DREI

Staatspolizei. Selbst aus knapp fünfzig Metern Entfernung erkannte Jack, dass die beiden Männer in Zivil, die jetzt bei der Gruppe von Cops aus Lakefield standen, auswärtige Polizisten waren. Laut Terrys Aussage war das Dezernat von Lakefield einfach zu klein, um diese Art von Ermittlung allein zu stemmen. Terry deutete auf Jack, und die beiden Fremden starrten zu ihm herüber.

Jack sah zu, wie Terry und die zwei Detectives durch den Schnee zu ihm stapften. Das Haar des Älteren war bereits deutlich von Grau durchzogen. Er war mittelgroß und hager. Beim Anblick seines schwarzen Cowboyhutes und der Stiefel konnte Jack ein Grinsen nicht unterdrücken.

Kleideten sich so nicht immer die Bösen?

Der zweite Detective war jünger und kräftiger und hatte den Gang und die Haltung eines Amateurgewichthebers. Er gehörte zu den Männern, deren Arme beim Gehen nicht schwangen, weil Muskelpakete im Weg waren. Kein Cowboyhut. Jack entdeckte den gestärkten Kragen eines weißen Anzugshemdes und den Knoten einer roten Powerkrawatte unter Muskelmanns Mantel. Fesches Kerlchen.

»Jack Harper?«

»Ja.«

Der ältere Detective streckte die Hand aus und musterte Jack forschend. Der Cop wusste genau, wer Jack war. Er hatte nur aus Höflichkeit gefragt.

»Mason Callahan. Oregon State Police, Dezernat für Kapitaldelikte. Das ist Detective Ray Lusco.« Beide hielten kurz ihre Marken in die Höhe, dann kam Callahan ohne Umschweife zur Sache. »Sie sind der Besitzer des Gebäudes, korrekt?«

»Es gehört meiner … unserer Firma. Meinem Dad und mir. Ich war seit mindestens acht Jahren nicht mehr hier. Eine Hausverwaltungsfirma kümmert sich vor Ort um alles, was anfällt. Über das Haus kann ich Ihnen nicht viel sagen. Aber ich kann die Mieterliste und die Abrechnungen besorgen.«

Callahan richtete sich ein wenig auf. Jack wusste, dass der Cop geglaubt hatte, er würde sich winden und erst kooperieren, wenn man ihm eine richterliche Anweisung vorlegte. Die grünen Augen des Detectives leuchteten fast unmerklich auf. Anscheinend war ihm gerade ein Licht aufgegangen.

»Sie waren früher bei der Polizei hier in Lakefield. Sie sind der Cop, der damals angeschossen wurde.«

»Jep. Aber das ist schon eine Weile her.« Jacks Lippen wurden schmal. Verdammt. Neben ihm drückte Terry den Rücken durch und Jack hörte, wie er mit den Zähnen knirschte.

Jack hielt den Blickkontakt mit Callahan aufrecht. Dass der Cop so viel wusste, behagte ihm nicht, aber diese Informationen waren kein Geheimnis. Alle Zeitungen hatten Jacks Bild damals eine ganze Woche lang Tag für Tag abgedruckt. Lusco sagte nichts, doch Jack sah seine Augenbrauen hochschnellen, als auch er endlich verstand, wen er vor sich hatte. Das Hirn ließ sich nun mal nicht so leicht trainieren wie der Bizeps.

»Was können Sie …«

Die große, schwarzhaarige Frau aus dem Zelt kam anmarschiert und schob sich zwischen Callahan und Jack. Gebieterisch hielt sie dem Detective einen Beweismittelbeutel unter die Nase. Er machte keine Anstalten, danach zu greifen.

Als er sah, dass die Frau ungeduldig mit dem Fuß aufstampfte, biss Jack sich auf die Wange.

»Das müssen Sie sich ansehen. Steven hat es grade eben zwischen den letzten Knochen gefunden. Und Sie müssen mit Dr. Campbell sprechen. Sie hat das Opfer identifiziert.«

Dr. Campbell? Und sie kannte das Opfer? Jack schüttelte den Kopf. Vor zehn Minuten hatte er die Frau im Zelt festgehalten, weil ihr die Beine weggeknickt waren, und sie auf einen Stuhl gesetzt. Dabei war ihm aufgefallen, wie unglaublich klein und zierlich sie war und wie gut sie roch. Nach Zimt oder Vanille oder irgendetwas aus einer Bäckerei. Dieser Duft passte so gar nicht in das Totenzelt. Dr. Peres hatte der Frau den Kopf zwischen die Knie gedrückt und Jack und Terry vor die Tür gesetzt. Eigentlich hatte er bleiben wollen, doch Dr. Peres duldete keinen Widerspruch und schien abgesehen davon die Lage sehr gut im Griff zu haben. Beim Hinausgehen hatte er zwar noch den Namen der zierlichen Blonden aufgeschnappt, dabei aber nichts von einem Doktortitel gehört.

Die Detectives starrten Dr. Peres sprachlos an. Jack zog das Handgelenk der Frau zu sich, um den Beutel besser sehen zu können. Darin lag ein glänzendes, ovales Metallstück. Eine Dienstmarke. Terrys Gesicht sagte Jack deutlich, was der Anblick des Beweisstücks in dem Cop auslöste.

Es handelte sich um eine Marke aus Lakefield.

Mit zusammengekniffenen Augen studierte Jack die Nummern auf dem Metall. Es gelang ihm, die ersten vier Zahlen zu lesen, dann fiel ihm das Herz direkt bis zu den eiskalten Zehen.

Vor ein paar Minuten hatte es aufgehört zu schneien und der Oregon State Detective Mason Callahan blickte hinauf in den grauen Himmel. Der sah aus, als könnte er das weiße Zeug noch stundenlang zur Erde kippen. Weitere fünfzehn Zentimeter bis zum Abend? Langsam glaubte er den Wetterfröschen, die behaupteten, dieser Winter könnte für Oregon einer der härtesten seit Jahrzehnten werden. Dem Himmel sei Dank für den Allradantrieb.

Ein Blick Richtung Mehrfamilienhaus zeigte ihm, dass Dr. Peres und ihre Techniker noch immer im Zelt arbeiteten. Was für Schätze würden sie noch finden?

Eine Polizeimarke zwischen den Knochen eines mysteriösen Skeletts.

Mason gefiel das überhaupt nicht.

Die Markennummer wurde gerade überprüft, um den Besitzer festzustellen. Jack Harper hatte geschworen, er würde die Nummer kennen – genau wie den Cop, zu dem sie gehört hatte. Doch die Detectives brauchten eine offizielle Bestätigung. Harper arbeitete seit Jahren nicht mehr bei der Polizei in Lakefield. Er konnte sich täuschen.

So lang sie auf den Rückruf warteten, befragten Mason und Ray die kleine Zahn- und Kieferspezialistin. Dr. Campbell hockte auf dem Klappheck eines alten Chevy Pick-ups auf dem vereisten Parkplatz, das im Augenblick als provisorischer Befragungsraum diente.

Die Detectives tauschten über Laceys Kopf hinweg stumme Blicke aus. Eingemummt in ihre Jacke und einen geborgten gelben Parka sah Dr. Campbell aus wie ein Teenager. Alle paar Sekunden durchlief sie ein so heftiger Schauer, dass sie fast ihren Kaffee verschüttete. Sie hatte noch keinen Schluck getrunken.

Für eine forensische Spezialistin wirkte sie viel zu jung. Angeblich arbeitete sie außerdem als Dozentin an der angesehenen zahnärztlichen Fakultät auf dem Marquam Hill, dem Hügel, der in Portland den Spitznamen Pill Hill trägt. Die Informationen stammten von der forensischen Anthropologin. Diese kratzbürstige Dame wirkte so sachlich und distanziert, dass Mason geneigt war, ihr zu glauben. Er hatte damit gerechnet, tage- oder wochenlange Nachforschungen anstellen zu müssen, um das Skelett identifizieren zu können. Und jetzt präsentierte ihm die kleine Zahnärztin ganz überraschend den Namen des Opfers.

So einfach konnte die Sache doch nicht sein.

Mason stellte einen Fuß auf den Kotflügel des Trucks, legte den Unterarm über seinen Oberschenkel und setzte die Befragung fort.

»Wegen den Zähnen und der Halskette sind Sie also überzeugt, dass es sich um Ihre College-Freundin handelt?«

»Ja. Wie oft denn noch?« Dr. Campbell sprach, als hätte sie einen Fünfjährigen mit einem besonders schweren Fall von ADS vor sich. Sie stellte ihren Kaffee ab.

»Suzanne wurde vor elf Jahren in Corvallis vom sogenannten College-Girl-Killer verschleppt. Als man ihn geschnappt hat, gestand er, sie ermordet zu haben, weigerte sich aber zu sagen, wo er die Leiche versteckt hatte.« Sie sah Mason mit ungeduldigen braunen Augen an und zählte die Fakten an den Fingern ab. »Suzanne trug eine Halskette wie diese hier. Und zwar immer. Zwischen den Knochen lagen Haarsträhnen in Suzannes Blondton. Und die altmodischen Goldbrücken kenne ich leider genau. Ich musste sie mal während eines Turnwettkampfes für sie halten, weil sie den Behälter dafür vergessen hatte.« Lacey ließ die Hände sinken. »Erinnern Sie sich denn nicht an den College-Girl-Killer?« Beim letzten Wort versagte ihre Stimme.

»Ich bin mit dem Fall vertraut.« Das war eine krasse Untertreibung. Mason hatte zu der Sonderkommission gehört, die auf den Serienmörder angesetzt worden war, und die Erlebnisse von damals hatten sich für immer in sein Gedächtnis gebrannt. Plötzlich spürte er ein Ziehen im Bauch. Seit ihm bewusst geworden war, dass das Skelett etwas mit diesem kranken Stück Dreck, dem College-Girl-Killer Dave DeCosta zu tun haben könnte, hatte sein Magen die Säureproduktion hochgefahren.

Vor zehn Jahren hatte der Fall monatelang Schlagzeilen gemacht. Mason erinnerte sich an die jungen Frauen, die damals vom College-Campus verschwunden waren. Ihre Leichen, die später in den dunkelsten Ecken der Stadt auftauchten, wiesen Folterspuren auf. Das Gerücht ging um, der Green-River-Killer habe Seattle verlassen und sei nach Süden weitergezogen. Besorgte Eltern meldeten ihre Töchter panikartig von der Oregon State University ab, während die offiziellen Vertreter der Uni erfolglos versuchten, die Massenflucht aus ihren Instituten zu stoppen. Auch über okkulte Praktiken und Mädchenhandel war damals im ganzen Staat spekuliert worden.

Die Verbrechen waren der Alptraum aller Eltern gewesen.

Und jeder Cop hatte nur das eine Ziel gekannt – den Täter zu fassen.

Anfangs hatte die Polizei Suzanne Mills nicht zu den Opfern gezählt. Im Gegensatz zu den anderen Frauen war sie nicht direkt vom OSU-Campus verschwunden. Sie war in einem Geschäftsviertel fernab der Uni entführt worden und blieb verschwunden, während die Leichen der anderen Opfer stets jeweils zwei bis drei Wochen nach ihrer Verschleppung gefunden worden waren. Nach seiner Verhaftung hatte Dave DeCosta gestanden, auch Suzanne entführt zu haben, wodurch sie offiziell zu seinem neunten Opfer erklärt wurde. Doch DeCosta weigerte sich, der Polizei das Versteck der Leiche zu nennen.

Sämtliche Cops hatten erleichtert durchgeatmet, als der Killer gefasst worden war. Mason war nach Hause gegangen und hatte – froh, dass der Alptraum vorüber war – vierundzwanzig Stunden lang geschlafen.

Einen Fall wie diesen hatte er nie wieder gehabt und das war gut so.

Mason standen die Bilder der Opfer noch immer vor Augen. Während der Ermittlungen hatte er sich jedes einzelne tausendmal angesehen. Auch an das Foto der temperamentvollen blonden Turnerin erinnerte er sich noch gut. Sie war ein sehr hübsches Mädchen mit einem breiten Lächeln und blonden Lockenkringeln gewesen. Diese frische, energiesprühende Schönheit, die sie und die anderen Opfer zu etwas Besonderem machte, hatte den Killer vermutlich magisch angezogen. Alle waren Sportlerinnen gewesen und blond.

Nur in Suzannes Fall gab es eine Zeugin für die Entführung. Suzanne war mit einer anderen Turnerin zusammen durchs Stadtzentrum spaziert. Die beiden wollten zu einem Mannschaftsdinner in einem Restaurant in der Nähe. DeCosta hatte zuerst die Zeugin attackiert. Sie hatte sich erfolgreich gegen den Dreckskerl gewehrt, dabei allerdings einen Beinbruch und schwere Kopfverletzungen davongetragen. Nach dem Kampf mit der Zeugin hatte DeCosta sich auf Suzanne gestürzt, sie k. o. geschlagen und zu seinem Wagen geschleppt. Obwohl sie schwer verletzt in einer Blutlache auf dem Gehsteig gelegen hatte, war es der anderen jungen Frau gelungen, sich einen Teil des Nummernschilds zu merken. Später hatte sie vor Gericht gegen den Killer ausgesagt.

Auch das Bild der übel zugerichteten Zeugin hatte sich in Masons Gedächtnis gegraben. Sie saß jetzt vor ihm. Er musterte das verstörte Gesicht der jungen Frau.

»Sie waren dabei«, sagte er leise. »Sie waren diejenige, die ihm damals entkommen ist.«

Dr. Campbell reagierte nicht.

Aus dem Augenwinkel sah Mason, wie Ray die Kinnlade herunterfiel. Zwar wusste jeder, dass es ein Mädchen gab, das dem Killer entkommen war, doch die Identität der Zeugin war nie preisgegeben worden. Ray musterte Dr. Campbell mit einer Mischung aus Neugier und Ehrfurcht.

Er hatte denselben unfassbaren Gedanken wie Mason: Die Frau, die das Skelett identifiziert hatte, und das Mädchen, das dem Mörder damals entkommen war, sollten ein und dieselbe Person sein?

»Sie waren das?«, fragte Ray.

Lacey nickte stumm.

»Und Sie sind sich ganz sicher, dass wir es mit dem Skelett von Suzanne Mills zu tun haben?«

Dr. Campbell sah Mason nicht an. Sie fixierte das triste Zelt, in dem die Überreste ihrer Freundin lagen.

»Besser als ich kennt sie keiner.«