sie sich gegen ihn wehrte.

Seine Schüsse hatten zwei Löcher in die Stirn des Dreckskerls gerissen. Gleich darauf hatte er Lacey kurz aus den Augen verloren, weil an den Wänden in einer Kettenreaktion in rasender Folge kleine Sprengsätze explodierten und den Raum mit schwarzem Rauch füllten. DeCosta musste einen Sekundenbruchteil vor dem Einschlag der Geschosse auf den Fernzünder gedrückt haben. Auf den Knien robbte Jack zu Lacey. Dabei hielt er sich die Jacke über Nase und Mund. Seine Augen brannten und tränten vom beißenden Rauch.

Endlich fand er sie. Sie hatte sich zusammengerollt, hustete und machte keinen Versuch, aus der Hütte zu fliehen.

Sie hatte aufgegeben.

Doch plötzlich kämpfte sie gegen ihn, trat und schlug mit den gefesselten Händen um sich. Die Augen hielt sie fest geschlossen.

Er holte tief Luft und hielt den Atem an, bedeckte ihr Gesicht mit seiner Jacke und hob sie hoch. Aber sie war an den Boden gefesselt. Panisch riss er an den Stricken. Dann fiel ihm Alex’ Messer in seinem Stiefel ein. Schluchzend vor Erleichterung schnitt er Lacey los und riss sie wieder in seine Arme. Alles sah gut aus, bis sie ihn durch ihr Gezappel zu Fall brachte.

Er würde diesmal nicht versagen.

Wieder nahm er einen einzigen Atemzug. Dann warf er Lacey über seine Schulter. Vornübergebeugt rannte er zur Tür. »Was …« Seine Schienbeine knallten gegen einen niedrigen Tisch. Fast wäre er noch einmal gestürzt. Jacks Gedanken rasten.

Verdammt. Vorher war an der Tür kein Tisch gewesen.

Er hatte in dem Rauch und vor lauter Aufregung die Orientierung verloren.

Lacey hörte plötzlich auf zu zappeln und hing schlaff über seiner Schulter. Himmel, nein!

Benommen vom Sauerstoffmangel und blind vom Rauch drehte Jack sich um neunzig Grad und kämpfte sich durch die Dunkelheit. Er konnte den Atem nicht länger anhalten. Inzwischen war die Hitze so intensiv, dass sich auf seinen Armen und auf seinem Gesicht Blasen bildeten. Seine Panik wurde größer.

Wo war die verdammte Tür?

Mason und Ray rannten hinter Pattison her durch die Bäume. Wenn der Einsatzleiter zur Hütte konnte, würde Mason sich das nicht verbieten lassen. Sie liefen durch ein Chaos aus umhereilenden Einsatzkräften, Geschrei und Konfusion.

Dann erreichten sie eine Lichtung. Und die Hölle.

Die Hütte konnten sie nicht sehen, nur ein Flammeninferno. An den Enden der roten und orangefarbenen Feuerzungen bauschte sich schwarzer, erstickender Rauch. Selbst durch die eisige Winterluft hindurch versengte die Hitze Masons Gesicht. Obwohl er nicht allzu nahe am Brandherd stand, wich er einen Schritt zurück.

»Herr im Himmel«, flüsterte Ray. Er konnte den Blick nicht von den Flammen lassen.

Genau wie Mason.

Um die Lichtung bildete sich ein unregelmäßiger Kreis aus Cops und Sondereinsatzkräften. Der dicke Rauch und der Funkenflug hielten die Männer auf Abstand. Sie hofften auf ein Lebenszeichen. Etwas, das ihnen zeigte, dass noch jemand lebte.

Mason kniff die Augen zu und spürte die Hitze durch die geschlossenen Lider. Welche Höllenqualen durchlitten Harper und Lacey dort drin?

Plötzlich hörte er rechts von sich einen Schrei; eine blonde Frau stolperte aus dem Wald. Masons Herz setzte zwei Schläge lang aus.

Sie hatte es geschafft.

Er blinzelte gegen den beißenden Rauch an. Das war nicht Dr. Campbell. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Lacey war im Feuer gefangen.

Drei Cops hielten die Frau davon ab, zu der brennenden Hütte zu laufen. Schreiend wehrte sie sich gegen die Umklammerung. Mason verstand nicht, was sie sagte.

»Verdammt. Das ist Kelly Cates!«, rief Ray über das aufgeregte Geschrei hinweg.

Was hatte das zu bedeuten?

Neue Schreie lenkten seine Aufmerksamkeit wieder zu der Hütte. In den Flammen bewegte sich etwas. Menschen.

Mit offenem Mund sah Mason zu, wie Harper mit Lacey über der Schulter aus den Flammen stolperte. Harper fiel auf die Knie, warf Lacey zu Boden und zog ihr eine brennende Jacke vom Gesicht. Sein Haar qualmte und einer seiner Hemdsärmel brannte.

Alle rannten gleichzeitig zu dem Paar im Schnee. Jemand warf eine Jacke über Jacks Arm, um die Flammen zu ersticken. Mason warf ihm seine eigene über den Kopf und verhinderte damit, dass Harpers Haar endgültig in Brand geriet. Als Harper vornüberfiel, fing er ihn auf. Das Gesicht des Mannes war schwarz und er hatte Blasen an den Händen. Harper wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.

Die Cops schleiften die beiden Brandopfer weiter vom Feuer weg. Mason drückte Harpers versengte Hände in den Schnee. Harper suchte mit rot geäderten Augen Masons Blick. Aus seinem Mund kam ein Krächzen.

Mason schüttelte den Kopf. »Sprechen Sie jetzt nicht.«

Der verbrannte Mann schob Mason zur Seite. Er wollte Lacey sehen.

Sie lag mit ausgebreiteten Armen reglos auf dem Rücken im Schnee. Zwei Männer hatten mit Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen.

Aus Harpers verbrannter Kehle stieg ein Klagelaut. Unbeholfen wollte er sich zu Lacey robben. Mason packte ihn, schlang die Arme von hinten um seine Schultern und hielt ihn fest. Durch Harpers Rücken spürte Mason, wie das Herz des Mannes hämmerte. Endlich verstand er auch Harpers Gestammel.

»Ist sie tot?«

Mason konnte die Frage nicht beantworten. Die Cops reanimierten Dr. Campbell weiter. Bitte lasst sie nicht sterben. Harpers Schultern sackten zusammen. Er lehnte sich schwer gegen Mason.

Nach einigen Intervallen gab der Cop, der Lacey beatmete, dem Mann, der die Herzmassage durchführte, ein Zeichen aufzuhören. Er suchte an Laceys Hals nach einem Puls. Alle starrten angespannt auf ihren Brustkorb, hofften, dass er sich heben und senken würde. Der Augenblick zog sich endlos in die Länge. Dann grinste der Cop seinen Partner an. »Sie atmet. Der Puls ist regelmäßig.«

Harper holte rasselnd Luft. »Gott sein Dank!«, krächzte er.

Mason dachte stumm dasselbe.