SIEBENUNDZWANZIG

Als Lacey auf dem Weg zu ihrem Zimmer im Flur verschwand, atmete Jack tief durch. Noch zehn Minuten allein mit ihr und er hätte sie auf das schmale Bett geworfen. Dass sie sich weinend an seine Schulter geschmiegt hatte, hatte ihn beinahe um den letzten Rest Selbstbeherrschung gebracht. Er hatte sie getröstet und dabei im Kopf sämtliche Baseballergebnisse der letzten Saison aufgesagt, damit das Verlangen ihn nicht übermannte. Jetzt wollte sie sich ein wenig hinlegen und er suchte im Kühlschrank nach einem Bier.

Den glasigen Blick auf ihren leeren Stuhl gerichtet, trank er die erste Flasche mit einem Zug aus und griff gleich nach der zweiten.

»Sie ist toll.«

Jack zuckte zusammen. Er hatte Alex nicht zurückkommen hören. In der Hoffnung, dann etwas lockerer zu werden, schüttete Jack das zweite Bier in sich hinein. »Ja.«

Nach einem vielsagenden Blick auf die beiden leeren Flaschen öffnete Alex die Tür des Gefrierfachs. »Vielleicht hilft dir das hier weiter.« Er stellte eine Flasche Grey Goose und zwei Gläser auf den Tisch, setzte sich und schenkte ihnen ein.

»Ist es so offensichtlich?«

»Dich hat’s böse erwischt. Man sieht es beim ersten Blick in deine hübsche Visage.«

»Sie glaubt, du kannst sie nicht ausstehen.« Jack trank das Wodkaglas aus.

Alex schwieg.

»Ich habe ihr gesagt, du wärst ein großer Schweiger und sie soll es nicht persönlich nehmen. Mit Frauen nett zu plaudern, gehört nicht zu deinen Stärken.«

Alex leerte wortlos sein Glas und schenkte ihnen noch einmal nach. Jack stimmte in das freundschaftliche Schweigen ein und dachte dabei an die Frau im Gästezimmer.

Wie sollte es mit ihm und Lacey weitergehen? Wenn sie zusammen waren, brannte die Luft und er wollte jedes andere männliche Wesen verprügeln, das es wagte, auch nur einen Blick auf sie zu werfen.

Kein gutes Zeichen.

Etwas Vergleichbares hatte er noch nie für eine Frau empfunden.

Wurde er womöglich monogam? Er wollte nur noch sie. Was war aus dem Jack geworden, der vor allem seinen Spaß im Sinn hatte? Dem Kerl, der von ersten Dates nicht genug kriegen konnte, aber selten um ein zweites bat?

Seit Neuestem hatte er nichts Besseres zu tun, als sich zwischen eine Frau und einen durchgeknallten Serienmörder zu stellen. Gehirnzellenschwund. Eindeutig. Der Täter hatte in den letzten Tagen drei Männer umgebracht und ließ keinen Zweifel daran, dass er Lacey im Visier hatte.

Vielleicht tat sie Jack ja einfach nur leid.

Ja. Sicher. Und die Erde war eine Scheibe.

Oder erhoffte er sich vielleicht unbewusst Absolution? Rette diese Frau und tilge damit die Erinnerung an die Frau, die du nicht retten konntest? Jack starrte in das Wodkaglas und wünschte sich, er könnte sein Gehirn in dem Zeug marinieren. Vielleicht würde er dann endlich alles vergessen.

»Seltsam, dich wegen einer Frau so gefühlsduselig zu sehen. Diesen Jack kenne ich gar nicht.« Alex leerte erneut sein Glas. »Hast du ihr schon gesagt, warum du kein Cop mehr bist?« Alex besaß die unheimliche Gabe, seine Gedanken zu lesen.

»Nein.«

»Es war nicht deine Schuld, Mann. Du musst drüber hinwegkommen.«

Leichter gesagt als getan. Jack drückte die Handballen auf die Augen. Die Gespenster ließen sich damit nicht vertreiben.

Es war in seinem dritten Dienstjahr passiert. Man hatte ihm als Greenhorn Calvin Trenton zum Partner gegeben. Cal hatte erst gestöhnt und sich gewunden, ihm dann aber mit großem Einsatz alles beigebracht, was ein guter Cop können musste.

Jack hatte Cal bewundert. Dieser Mann konnte reden wie mit Engelszungen. Er schaffte es, einen betrunkenen Fahrer glauben zu lassen, er täte den Cops einen Gefallen, wenn sie ihn auf die Wache bringen durften. Häusliche Auseinandersetzungen endeten mit Lachsalven, verängstigte Kleinkinder klammerten sich an seine Hand. Er fand immer die richtigen Worte, um eine Situation zu entschärfen.

Aber ausgerechnet eine häusliche Auseinandersetzung hatte Jacks Leben komplett aus dem Lot gebracht. Die Wohnanlage kannten sie bereits. Jack und Cal waren schon öfter dorthin gerufen worden. Aber das streitende Paar an diesem Tag war neu. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen, beklagten sich über den Lärm und das Geschrei.

Die Leute waren Hispanoamerikaner. Vielleicht war es ja ein Sprachproblem gewesen, aber Jack und Cal hätten geschworen, dass das Paar sie verstand.

Die zweiundzwanzigjährige Rosalinda Quintero war hochschwanger und völlig außer sich. In ihrem Gesicht und an ihren Armen schillerten Blutergüsse in allen Farben und die sagten deutlich, dass sie mit jemandem zusammenlebte, dem die Hand ziemlich locker saß. Und das war nicht ihre zweijährige Tochter. Er und Cal hatten das Paar vor der Wohnung getrennt. Jack sprach mit der Frau, Cal redete beruhigend auf den Mann ein, Javier.

Javier war kleiner als seine Frau. Er war schmächtig und drahtig und sah mit dem schmalen Oberlippenbart aus wie ein Neunzehnjähriger. Doch das herausfordernde Blitzen in seinen Augen verriet, dass er sich für einen großen Mann hielt.

Rosalinda räumte ein, Javier hätte sie schon früher geschlagen, aber das sei im Moment nicht das Problem. Sie war wütend geworden, weil er »auf seinem faulen Arsch« saß, während die Kleine schrie und sie das Abendessen machte. Als sie Javier aufgefordert hatte, sich um ihre Tochter zu kümmern, damit sie das Essen zum Tisch bringen konnte, war er explodiert. Von da an hatten sie über alles mögliche gestritten. Über Geld, schmutzige Schuhe auf sauberen Fußböden, immer weiter und weiter.

Während sie sich bei Jack über Javier beklagte, wurde Rosalindas Stimme schriller. Jack fiel auf, dass Javier ihnen immer wieder feindselige Blicke zuwarf. Als Rosalinda anfing, ihren Mann anzuschreien, versuchte Jack, sie in die Wohnung zu drängen. Er wollte für mehr Abstand zwischen den Parteien sorgen. Cals Stimme klang weich und schmeichelnd. Das sollte Javier besänftigen. Aber den interessierte das nicht.

Er fing an, seine Frau mit Schimpfworten zu überschütten. Jack hatte in den vergangenen zwei Jahren ganz gut Spanisch gelernt, verstand aber nur ein einziges Wort: puta. Hure.

Rosalindas Kopf färbte sich dunkelrot. Sie schob eine stützende Hand unter ihren schwangeren Bauch, dann schrie sie zurück. Jack betrachtete nervös die pralle Wölbung. Er hatte Angst, die Wehen könnten gleich einsetzen.

Aus den umliegenden Wohnungen kamen Nachbarn, um sich das Spektakel anzusehen. Ein paar Frauen ergriffen lautstark Partei für Rosalinda, was Javier noch wütender machte. Die Männer traten von einem Fuß auf den anderen, sahen sich das hitzige Schauspiel an und gaben gelegentlich einen Kommentar ab. Das allgemeine Gemurmel auf Englisch und Spanisch wurde lauter. Jack fing Cals Blick auf. Die Situation drohte zu eskalieren, vielleicht sogar in eine Massenkeilerei auszuarten.

»Gehen Sie bitte zurück in Ihre Wohnungen! Das hier geht nur die Quinteros etwas an. Alle anderen verlassen jetzt das Treppenhaus.« Der Menge gefielen Cals Anweisungen nicht.

»Er schlägt sie. Sie ist schwanger und er schlägt sie!«, schimpfte ein hübsches junges Mädchen im Jennifer-Lopez-Look. Die anderen Frauen nickten zustimmend.

»Halt die Fresse!« Ein älterer Hispanoamerikaner in schlabberigen Jeans schlug dem Mädchen in Zuhältermanier ins Gesicht. Die Frauen und einige Männer schrien empört auf. Kleinere Gruppen drängten näher. So nahe, dass Jack unbehaglich zumute wurde. Erneut versuchte er, Rosalinda in die Wohnung zu schieben.

Doch sie drängte sich an ihm vorbei und schrie dem Kerl, der das Mädchen geschlagen hatte, Beleidigungen ins Gesicht. Jack warf Cal einen gehetzten Blick zu. Cal sagte gerade etwas in sein Funkgerät. Gleichzeitig bemühte er sich, den Ehemann in Schach zu halten. Gott sei Dank. Sie brauchten dringend Verstärkung. Jack bemerkte, wie sich drei junge Männer mit listigen Mienen immer näher an Cal und Javier heranschoben.

Bevor Jack Cal warnen konnte, stellten sich den jungen Kerlen zwei ergraute Großmütter in den Weg und lasen ihnen auf Spanisch tüchtig die Leviten. Mit schuldbewussten und verlegenen Mienen zogen sich die drei Jungs zurück. Die Frauen applaudierten den alten Damen mit Jubelrufen, die Männer murrten.

Cal drängte Javier in Richtung Streifenwagen, um ihn von der Menge zu trennen. Rosalinda sah, wohin sie unterwegs waren. Sie japste auf und stieß Jack beiseite. Erstaunlich agil rannte die hochschwangere Frau die Betontreppe hinunter und kämpfte sich durch die Schaulustigen hindurch. Jack stürzte ihr nach.

Er nahm an, sie wolle Cal davon abhalten, ihren Mann mitzunehmen. Mit schriller Stimme stieß sie einen ganzen Wortschwall aus. Javiers Gesicht wurde rot vor Zorn. Jack verstand ansatzweise, dass Rosalinda hoffte, die anderen Kerle im Gefängnis würden es Javier richtig besorgen. Jack hätte es nicht für möglich gehalten, aber Javiers Gesicht färbte sich noch dunkler, als Rosalinda schrie, jetzt könne sie endlich mit dem Vater des Babys zusammen sein.

Schlagartig wurde es still. Die Menge schwieg wie im Schock. Nur das leise Jammern von Rosalindas zweijähriger Tochter war zu hören.

Die zwei Sekunden der Stille dröhnten so laut in Jacks Ohren wie der Schuss, der gleich darauf erschallte. Javier zog eine Pistole aus dem hinteren Hosenbund unter seinem Hemd. Lächelnd zielte er auf Rosalindas Bauch.

Als der Schuss sie zu Boden warf, brüllte die Menge auf. Ein Teil der Leute stürzte zu Rosalinda, um ihr zu helfen. Ein anderer Teil wollte sich auf Javier stürzen. Bevor der Erste ihn erreichte, ließ er die Hand mit der Waffe schlaff an seine Seite fallen. Er warf Jack einen triumphierenden Blick zu. In den arroganten braunen Augen lag keine Spur von Bedauern oder Reue.

Die Kugel, die Rosalinda getroffen hatte, war wieder ausgetreten und hatte sich in Jacks Oberschenkel gebohrt. Den unsäglichen Schmerz in seinem Bein spürte er erst, als er bereits neben der verletzten Frau kniete. Hart setzte er sich auf den Boden, betrachtete seine bluttriefende Hose und fragte sich, warum er Schmerzen spürte, wo doch Rosalinda angeschossen worden war.

Jack umklammerte seinen Drink mit beiden Händen. Er saß immer noch an Alex’ Tisch. Angestrengt versuchte er, den Gesichtsausdruck der sterbenden Frau aus seinen Gedanken zu wischen. An diesem Tag hatte er versagt und Rosalinda hatte den Preis dafür bezahlt.

Die anschließende Untersuchung ergab, dass ihn und Cal keine Schuld am Ausgang des Streits traf. Die Situation war einfach viel zu schnell aus dem Ruder gelaufen. Javier hockte jetzt im Knast, seine Tochter lebte bei ihrer Großmutter. Ihre ungeborene kleine Schwester hatte es nicht geschafft.

Jack hätte viel schneller handeln müssen.

Alex schenkte sich nach und ließ sein Glas in einem freudlosen Zuprosten gegen Jacks Glas klirren.

»Ich hab was.«

Mason blicke von den Tatortfotos aus Richard Bucks Haus auf. Ray sah aus, als hätte er den Lotto-Jackpot geknackt. Zweimal hintereinander. Mason hatte erfolglos versucht herauszufinden, wo die Angelhaken herkamen. Anscheinend hatte Buck die Köder fürs Fliegenfischen selbst hergestellt.

»Was gibt’s?« Mason war müde und genervt. Pochende Schmerzen hinter der Stirn sprengten ihm fast den Schädel.

Rays Augen glühten. »Eine religiöse Kommune, eine Art Sekte. Linda DeCosta lebt mit denen irgendwo am Arsch der Welt. Ganz im Südosten von Oregon. Ziemlich fanatische Truppe. Jeder Mann hat fünf Frauen und mindestens zwanzig Kinder.«

»Ja!« Mason stieß die Faust in die Luft. Die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen.

»Und ihr Sohn?«

Ray schüttelte den Kopf. »Über seinen Bruder habe ich nichts. Und die Mutter habe ich auch nur mithilfe der zornigen Exfrau des Mannes gefunden, bei dem Linda jetzt lebt. Die Exfrau arbeitet dort unten mit der Polizei zusammen. Die sammeln Material für die Strafverfolgung. Der Kerl arrangiert Ehen. Und soweit ich verstanden habe, sind einige der Bräute erst vierzehn.« Ray rümpfte angewidert die Nase.

»Das ist total krank.« Der Fall wurde mit jedem neuen Detail, das sie entdeckten, widerwärtiger. »Wer zum Teufel heiratet gleichzeitig eine Vierzehnjährige und eine Mittfünfzigerin wie Linda DeCosta?«

»Sie ist nicht verheiratet. Sie arbeitet dort als Haushälterin oder Kindermädchen. Selbst fanatische Polygamisten heiraten nicht wahllos.«

»Wir müssen unbedingt hinfahren.« Mason fühlte sich plötzlich wieder frisch. Endlich hatten sie eine Spur, die sie vielleicht weiterbrachte. Er stand auf, schob die Fotos auf einen Stapel zusammen und knallte die Aktenordner zu.

»Ich habe Brody einen kleinen Hinweis gegeben.«

Mason erstarrte mitten in einer Bewegung. »Scheiße, was hast du grade gesagt?« Wie kam Lusco bloß auf diese abstruse Idee? »Hat deine Mutter dich zu früh abgestillt, Ray? Stimmt irgendwas mit deinen grauen Zellen nicht?«

»Brody ist in Mount Junction, nicht allzu weit von der Kommune entfernt. Dieser Reporter ist ein helles Kerlchen. Außerdem hat er mehr Kontakte als J. Edgar Hoover. Ich dachte, er könnte schon mal ein bisschen recherchieren, damit wir keine Zeit verschwenden, falls die Spur wieder mal in eine Sackgasse führt.« Ray hielt Masons aufgebrachtem Blick stand. Sein Partner sollte bloß die Luft anhalten. »Unser Killer ist hier in Portland. Nicht irgendwo in einem abgelegenen Kaff im Südosten.«

Schweigend dachte Mason über Rays Vorgehen nach. In der Sache hatte er recht. Aber nicht mit seinen Methoden. So etwas konnte sie beide den Job kosten. »Kein Wort zu irgendjemandem. Finde eine Polizeiwache in der Nähe. Die sollen sich mal ganz offiziell mit der Frau befassen.«

»Schon passiert. Die nächstgelegene Dienststelle ist hundert Meilen von der Kommune entfernt. Die Cops dort suchen gerade nach ein paar vermissten Jägern. Das hat Vorrang vor einer Zeugenbefragung. Der Sheriff von Malheur County meinte, sie würden versuchen, sich in ein oder zwei Tagen darum zu kümmern. Die Kommune liegt einfach zu weit draußen und dem Sheriff fehlt das Personal.« Ray zog eine bedauernde Grimasse. »Deshalb kam ich ja erst auf die Idee, Brody anzurufen.«

»Er soll sich alle zwei Stunden bei uns melden.«

»Ich habe gesagt stündlich. Er braucht keine Extraaufforderung, keinen Blödsinn zu machen. Brody steckt emotional tiefer drin als jeder andere. Er ist halb wahnsinnig vor Sorge um Dr. Campbell. Eigentlich bin ich sogar froh, dass er grade aus der Stadt und aus der Schusslinie raus ist.«

Mason teilte Rays Meinung nur bedingt. Ihm fiel auf Anhieb ein Mann ein, der emotional noch tiefer drinsteckte.

Jack schloss die Tür des Zimmers, das Alex ihm zur Verfügung gestellt hatte, und stolperte in das angrenzende Bad. Ein toller Beschützer war er. Betrank sich mit einem Kumpel, während Cals Killer Jagd auf die hilflose Frau im Zimmer nebenan machte. Wobei er Lacey im Grunde gar nicht als so hilflos empfand. Sie war zäh und klug. Er wusste, dass sie Pfefferspray in der Tasche hatte und ihre Umgebung aufmerksam im Auge behielt.

An keinem anderen Ort der Welt würde er sich derart gehen lassen. Doch in Alex’ Haus fühlte er sich sicher. Sein Freund gab ihm Rückendeckung. Ein- oder zweimal, wenn die Ereignisse aus der Vergangenheit ihn überrollt hatten, hatte Alex ihn vom Boden aufgekratzt, wieder auf die Beine gestellt und an seine Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber erinnert. Seit dem fatalen Schuss damals war Alex’ Haus für Jack so etwas wie eine Oase geworden, in die er sich hin und wieder flüchtete. Lacey hatte er hierher gebracht, weil er wusste, dass sie hier sicher war.

Wegen des Alkohols schwankte er ein wenig. Er stützte die Hände aufs Waschbecken und sah in den Spiegel. Lacey brauchte ihn nicht. Er wollte es nur gern glauben. Dabei hätte ihre Katze sie genauso gut trösten können. Na prima. Er war vom Leibwächter zum schnurrenden Fußwärmer mutiert.

Irgendwer versank da gerade in Selbstmitleid.

Das passierte jedes Mal, wenn er an den Schuss dachte. Dann fühlte er sich wie eine Mogelpackung. Er hatte immer unbedingt ein Cop sein wollen, ein Teil des Schutzwalls zwischen den guten Bürgern und dem Abschaum. Aber er hatte versagt. Und kam mit den Folgen nicht klar.

Seit jenem Tag hatte er seinen Biss verloren. Seinen Mumm. Unsichere Situationen ertrug er nicht mehr. Aber das Leben eines Cops war voll davon. Der harmloseste Einsatz konnte plötzlich lebensgefährlich werden. Eine Verkehrskontrolle. Die Festnahme eines Ladendiebs. Eine häusliche Auseinandersetzung. Fahrlässigerweise hatten weder er noch Cal den jungen Mann nach Waffen durchsucht, und dieser Fehler hatte ein Menschenleben gekostet. Darüber kam Jack nicht hinweg. Deshalb hatte er den Dienst quittiert.

Und nun stand er da, ein betrunkener Idiot, der glaubte, er könne eine Frau vor einem Mörder schützen. Endlich hatte er diejenige getroffen, die bei ihm die richtigen Knöpfe drückte – und jetzt hatte er das Gefühl, nicht gut genug für sie zu sein.

Als er die Hand nach dem Wasserhahn ausstreckte, stieß er eine Haarbürste zu Boden. Er wollte sie aufheben, verlor das Gleichgewicht und knallte mit dem Kopf voran gegen die Tür der Duschkabine. »Scheiße!« Jack saß auf dem Fußboden, rieb sich den Kopf und hoffte, der Raum würde bald aufhören, sich zu drehen.

Die Tür zum anderen Schlafzimmer öffnete sich einen Spalt breit.

»Jack?«

»Nicht reinkommen.« So durfte sie ihn nicht sehen.

Sie stieß die Tür ein wenig weiter auf.

»Bist du betrunken?«

»Sieht so aus.« Er versuchte, ihr in die Augen zu sehen, konnte sich aber für keines der vier entscheiden. Trotzdem bemerkte er die Verwunderung in ihrem Blick.

»Du bist tatsächlich betrunken. Was hast du denn gemacht?«

»Getrunken.« Da musste sie noch fragen?

Er stemmte sich hoch und schlurfte aus dem Badezimmer zu seinem Bett. Auf der Bettkante sitzend schnürte er seine Stiefel auf. Das dauerte eine Weile.

Schließlich ließ er die Stiefel zu Boden fallen. Mit geschlossenen Augen legte er sich zurück. Viel besser.

Die Haarbürste landete mit lautem Geklapper auf der Spiegelkonsole. Jack riss die Augen auf. »Tschuldigung«, nuschelte er. Konnte noch nicht mal hinter sich aufräumen. Seine bleischweren Augenlider fielen wieder zu.

Es war zu still. Mühsam öffnete er ein Auge einen Spalt breit und zuckte zusammen. Ihr Gesicht war nur einen halben Meter von ihm entfernt. Sie musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Was ist?«

»So habe ich dich noch nie gesehen.«

»Du hast ja auch noch nicht viel von mir gesehen.« Er schloss die Augen, damit ihr Gesicht keine Pirouetten drehte. »Du weißt überhaupt nichts über mich. Vielleicht liege ich ja jeden Abend so da.«

»Das glaube ich nicht.« Ihre Stimme klang sanft. Er ließ sich auf ihren Worten treiben.

Lacey staunte nicht schlecht. Ihr großer starker Beschützer lag betrunken auf dem Bett. Wegen des Lärms im Bad hatte sie ihn für einen Einbrecher gehalten. Sie schnüffelte an ihm. Bier. Warum hatte er sich betrunken? Sie war doch hier diejenige mit dem Ballast.

Ein wenig beneidete sie ihn um das Delirium, das ihr in dieser Nacht gerade recht gekommen wäre. Sie überlegte, ob sie ihm das Sweatshirt ausziehen sollte. Er war in voller Montur aufs Bett gefallen. Nur die Stiefel hatte er ausgezogen. Zwar hatte er drei Minuten dafür gebraucht, aber immerhin war es ihm gelungen.

Jack in dem dicken Sweatshirt daliegen zu sehen, passte ihr gar nicht. Sie hasste das Gefühl, in Kleidern zu schlafen. Ihm war das im Moment vermutlich schnurz. Trotzdem zerrte sie am Ärmelbund des Sweatshirts und befreite den ersten Arm. Sie machte dasselbe mit dem zweiten, dann zog sie ihm das Shirt über den Kopf. Darunter trug er ein schwarzes, langärmeliges T-Shirt, das seine Brust- und Bauchmuskeln gut zur Geltung brachte. Lacey sah ihn sich in aller Ruhe an. Der Mann war wie aus Marmor gemeißelt. Und fast bewusstlos.

Seine Jeans störten sie zwar auch, aber davon würde sie die Finger lassen. Ganz sicher. Bei genauerer Betrachtung stellte sie fest, dass er sich mal wieder rasieren sollte. Vorsichtig berührte sie die Stoppeln an seinem Kinn. Ihn so ungeniert anschauen zu können, gefiel ihr.

Mit dem zerzausten kurzen Haar sah er unglaublich sexy aus. So als hätte er sich die ganze Nacht mit jemandem zwischen den Laken gewälzt. Die Bartstoppeln ließen ihn noch verwegener wirken als sonst. Lacey mochte diesen wilden Piratenlook, aber sie war froh, dass die beunruhigenden Augen sie im Moment nicht anstarrten. Die dichten, schwarzen Wimpern machten sie neidisch. Dafür würde eine Frau töten.

Aus dem Halsausschnitt des T-Shirts lugten ein paar schwarze Brusthaare. Vielleicht gehörte er zu den Männern, die so haarig waren wie ein Bär. Deren Rücken aussah wie ein Flokati. Das wäre dann der gerechte Ausgleich für die Traumwimpern. Vorsichtshalber sah sie nach, ob seine Augen noch zu waren. Er schlief, aber jetzt lächelte er. Es war ein kleines, zufriedenes Lächeln.

Lacey zog die Augenbrauen zusammen. Wovon träumte er? Von seinem letzten Trip nach Hawaii? Der letzten heißen Nacht mit einer Flugbegleiterin? Der Mann war ein Playboy. Das wusste sie. Mit ihm war Ärger vorprogrammiert; sie musste Abstand von ihm halten.

Lacey schnupperte an dem Sweatshirt in ihren Händen. Es roch nach einer Mischung aus Bierdunst und Jacks eigener maskuliner Note. Ein Cologne verwendete er anscheinend nicht. Das war gut. Es gefiel ihr, dass er immer nur nach gesundem, sauberem Mann duftete. Mit geschlossenen Augen sog sie den Geruch noch tiefer ein, spürte wie ihre Bauchmuskeln sich dabei lockerten. Bei diesem Gefühl musste sie lächeln. Widerstrebend öffnete sie die Augen, um nachzusehen, ob Dornröschen noch schlief.

Jack sah ihr direkt ins Gesicht. Ihre Hände erstarrten. Hatte er sie an seinem Shirt schnuppern sehen? Seine Mundwinkel kräuselten sich, die Augen mit den schweren Lidern blitzten triumphierend.

»Ich wusste, dass du mich magst.« Die Worte klangen ruhig, nicht betrunken. »Komm her.«

Bevor sie den Kopf schütteln konnte, schloss sich eine starke Hand um ihr Handgelenk und zog sie zu sich herunter. Sie stemmte das Knie gegen das Bett, doch er gab nicht nach.

»Leg dich hin«, befahl er ihr. Dabei hatte er alle Mühe, die Augen offen zu halten.

»Ich werde nicht …«

»Ich werde nicht über dich herfallen. Du sollst dich nur hinlegen. Ich will sicher sein, dass du sicher bist. Aber wenn du dort drüben im anderen Zimmer sitzt, so lang ich hier schlafe, geht das nicht.«

Sie versuchte, das Handgelenk wegzuziehen. Sich zu ihm ins Bett legen? Kam gar nicht infrage. Ihre Hormone führten einen Kriegstanz auf.

»Herrje. Ich lasse meine Klamotten an. Und du deine auch. Ich muss jetzt schlafen. Wenn ich dich dabei im Arm halten kann, weiß ich, dass dir nichts passiert, und kann mich eine Weile ausruhen.«

Das klang logisch. Irgendwie. Steif legte sie sich neben ihm auf die Decke. Sofort drehte er sie auf die Seite, weg von sich, dann schmiegte er sich in Löffelchenstellung gegen ihren Hintern und ihre Beine. Ein schwerer Arm fiel über ihre Brust, sein warmer Atem kitzelte sie am Ohr.

»So ist’s besser.«

Lacey spürte, wie seine Muskeln sich entspannten. Binnen Sekunden war er eingeschlafen. Wie schön für ihn.

Sie selbst war hellwach.

Blinzelnd schlug Lacey die Augen auf und sah sich erschrocken um. Sie lag in einem fremden Zimmer. Der warme Körper neben ihr gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Aber die Umgebung passte nicht.

Alex’ Haus. Richtig. Ihr Kopf sank zurück auf das Kissen. Jacks stiller, geheimnisvoller Freund mit den traurigen Augen. Und ein betrunkener Jack, der sie überredete, sich neben ihn zu legen. Sie streckte sich. Dabei rieben ihre Beine aneinander.

Nackte Beine?

Mit einem Schlag saß sie aufrecht im Bett. Sie riss die Decke zu ihrer Brust hoch. Wenigstens hatte sie ihr Shirt noch an. Ihr Blick fiel auf die glatte Haut von Jacks Rücken. Laceys Atem stockte. Gleichzeitig registrierte sie, dass er keinen pelzigen Bärenrücken hatte. Aber Kleider hatte er beim Einschlafen noch angehabt. Und sie hatten beide auf der Decke gelegen, nicht darunter.

Vorsichtig berührte sie ihn mit dem Zeh. Sie wollte wissen, ob seine Beine so nackt waren wie sein Rücken. Ihr Fuß fuhr zurück. Eindeutig ja. Oh Kacke. Laceys Mund wurde trocken.

Sie schwang die Beine aus dem Bett und fischte ihre Jeans aus dem unordentlichen Kleiderhaufen auf dem Fußboden. Seine Kleider lagen auf demselben Berg. Auweia. Sie sprang in die Jeans, dann saß sie auf der Bettkante und drückte die Finger gegen die Augen.

»Wohin willst du?« Seine Stimme klang rau vom Schlaf. Die Art, wie er die Worte in die Länge zog, jagte ihr kleine Schauer über den Rücken.

Zögernd drehte sie sich zu ihm um. Eine Hand unter den Kopf geschoben lag er auf dem Rücken. Die Augen unter den schweren Lidern sahen sie hellwach an. Und die verdammte Decke war nach unten gerutscht. Sie gab den Blick auf die muskulöse Brust und die Bauchmuskeln frei, die Lacey bereits durch das T-Shirt hindurch bewundert hatte. So sah er noch viel besser aus. Mit Mühe gelang es ihr, sich nicht zu besabbern. Sie zwang sich, ihm in die Augen zu schauen. Bloß nicht auf die Brust.

»Ich … ich stehe auf.«

Ein behäbiges Grinsen war die Antwort. Lacey spannte ihre eigenen Bauchmuskeln an, damit sie nicht einfach wieder zu ihm unter die Decke kroch. Dieser Mann war die reine Sünde.

»Vielleicht bist du es gewöhnt, mit einer fremden Person im Bett aufzuwachen. Ich bin es jedenfalls nicht«, sagte sie schnippisch. Sarkasmus als letzte Zuflucht.

Seine Augen verengten sich und schossen silberne Pfeile auf sie ab.

»Ich gehe nicht mit Fremden ins Bett.«

»Oh, entschuldige. Dann ändere ich meine Aussage: mit einer Person, die du seit vier Stunden kennst.«

Sie sah, wie seine Kiefermuskeln sich anspannten, und hörte seine Zähne knirschen. Es klang, als zermalme er Steine.

»Lass das!«

Er riss die Augen auf. »Was denn?«

»Du sollst nicht mit den Zähnen knirschen. Das schadet ihnen.«

Einen Moment lang starrte er sie verblüfft an. Dann lachte er lauthals los. Er zog ihr Kopfkissen über sein Gesicht, um die Lautstärke zu dämpfen.

Nach einem pikierten Blick auf das hüpfende Kopfkissen machte sie sich mit hoch erhobenem Kopf auf den Weg ins Badezimmer.

»Augenblick. Moment«, presste Jack lachend hervor.

Lacey fuhr herum, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn so zornig wie möglich an. Doch die Neugier war zu groß. »Wie hast du es geschafft, mir die Jeans auszuziehen? Und warum hast du nichts an? Als ich eingeschlafen bin, lagen wir beide in unseren Kleidern über der Decke.« Ihr eigener Redeschwall machte sie verlegen.

»Das weißt du nicht mehr?« Das laute Lachen wurde zu einem stummen Vibrieren der Brust, das sich alle paar Sekunden wiederholte.

»Nein. Ich erinnere mich bloß an einen sehr betrunkenen Mann mit widerlichem Bieratem, der sich kaum die Stiefel ausziehen konnte.« In Wirklichkeit hatte er warm und malzig gerochen. Wie eine kleine Brauerei.

Er grinste wie eine zufriedene Katze. Dabei musterte er sie von Kopf bis Fuß, so als wären ihm ihre sämtlichen Details bestens bekannt. »Es ist nichts passiert. Ich habe nichts gemacht.«

Verwundert stellte Lacey fest, dass sie so etwas wie Enttäuschung empfand. »Aber …«

Er zuckte die Schultern. »Ich bin mitten in der Nacht in meinen unbequemen Jeans aufgewacht. Also habe ich sie ausgezogen. Und das Shirt auch.« Das Grinsen wurde noch breiter. »Du hast ausgesehen, als wäre dir furchtbar warm. Also habe ich es dir ein bisschen bequemer gemacht.« Er blinzelte unschuldig.

Ach ja.

»Das hättest du hübsch bleiben lassen sollen. Du konntest dir doch denken, dass ich beim Aufwachen ausflippen würde.«

Die Stahlaugen saugten sich an ihr fest. »Vielleicht habe ich ja gehofft, dass du nicht ausflippen, sondern etwas anderes tun würdest.« Sein heißer Blick sagte das, was sein Mund nicht aussprach. »Ich habe dich nicht angefasst.«

»Aber angeschaut!«

»Es war dunkel.«

Sie wusste, dass er log. Und das auch noch schlecht. Er hatte sich alles angeschaut, was er sehen wollte. Genau wie sie. Jack setzte sich auf, warf die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Lacey kreischte leise auf, schaute weg und flüchtete ins Badezimmer.

Hinter der abgeschlossenen Tür betrachtete im Spiegel ihr zerzaustes Haar und versuchte, mit reiner Willenskraft ihr Herz zu beruhigen. Wenigstens hatte sie keine Augenringe aus verwischter Wimperntusche. Diese Brust. Diese Augen. Herr im Himmel. Sie rieb sich die Schläfen, als könnte sie damit die verlockenden Bilder aus ihrem Kopf rubbeln. Der entschlossene Blick, mit dem er sich hochgestemmt hatte, hatte bei ihr sämtliche Alarmlämpchen aufblinken lassen. Dass er ohne Jeans im Bett lag, wusste sie. Aber sie hatte keine Ahnung, ob er sonst noch etwas anhatte.

Sie traute ihm zu, dass er zu den Typen gehörte, die Unterwäsche für Zeitverschwendung hielten.