VIERUNDZWANZIG

»Du kannst mich nicht zwingen, da reinzugehen!« Lacey stemmte die Füße in den Boden. Ärgerlich musterte sie das fremde Haus.

»Stimmt. Und wenn du einen anderen geheimen Ort kennst, an dem du dich verstecken kannst, bringe ich dich gern hin.« Jack nahm sie am Arm.

»Was?«

Sie bewegte sich nicht von der Stelle. Er trat vor sie hin und legte ihr die Hände schwer auf die Schultern. Sie sollte ihm zuhören. »Lacey! Deine Freundin ist verschwunden. Drei Männer sind tot. Glaubst du wirklich, du solltest jetzt allein sein?« Er wollte sie schütteln.

»Aber ich kenne ihn doch gar nicht. Ich will nicht die Privatsphäre eines fremden Menschen stören und schon gar keinen psychopathischen Schlächter in sein Haus locken.« Sie starrte an Jack vorbei zur Haustür.

Sie in ein Hotel zu bringen, kam für Jack nicht mehr infrage. Er hatte keine Ahnung, wie gut der Mörder elektronisch vernetzt war, aber der Einsatz seiner Kreditkarte erschien ihm zu riskant. Es war zu leicht, anhand der Daten seinen Standort zu bestimmen. Und Jack zweifelte keine Sekunde daran, dass der Täter ihn mit Lacey in Verbindung brachte. Der Irre hatte ihr schließlich die DVD geschickt.

»Alex und ich sind uralte Freunde. Niemandem würde ich mein oder dein Leben bedenkenloser anvertrauen als ihm.« Mit Blicken bat er sie stumm um Einsicht. Sie war keine seiner Angestellten, denen er Anweisungen geben konnte. Sie war eine sture Frau, die sich mehr Sorgen um eine Freundin machte, die vor zehn Jahren ermordet worden war, als um sich selbst.

Die Haustür öffnete sich quietschend. Ein hochgewachsener Mann stand stumm vor ihnen. Hinter ihm brannte Licht, sein Gesicht lag im Schatten. Jack lockerte seinen festen Griff um Laceys Schultern. Gut. Er brauchte die Unterstützung eines anderen Mannes und auf Alex Kinton war Verlass.

Lacey hob das Kinn. »Es tut mir wirklich leid. Er hat mich einfach hierhergeschleppt. Ich möchte mich wirklich nicht aufdrängen. Ich wusste nicht …«

»Schon gut. Er wird seine Gründe haben und er würde für mich dasselbe tun.« Alex’ unterbrach sie mit rauer Stimme. Der Mann hörte sich an, als hätte er seit einer Woche kein Wort gesprochen.

Lacey klappte den Mund zu. Alex’ Ton erstickte ihren Widerstand.

Das Schweigen, das folgte, hing schwer in der kalten Luft. Jack hoffte, dass sie sich endlich einen Ruck geben würde.

»Okay. Wenn es Ihnen nichts ausmacht …«, sagte sie lahm.

Alex wich einen Schritt zurück und forderte sie mit einer Geste auf einzutreten. Jack gab Lacey einen sanften Stoß. Zögernd machte sie einen Schritt nach vorn.

Lacey gab sich Mühe, ihren Widerwillen zu überspielen. Sie unterzog den Mann einer kurzen Musterung. Umwerfend gutaussehend, war ihr erster Eindruck. Unnahbar und gefühlskalt der zweite. Jack hatte ihr erzählt, dass er und Alex Kinton in derselben Studentenverbindung gewesen und seit dieser Zeit eng befreundet waren. Mit einem matten Lächeln schob Lacey sich an dem großen, stummen Kerl vorbei ins Haus.

Hinter ihr schüttelten die Männer einander die Hände und klopften sich auf die Schultern. Als Lacey sich umwandte, sah sie gerade noch die mechanische Lippenbewegung, mit der Alex so etwas wie ein Lächeln andeutete. Vielleicht waren sie ihm tatsächlich lästig. Jack hingegen schien sich über das Wiedersehen mit seinem Freund aufrichtig zu freuen.

»Hey, verdammt. Schön, dich zu sehen. Wie geht’s?«

»Es geht.«

Männer im Strudel der Gefühle.

Jack steuerte Lacey in den Küchenbereich. Kein weiblicher Touch – nirgends. Alles wirkte kahl. Nichts lag auf den Arbeitsflächen, an Möbeln gab es nur das Nötigste. Keine Bilder an den Wänden. Die einzigen persönlichen Gegenstände waren die Fotos auf dem Kühlschrank. Lacey trat näher. Eines zeigte Alex zusammen mit einem anderen Mann. Ganz offensichtlich sein Bruder. Mit ihrem dunklen Haar und den hellen Augen sahen die beiden einander sehr ähnlich. Die Männer lachten übers ganze Gesicht, doch der Blick des Bruders wirkte seltsam leer. Frauen sah Lacey auf keinem der Fotos.

»Habt ihr Hunger?«

Lacey wollte Alex wirklich keine Umstände machen, aber sie kam vor Hunger fast um. Weil Jack sie auf keinen Fall nach Hause hatte fahren wollen, waren sie kurz zusammen durch einen Kleiderladen gerannt und hatten ein paar Sachen gekauft. An etwas zu essen hatten sie nicht gedacht.

»Klar, Mann.« Jack fand anscheinend nichts dabei, den Kühlschrank seines Freundes zu plündern.

»Ich habe nur nichts im Haus. Soll ich kurz zum Chinesen fahren?« Laceys Magen knurrte so laut, dass beide Männer sie ansahen. Jack mit einem Grinsen, Alex völlig ausdruckslos.

»Ich glaube, das heißt Ja.« Jack legte ihr besitzergreifend die Hand auf die Schulter. Lacey schüttelte sie sofort wieder ab und bemerkte prompt einen Funken von Belustigung in Alex’ Augen.

»Okay. Ich bin gleich wieder da.« Er sah Lacey zum ersten Mal wirklich an. »Den Flur runter und dann rechts ist ein blaues Gästezimmer mit Bad, falls Sie duschen wollen oder so.« Sein Blick huschte kurz an ihr hinab. Dann wandte er sich ab und verließ das Haus.

Lacey hatte das Gefühl, als unzulänglich eingestuft und abgehakt worden zu sein. Unsicher strich sie sich übers Haar. Zuletzt hatte sie gestern Abend vor der Gala geduscht. Anstatt des zerrissenen Kleides trug sie die neuen Sachen, die sie im Laden gleich angezogen hatte. Aber Alex hatte sie angeschaut, als hätte sie sich einen dreckigen Autopsiekittel übergeworfen.

Lacey stand da wie ein verwundetes Kätzchen, fand Jack.

»Er kann mich nicht ausstehen.«

»Er kennt dich doch gar nicht.«

»Ja. Aber er hat mir nicht mal die Chance gegeben, wenigstens kurz mit ihm zu reden.«

»Er hat in den paar Minuten mehr mit dir gesprochen als mit jeder anderen Frau im ganzen letzten Jahr.«

»Wie bitte?« Sie blinzelte.

Jack zuckte die Schultern. »Er lebt ziemlich zurückgezogen. Alex war früher U.S. Marshal, aber den Job macht er schon eine ganze Weile nicht mehr. Alle vier Wochen schleppe ich ihn auf ein Bier und ein Spiel aus dem Haus.«

»Nicht verheiratet?«

»Geschieden. Alex hat sein Bestes getan. Aber nach dem Tod seines Bruders wurde einfach alles zu viel.«

»Sein Bruder ist gestorben? Ist er das?« Lacey zeigte auf das Foto und Jack nickte.

»Er war geistig behindert. Ist ertrunken. Genauer gesagt – einer seiner Betreuer hat ihn ermordet.«

»Oh Scheiße.« Lacey konnte sich so etwas kaum vorstellen. »Dein Freund wirkt so …«

»Still? Verschlossen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Unglücklich.«

Jack dachte an Alex’ kühle Augen. »So ist er, seit sein Bruder gestorben ist. Seit damals ist er nicht mehr der Alte. Das ist nun schon ein paar Jahre her.«

Lacey konnte sich nicht von den Bildern am Kühlschrank lösen. Lang schaute sie ein Foto an, das Alex und Jack gemeinsam zeigte.

»Komm, wir suchen dein Zimmer.«

Sie folgte Jack den Flur entlang. Hinter der ersten Tür rechts fanden sie den blau gestrichenen Raum.

Jack ließ die Macy’s-Tüte zu Boden fallen, plumpste auf eines der beiden Betten und dehnte seinen Rücken. Er war schon den ganzen Tag komplett verspannt. Jetzt endlich entknotete sich sein Rückgrat ein wenig. »Alex hat eine topmoderne Alarmanlage und vermutlich in jeder Schublade eine Knarre. Dieses Haus ist eine Festung. Er ist immer auf alles vorbereitet.«

»Wie ein echter Pfadfinder.« Lacey setzte sich an einen schmalen Schreibtisch und linste vorsichtig in die oberste Schublade. »Sieht aus, als hätte er eine Schublade vergessen.«

Jack war froh über den kleinen Scherz.

»Hier bist du sicher. Nur Callahan weiß, wo wir sind. Musst du morgen an der Fakultät unterrichten?«

Lacey schüttelte den Kopf. »Aber ich habe einen Fall, den ich schnell zu Ende bringen muss.«

»Einen Fall?«

»Im Leichenhaus liegt ein unidentifizierter Toter. Die Zähne habe ich bereits untersucht und geröntgt. Morgen müssten die zahnmedizinischen Unterlagen für den Vergleich eintreffen. Die muss ich mir ansehen und meinen Bericht fertig schreiben.«

»Und wie oft machst du so was?«

»Ein paarmal im Monat. Es gibt noch einige andere Zahnspezialisten, die das gerichtsmedizinische Institut anfordern kann.«

»Und was ist das für ein Gefühl, wenn du so einen Fall untersuchst?« Jack legte die Unterarme auf die Oberschenkel und sah sie aufmerksam an. Er betrachtete ihr Gesicht. Ihm gefiel, wie ihr seidiges Haar ihre Augen umrahmte. Sie hatten ein paar Hygieneartikel gekauft, doch an den Regalen mit dem Schminkzeug hatte Lacey sich nicht aufhalten wollen. Der ungeschminkte natürliche Look passte perfekt zu ihr.

Er atmete langsam durch. In den Jeans heute gefiel sie ihm mindestens so gut wie gestern Abend in dem schwarzen Kleid.

»Ich mache das gern. Es ist ein gutes Gefühl, beim Lösen eines Rätsels zu helfen, den Angehörigen Gewissheit zu verschaffen.« Ihre Lippen wurden schmal und Jack wusste, dass sie an Suzanne dachte.

Er betrachtete seine Hände. »Was glaubst du – wer steckt hinter dieser Sache? Wer hat die Männer umgebracht und beobachtet dich?«

Lacey ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich habe mir das Hirn zermartert, habe nachts wach gelegen und nach dem fehlenden Teil in diesem Puzzle gesucht. Wer könnte Rache für DeCosta wollen?«

»Du glaubst, es hat etwas mit Rache zu tun?«

»Du nicht? Warum sollte der Mörder sonst die Leute umbringen, die daran beteiligt waren, DeCosta in den Knast zu bringen?«

»Und wenn die Polizei damals den Falschen geschnappt hat? DeCosta hat Suzanne vielleicht verschleppt. Aber getötet hat sie anscheinend ein anderer. Ich glaube, dieser zweite Täter steckt hinter den Morden von damals und hinter den Morden heute. Es gibt einfach zu viele Übereinstimmungen.«

»Nein. Die haben damals schon den Richtigen verurteilt.« Lacey fing an, in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen.

Jack konnte die Augen kaum von ihrem Hinterteil in den eng anliegenden Jeans lassen, dabei wollte er sich eigentlich auf das Gespräch konzentrieren. Lacey war eine Ablenkung auf zwei Beinen – in verwaschenen Jeans und süßen Cowboystiefeln. »Außer den gebrochenen Beinen gibt es keine Gemeinsamkeit. DeCosta hatte es auf Frauen abgesehen. Auf junge Sportlerinnen. Er hat weder Männer getötet noch die Opfer so gefoltert, wie es jetzt passiert. Die Frauen, die er vor zehn Jahren umgebracht hat, sind sexuell missbraucht worden und hatten Schnittverletzungen.«

Wie bitte? »Was heißt das? Schnittverletzungen?«

Lacey blieb stehen. »Sie waren nicht sehr tief. Es ging wohl vor allem darum, den Opfern Schmerzen zuzufügen und sie gefügig zu machen. Diese Information wurde damals unter Verschluss gehalten. Die Polizei brauchte etwas, womit sie die vielen Spinner aussortieren konnte, die aus sämtlichen Ritzen krochen und die Morde gestanden. Aber DeCosta wusste über die Schnitte Bescheid.« Sie ging wieder auf und ab. »Die Männer jetzt hatten ganz andere Verletzungen. Callahan sagte mir, dass sie mit ihren eigenen Gegenständen umgebracht wurden. Der Mörder hat Utensilien benutzt, die dem Opfer wichtig waren oder die es gern benutzte. Der erste Tote war ein Cop und die Tatwerkzeuge waren unter anderem Handschellen und Trentons eigene Waffe. Die beiden anderen wurden mit Golfschlägern und Angelruten umgebracht. Dieser Kerl ist sehr kreativ. Für DeCosta war das Morden damals vor allem ein Nervenkitzel.« Sie atmete tief durch und blieb stehen. Dann sah sie Jack in die Augen. »Okay?«

Sie hatte gerade seine Theorie zerpflückt. Der neue und der alte Killer waren nicht identisch. Aber der neue musste jemand sein, der mit den alten Fällen sehr vertraut war.

»Okay. Aber glaubst du nicht, dass der jetzige Täter eine Verbindung zu DeCosta hatte? Wäre das nicht die einzig mögliche Erklärung für das, was er tut?«

»Vielleicht gehört er zu den Freaks, die Serienmörder geradezu verehren und sich mit ihnen identifizieren. Von solchen Leuten habe ich gelesen. Es gibt Mörder, für die sind ihre Vorbilder wie Götter. Bundy, John Wayne Gacy. Richard Rodriguez. Diese Killer haben eine ansehnliche Fangemeinde. Oder aber DeCosta hatte damals einen Komplizen. Das soll es ja geben. Vielleicht wurde dieser Partner nie gefasst und hat nun beschlossen, wieder aktiv zu werden.«

»Was ist mit dem Mädchen aus Mount Junction? Glaubst du, sie gehört auch zu den Opfern von damals?« Jack hatte Mühe, klar zu denken. Er spürte Laceys Anziehungskraft wie ein elektrisches Knistern. Die Funken, die zwischen ihnen stoben, verbrauchten den gesamten Sauerstoff im Raum. Kein Wunder, das ihm das Atmen schwerfiel.

»Ich weiß es nicht.« Lacey sprach langsam. »Als erfolgreiche Turnerinnen lebten wir ein sehr ungewöhnliches Leben. Wir mussten vorsichtig sein. Ich habe dir ja schon erzählt, dass wir eine Art Promistatus genossen. Wir nahmen andauernd an irgendwelchen Meisterschaften teil und in Mount Junction ist man sehr, sehr stolz auf die College-Turnmannschaft. Unsere Telefonnummern waren geheim. Aber auf der Straße wurden wir ständig von Leuten angesprochen, die uns erkannten. Die Professoren behandelten uns in den Seminaren anders als die anderen Studenten. Wir standen ununterbrochen im Rampenlicht.«

»Aber?« Jacks Augen hingen an Laceys Gesicht. Irgendetwas war ihr gerade eingefallen.

»Ich würde nicht von Stalkern sprechen, aber es kam vor, dass überall, wo wir hinfuhren, immer wieder dieselben Typen auftauchten. Einige Mädchen mussten sogar Männer anzeigen, die sie auf dem Campus verfolgten. Diese Kerle sprachen die Mädchen zwar nicht an, liefen ihnen aber andauernd hinterher. Wenn ich dieselbe Person mal an zu vielen unterschiedlichen Orten gesehen hatte, reichte es schon, dass ich während eines Gesprächs mit einem Professor oder mit jemandem vom College-Sicherheitsdienst demonstrativ auf den Kerl zeigte. Dann merkte er, dass er aufgefallen war, und verzog sich.«

»Und das genügte?« Jack war skeptisch.

»Normalerweise schon.« Laceys Mundwinkel kräuselten sich nach oben. »Suzanne hat die Typen manchmal zum Spaß fotografiert. Sie hat es extra so gemacht, dass sie es mitbekamen. Meist gerieten sie dann in Panik und flüchteten.«

»Glaubst du, sie hat diese Bilder behalten?« Lagen etwa in irgendeiner vergessenen Schuhschachtel die Fotos der Stalker?

Lacey erriet Jacks Gedanken. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir hängten sie immer an die Pinnwand im Trainerbüro, damit alle wussten, wie die Kerle aussahen. Nach einer Weile fielen sie ab und wurden weggeworfen. Es geschah auch weiter nichts. Es wurde niemand deswegen verhaftet. Die Typen waren bloß neugierig.«

»Das muss doch ziemlich beunruhigend gewesen sein.« Jack versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie schockiert er war. Falls er je eine Tochter hatte, würde sie während der Collegezeit zu Hause wohnen. Bei ihrem Leibwächter.

»Aus heutiger Sicht gebe ich dir recht. Aber damals fanden wir das vor allem lästig und manchmal ein bisschen witzig. Eine Gefahr sahen wir darin nicht, und niemand kam auf die Idee, Amy könnte durch ein Verbrechen gestorben sein. Für uns war das ein tragischer Unfall.«

»Weißt du noch, ob sie sich über einen Verfolger beklagt hat?«

Lacey dachte kurz nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich erinnere mich an nichts in der Art. Außerdem war Amy ein paar Jahre älter als ich und ein paar Semester über mir.«

»Was könnte DeCosta damals nach Mount Junction geführt haben?« Jack dachte laut vor sich hin. »Und warum wurde ausgerechnet der Mord an Amy als Unfall getarnt? Michael hat doch gesagt, es gebe ähnliche Fälle, bei denen erst Monate nach dem Verschwinden einer Person ihre Leiche aufgetaucht sei. Aber hier sind die Opfer immer sehr schnell gefunden worden. Außer Suzanne. Das stimmt doch. Oder?«

Lacey schluckte und nickte.

»Ihr wart wirklich gute Freundinnen«, sagte Jack leise. Er hatte den gequälten Ausdruck in ihren Augen bemerkt.

»Ja. Wir haben uns vom ersten Augenblick an prima verstanden. Hast du schon mal jemanden getroffen und sofort gewusst, dass ihr zusammenpasst?«

Sie ließ ihm keine Zeit für eine Antwort. Jack dachte an den Funken, der bei der ersten Berührung zwischen ihm und Lacey übergesprungen war.

»Wir haben alles zusammen gemacht. Gelernt, trainiert. Wir waren etwa gleich groß und haben uns gegenseitig Klamotten und Schuhe ausgeliehen. In den Sommerferien wohnten wir abwechselnd bei ihren Eltern und bei meinen. Wie Schwestern.«

Dass die Freundschaft so eng gewesen war, hatte Jack nicht geahnt. Er runzelte die Stirn.

»Wie bist du mit ihrem Tod klargekommen?«

»Schlecht.«

Mehr sagte sie nicht. Seinem Blick wich sie aus.

Schließlich sprach sie mit belegter Stimme weiter. »Ich hatte Depressionen. Und zwar jahrelang. Ständig grübelte ich darüber nach, was sie wohl durchmachen musste. Ich weiß nicht, was ich ohne Frank gemacht hätte … Er war damals meine wichtigste Stütze. Ohne ihn hätte ich es wahrscheinlich nicht geschafft.«

»Wie meinst du das?« Jack war nicht sicher, ob er die Antwort tatsächlich hören wollte. Gleichzeitig wollte er die Dämonen kennen, mit denen sie sich herumschlug. Ihn interessierte alles, was sie erlebt hatte und womit sie lebte. Erfreuliches und Schlimmes.

»Nach Suzannes Verschwinden war ich immer wieder in psychiatrischer Behandlung. Die Schulgefühle konnten so übermächtig werden …« Sie wandte sich ab und starrte schweigend die lilafarbenen Vorhänge an.

Ihm war klar, dass sie an Selbstmord gedacht, vielleicht sogar kurz davon gestanden hatte. Manchmal schien es schwerer, sich selbst zu verzeihen und weiterzuleben, als zu sterben. »Und ich habe dich fast genötigt, dir die DVD noch einmal anzusehen.« Jack schlug sich mit der Hand an die Stirn. Er fühlte sich schäbig. »Das tut mir ehrlich leid. Das Video muss grauenhaft für dich gewesen sein.«

Er würde seine Kopie vernichten. Als er sich das Gesicht rieb, spürte er die rauen Stoppeln. Er hatte noch keine Zeit gehabt, sich zu rasieren.

Ohne ihm zu antworten, setzte Lacey sich an den Schreibtisch und betrachtete den Computer. Jack ließ sie nicht aus den Augen. Er wollte sie haben und er wollte sie beschützen. Seine Hormone liefen Amok. Er krallte die Finger in die Matratze.

Mühsam riss er den Blick von Lacey los, stand auf und sah nach, wohin die zweite Tür des Zimmers führte. Er musste sich irgendwie beschäftigen, irgendwie die Spannung durchbrechen, die die Luft zum Knistern brachte. Im Augenblick hatte das weniger mit sexuellem Verlangen zu tun als mit Intimität. Ein Mensch hatte dem anderen einen Einblick in seine Seele gewährt und der andere half ihm nun, seine Last zu tragen. Für Jack war das ein viel intimerer Akt als der eine Kuss, und es berührte ihn tief, verwirrte ihn. Lacey hatte ihm gerade etwas sehr Schlimmes und Persönliches anvertraut und er wollte sie auf das schmale Bett werfen, sie mit seinem Mund und seinem Körper trösten.

Die Tür führte zu dem Badezimmer, das Alex erwähnt hatte. Im Bad gab es noch eine zweite Tür. Vielleicht zu Alex’ eigenem Zimmer? Jack verschränkte die Arme und schob eine Hand unter jeden Bizeps. Er würde Lacey nicht berühren. Im Augenblick traute er sich selbst nicht.

Als ihr Handy zirpte, atmete er erleichtert auf.

Dem Himmel sei Dank für Mobiltelefone.

Ihre aufgewühlten Gefühle hingen in der Luft wie ein Gewitter. Lacey wusste nicht, woran Jack dachte. Aber sie hatte ihn aus dem Augenwinkel beobachtet. Hier in dem blauen Gästezimmer war ihr seine Gegenwart nur allzu bewusst. Auf so engem Raum wirkte sie fast erdrückend. Selbst eine Frau, die eher auf Frauen stand, wäre von dem Testosterondunst, der aus seinen Poren stieg, nicht unbeeindruckt geblieben.

Jack hatte sie gedrängt, sich an die schwere Zeit in ihrem Leben zu erinnern, in der die Zukunft mehr als düster ausgesehen hatte. In der sie gedacht hatte, es gebe gar keine. Inzwischen ließ sie diese Erinnerungen nur noch selten zu. Es war zu anstrengend, den Schmutz wieder loszuwerden, der anschließend immer an ihrer Seele klebte. Sie hatte Mauern um sich errichtet, die die Erinnerungen und den Schmerz draußen halten sollten. Und Jack Harper riss die Mauern nun ein. Stein für Stein.

Sie fühlte sich ausgeliefert und nackt.

Das Verlangen, von ihm berührt zu werden, war übermächtig. Doch der Preis dafür war hoch. Sie wusste nicht, ob sie sich das leisten konnte. Dazu, sich einer anderen Person derart auszuliefern, war sie noch nicht bereit. Sie wollte den schützenden Panzer um ihr Herz nicht ablegen, denn es war durch Suzannes Tod und dann durch den Tod ihrer Mutter bereits zweimal fast zerbrochen. Auch das Ende ihrer Beziehung mit Frank hatte tiefe Narben hinterlassen. Lacey wusste nicht, ob sie inzwischen gut genug verheilt waren. Ob sie stark genug für das war, was sich zwischen ihr und Jack anbahnte.

Die greifbar aufgeladene Luft im Zimmer schien ihre Bewegungen zu bremsen, als sie das Telefon aus der Tasche zog. Das Symbol auf dem Display zeigte eine Videonachricht an. Kein Wunder, dass das Handy nicht wie sonst geklingelt, sondern nur gezirpt hatte. Sie berührte das Display. Ein körniges Bild erschien. Die Kamera schwenkte zu einem Mann.

Einem Toten.

Ein Lebender hätte die Angelhaken, die in seinen Augen steckten, nicht ausgehalten.

Ihre Lunge streikte.

»Lacey?«

Ihr war schwindelig, doch sie sah, wie Jack näher kam und die Hände ausstreckte, als wollte er etwas auffangen. Sie auffangen. Lacey spürte, wie sich Arme um sie legten, drückte die Stirn an Jacks harte Brust und machte die Augen fest zu. Der Anblick der Angelhaken hatte sich aber bereits in ihre Netzhaut gebrannt. Ihre Schultern bebten. Ihr war so schrecklich kalt.

Doch er war warm. Sie sank tiefer in seine Arme. Trotz der Hitze, die er ausstrahlte, konnte sie nicht aufhören zu zittern.