»Patron gegen Ratten und Mäuse«, »die Gefahr aus dem Osten« und die 29 Nummern der »heiligen Gebeine«
Von nun an wurde sein Kult mächtig vorangetrieben. Bischof Gebhard von Augsburg (996–1000) und Abt Berno von Reichenau (1008–1048) haben die inhaltlich wichtige, doch schlecht geschriebene erste Ulrich-Vita überarbeitet, bezeichnenderweise alles Historische weggelassen und mit Bibelzitaten, Schwulst, Mirakulösem nur so gespickt; Spätere haben all das noch vielfach interpoliert. Ulrichs Grabkapelle aber, worin Kaiser Heinrich II. auch Ottos III. Eingeweide beisetzen ließ, besuchten schon früh sogar ausländische Wallfahrer. Nach Ulrich wurden massenhaft Kirchen, Kapellen, Ortschaften benannt. Bereits im 10. und 11. Jahrhundert riß man sich um seine Reste; die angesehensten Klöster bewarben sich darum, auch der Bamberger Dom. Im 12. Jahrhundert überführte Kaiser Barbarossa eigenhändig Ulrichs Reliquienschrein (und lag bald selbst zerstückelt: mit seinen Innereien in Tarsus, seinem »Fleisch« in Antiochia, seinen Gebeinen in Tyrus).
Natürlich erfuhr das Volk an Ulrichs Grab Wunder. Die Verwandlung eines Fleischstückes in einen Fisch ist freilich literarisch erst spät »bezeugt«. Doch half Ulrich besonders bei Augenkrankheiten; bei Fieber heilte ein Trunk aus seinem Meßkelch, bei Mäuseplage Erde von seinem Grab und bei Bissen tollwütiger Hunde der Ulrichschlüssel, ein auf seinen Namen geweihter Schlüssel. Man bekam »Ulrichsbrünnlein« und wallfahrtete zu ihnen. Ulrich wurde der »Brunnenheilige«, wurde Patron auch der Fischer, »Reisepatron«, »Patron gegen Ratten und Mäuse«, überhaupt gegen »Ungeziefer«, Patron in »allerlei Leibsgebrechen«.
So hielt man das Volk allzeit auf der geistigen Höhe der Zeit.
Der erste und älteste St.-Ulrichs-Verein konstituierte sich bereits im 12. Jahrhundert. Kein Geringerer als Kaiser Friedrich I. gehörte dazu. Auch in der frühen Neuzeit gründete man eine »rasch aufblühende Ulrichsbruderschaft« mit Bischöfen, Herzögen, Kaisern als Mitgliedern. Ja, der Heilige wird nun, selbstverständlich »fälschlich«, zum Vorkämpfer protestantischer Freiheit gegenüber päpstlicher Tyrannei.
Noch im 19. Jahrhundert betet man in einer Ulrichslitanei: »Heiliger Udalrikus / Du lebendiges Muster der Frömmigkeit und Heiligkeit / Du Mann nach dem Herzen Gottes / Du sonderbarer Liebhaber des Gebeths / Du Beyspiel der Abtödtung und Bußfertigkeit / Du eifriger Hirte deiner Heerde ...« usw. Noch im »Jubiläumsjahr 1955« florierte angeblich die Ulrichsverehrung wieder, u.a. durch neue Ulrichskirchen sowie durch die zunehmende Beliebtheit der Taufnamen Ulrich und Ulrike, und zwar als deutliche »Manifestationen obrigkeitlicher geförderter Frömmigkeitslenkung« (Hörger), war doch »die ›Gefahr aus dem Osten‹ ... der Kerngedanke des Ulrichjahres 1955«.28
Als man zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Mailand behauptete, der Leib des hl. Ulrich sei in Mailand, sein Kopf in Rom, veranlaßte der Augsburger Bischof Joseph Landgraf von Hessen-Darmstadt 1762 die Exhumierung des Heiligen. Nach einigem Suchen fand man ihn denn auch, und etliche Mediziner, die Leibärzte des Bischofs und andere fromme Chirurgen und Wundheiler, registrierten 1764 unter 29 Nummern die »heiligen Gebeine des heiligen Ulrich«: So den oberen Teil des Kopfes, der »mit Recht unversehrt genannt werden kann, abgesehen von einigen äußeren Teilchen, die vom Zahn der Zeit zernagt waren«. »2. Der Unterkiefer mit vier Schneide- und drei Mahlzähnen. 3. In einem silbernen Kästchen wurde ein Zahn gefunden mit einem Fingerglied; von diesem Glied überliefert die Geschichte, was gelesen zu werden wert ist. 4. Einzeln wurde ein Mahl- und ein Schneidezahn gefunden. 5. Das Zungenbein. 6. Ein Teil des Kehlkopfes« usw. – 1971 machte sich dann eine neue Ärztekommission über die »heiligen Gebeine des heiligen Ulrich« her ...29
Selbstverständlich galt Ottos Sieg über die Ungarn, die Feinde der Christenheit, den Zeitgenossen als Sieg des Gottesreiches, als Triumph Christi. Er hat die Ungarneinfälle in das deutsche Reich für immer beendet, war somit folgenreicher als das Treffen bei Riade 933 (S. 402 f.). Er war »in der Erinnerung aller« deutschen »Stämme ein Ereignis, das ihre Herzen höher schlagen ließ« (Schramm), war »die Geburtsstunde des heutigen Österreich« (Pater Grill). Und er gab vor allem »auch den Weg frei für die deutsche Ostpolitik bis 1945«! (Fischer) Man sieht, wie hier ein hehres, Herzen höher schlagen lassendes Ereignis fortschwärt bis zum Massenmord Hitlers. Und waren erst die Ungarn in Deutschland eingefallen, so hielt man es jetzt umgekehrt – »es wurde möglich, die christliche Mission nach Ungarn hineinzutragen. Ottos Name gewann dadurch Klang über die Grenzen seines Reiches hinaus« (Schramm).
Denn natürlich begnügte man sich nicht mit Abwehrgemetzeln. Um 970 eröffnete der junge Bayernherzog Heinrich II. die Offensive. Und während er den Ungarn die karolingischen Marken am Ostrand der Alpen entriß, raubte gleichzeitig der mit ihm ziehende Boleslav II. Mähren und die Slowakei bis an die Waag. Für die »Seelsorge« in dem gewaltigen Raum reichte Regensburg nicht mehr aus. Deshalb beschloß 973 der Reichstag von Quedlinburg die Gründung des Bistums Prag, wahrscheinlich auch die eines weiteren für Mähren.30
Nach den spektakulären Erfolgen auf dem Lechfeld sowie an der Unstrut gegen die Slawen intensivierte Otto, der triumphierende Vernichter der Heiden, deren Mission. Im Südosten errichtete er die bayerische »Ostmark«, seit dem Jahr 976 das dreihundertjährige Aktions- und Annexionsfeld der jüngeren Babenberger – vielleicht Abkömmlinge der älteren Babenberger (S. 354 ff.) –, bis jene von den Habsburgern abgelöst wurden. Im Osten bezwang der König in einem langen Krieg die Böhmen. Im Nordosten betrieb er in Fortsetzung der mörderischen Attacken seines Vaters (S. 391 ff.) die verstärkte Christianisierung der Elbslawen und gründete zwei Marken zwischen Elbe und Oder.31