Viel schlimmer als Canossa – und alles »nach dem Urteil der Priester«
Als am 1. Oktober 833 in Compiègne unter Lothars Vorsitz eine allgemeine Reichsversammlung zu dieser christlichen Tragödie zusammentrat, forderte der einst von Ludwig besonders begünstigte, ihm viel verdankende Erzbischof Agobard in einer eigenen Schrift Kirchenbuße für den abgesetzten, den »gewesenen Kaiser« (domnus dudum imperator) und öffentlichen Sünder. Nicht nur diesmal freilich hatte er gegen den Herrscher gehetzt, hatte er seine Gattin Judith vom Teufel besessen und jeder Untat fähig, seinen Hof vom »Schmutz der Verbrechen« verseucht erklärt und vorbehaltlos, geradezu leidenschaftlich die Rebellion der Söhne gerechtfertigt.
War Agobard doch, wie die meisten seiner Zunft, überhaupt ein großer Hasser, auch der Heiden, »Ketzer«, nicht zuletzt der Juden. Fünf rabiate Bücher schmetterte er gegen sie, darin bereits der berüchtigte Nazislogan »Kauft bei keinem Juden«! So konnte man das hochgeschätzte Kirchenlicht (freilich schon in vornazistischer Zeit) »den brutalsten Judenfeinden aller Zeiten« an die Seite stellen, konnte Jesuit Rahner 1934 Agobard – nebst anderen kirchenväterlichen Judenfeinden – prompt für die katholische Kirche ausspielen. Kaiser Ludwig dagegen hatte den Juden zahlreiche Schutzbriefe gewährt.64
Wie aber deuteten die in Compiègne versammelten Oberhirten, die mit allen Großen Lothar ein Treueversprechen leisteten, Ludwigs Niederlage? Selbstverständlich als Folge seines Ungehorsams gegenüber den Ermahnungen der Priester. Gott und den Menschen habe er viel Mißfälliges getan und seine Untertanen an den Rand des Verderbens gebracht. Ergo erklärte man ihn zum »Tyrannen«, seinen siegreichen Sohn und Nachfolger aber zum »Freund des Herrn Christus«. Sie, die »Stellvertreter Christi«, die »Schlüsselträger des Himmelreiches«, fordern von dem alten Fürsten ein umfassendes Sündengeständnis, fordern ihn zur Weltentsagung auf und präsentieren ihm ein Schriftstück über seine Vergehen, damit er »wie in einem Spiegel die Häßlichkeit seiner Handlungen schauen könne«.
Wilfried Hartmann bemerkt dazu in einer der neuesten Konziliengeschichten: »Diese Vorgänge waren nur möglich, weil der fränkische Episkopat bereits 829 in Paris Leitsätze formuliert hatte, die eine Art Kontrolle des weltlichen Herrschers durch die Bischöfe vorsahen.« So verkündete Kanon 55: »Wenn einer fromm und gerecht und barmherzig regiert, wird er nach Verdienst König genannt; die aber, die gottlos, ungerecht und grausam regieren, heißen nicht Könige, sondern Tyrannen«. Wie freilich ein König zu heißen hat, gerecht oder gottlos, das bestimmen die Prälaten.
Und wie glücklich waren sie unter Ludwigs Vater und schon lange vordem!
Allen riefen sie ins Gedächtnis, »wie dieses Reich durch die Verwaltung des vortrefflichsten Kaisers Karl seligen Andenkens und durch die Arbeit seiner Vorfahren befriedet und geeinigt und rühmlich erweitert wurde ...«! Tatsächlich hatten Merowinger und Karolinger, hatte nicht zuletzt auch der »vortrefflichste« Karl einen Krieg nach dem andern geführt, waren diese Fürsten der Franken nichts so sehr wie Räuber und Schlächter gewesen, Ausbeuter, Versklaver, in zwei Worten: christliche Abendländer, wofür sie ja noch heute das Gros der Historiker glorifiziert!
Wie seinerzeit schon die frommen Seelenhirten. Die andererseits den Sohn verachteten, zumindest zur Zeit seiner Erniedrigung, seiner Niederlage den Besiegten, durch dessen »Kurzsichtigkeit«, »Nachlässigkeit«, wie sie jetzt schrieben, das Reich »zu solcher Schmach und Erbärmlichkeit herabsank, daß es nicht nur den Freunden zur Trauer, sondern auch den Feinden zum Spotte wurde, und wie derselbe Fürst das ihm anvertraute Amt nachlässig geführt und vieles, was Gott und den Menschen mißfiel, sowohl tat als zu tun veranlaßte oder geschehen ließ und in vielen verruchten Anschlägen Gott reizte und der heiligen Kirche Ärgernis gab ... und wie durch göttliches und gerechtes Urteil ihm plötzlich die kaiserliche Macht genommen wurde«.
In Gruppen und gemeinsam bearbeiteten die Kirchenfürsten den Gefangenen, »schmiedeten sie viele Anklagen gegen den Kaiser«, führten sie ihm »fleißig« zu Gemüte, »wodurch er Gott beleidigt und der heiligen Kirche Ärgernis gegeben ...« Und so soll er »gern ihrem Rat und ihren sehr heilsamen Ermahnungen« gehorcht haben; was aber wohl gelogen ist. Liest man ja auch: »Er jedoch weigerte sich und fügte sich ihrem Willen nicht. Alle Bischöfe aber bedrängten ihn hart und vor allem die, welche er aus dem Zustand der niedrigsten Knechtschaft zu Ehren gebracht hatte ...« (Thegan); »und so lange peinigten sie den Kaiser, bis sie ihn dahin brachten, die Waffen abzulegen und seine Kleidung zu ändern, und ihn von der Schwelle der Kirche verstießen, so daß niemand mit ihm zu sprechen wagte, außer denen, welche dazu verordnet waren« (Annales Bertiniani). Er legte, melden die Annales Fuldenses, »nach dem Urteil der Bischöfe die Waffen ab und wurde um Buße zu tun eingesperrt«.
Ludwig soll sich in St-Médard, wo ihm die Prälaten noch einmal die Leviten lasen, tief gedemütigt, dreimal oder noch öfter vor den Oberhirten und einer Menge anderer Kleriker niedergeworfen, alles, was er eingestehen sollte, in ihm offenbar eingetrichterten Sprüchen – die auch heute noch praktizierte Gehirnwäsche – eingestanden und um Vergebung gebeten haben.
Zum Auskosten ihrer Häme hatten die Hierarchen dies Schauspiel in der Marienkirche des Klosters vor dem Altar inszeniert. Im Beisein eines großen Volkshaufens ließen sie den auf ein härenes Bußgewand ausgestreckten Kaiser – »mit lauter Stimme unter reichlichem Tränenstrom ...« – drei-, viermal das von ihnen verfaßte Sündenbekenntnis verlesen, worin sie ihn für fast alles Elend des Reiches, auch sofern er nur mittelbar, nur passiv daran beteiligt war, verantwortlich machten; besonders für drei Kapitalverbrechen: sacrilegium, homicidium, periurium, für Störung des öffentlichen Friedens, Verbannung, Mord, Totschlag, Tempelschändung, Kirchenraub, Konfiskation, Plünderung, Notzucht, Bürgerkrieg, überhaupt für Vergehen gegen göttliches und menschliches Recht, für Ärgernis und Eidbrüchigkeit, Unfähigkeit und willkürliche Reichsteilung etc. etc. – alles »nach dem Urteil der Priester«. Er mußte dies lange Schandregister schriftlich den Seelenhirten überreichen, mußte seine Waffen vor dem Altar, »vor dem Leichnam des heiligen Bekenners Medardus und des heiligen Märtyrers Sebastian« (S. 584) niederlegen, sein Oberkleid ausziehen und unter Psalmen und Gebeten das Büßergewand empfangen, in das ihn die geistlichen Herren gleich eigenhändig steckten.65
Die ganze Prozedur sollte einerseits den Monarchen moralisch vernichten, ihn unfähig machen, auf den Thron zurückzukehren, ja, nur Waffen zu tragen – das kanonische Recht schloß dies, wie auch Ludwig wußte, nach einer öffentlichen Kirchenbuße aus. Andererseits sollte die ungeheuere Herabsetzung die volle Superiorität der Bischöfe demonstrieren.
In einer Denkschrift, in der sie sich selbst als »die Vertreter Christi und Schlüsselträger des Himmelreiches« feierten, »die das Recht zu binden und zu lösen auf Erden wie im Himmel besitzen«, verkündeten sie auch dem gemeinen Christenhaufen: »Weil dieser Fürst das ihm anvertraute Amt nachlässig gehandhabt, in vielen verwerflichen Entschließungen Gott beleidigt und die heilige Kirche skandaliziert und jüngst erst alles Volk, das ihm Untertan war, zum gänzlichen Untergang gebracht hat, so sei von ihm kraft göttlichen und gerechten Richterspruches die kaiserliche Gewalt genommen worden, nach göttlichem Beschlusse und kirchlicher Autorität.« »Es war die Rache der kirchlichen Partei« (F. Schneider). Es waren dieselben Leute, die schon die Erhebung von 830 betrieben hatten, durch neue Opportunisten vermehrt, waren vor allem, wenn auch keinesfalls allein, die Kirchenführer aus Westfrancien, Burgund, Aquitanien, die Erzbischöfe von Reims, Lyon, Vienne, Narbonne, die Bischöfe von Amiens, Auxerre, Troyes.66
Noch vor 33 Jahren hatte Karl I. Papst Leo III. gerichtet (IV 446 ff.). Jetzt richtete der fränkische Episkopat den Kaiser! Mit der kläglichen Zeremonie, der größten Schmach im Leben Ludwigs, eine der tiefsten Demütigungen der Fürsten überhaupt, weit schlimmer als Canossa, war Ludwig der Fromme auch von der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen und durfte nur noch mit wenigen, ganz bestimmten Personen verkehren und sprechen. Als man deshalb Lothar die Gefangenschaft des Vaters vorhielt, konnte er mit Recht erwidern, daß ihn doch die Bischöfe dazu verurteilt hätten. »Niemand«, sagte er, »habe mehr Mitgefühl mit dem Wohl und Wehe seines Vaters als er, nicht ihm dürfe man es als Schuld anrechnen, daß er die ihm angebotene Herrschaft übernommen habe, da ja sie selbst den Kaiser abgesetzt und verraten hätten, nicht einmal die Kerkerhaft könne man ihm zum Vorwurf machen, da es ja bekannt sei, daß sie durch das Urteil der Bischöfe verhängt wurde.«
Als Ludwigs Kerkermeister fungierte der Erzbischof Otgar von Mainz.67
Eine Hauptrolle in dieser Tragödie, die zwischen 833 und 843 eine Kette von Bürgerkriegen auslöste, hatte kein anderer als der mit Agobard von Lyon eng befreundete Erzbischof Ebo von Reims gespielt, geradezu ein Prototyp geistlicher Undankbarkeit und Verräterei – und auch ein Mann mit beachtlichen Missionserfolgen. War er doch vor Jahren »nach dem Rat des Kaisers und mit Ermächtigung des Papstes nach dem Land der Dänen gezogen, um das Evangelium zu predigen« und hatte »viele von ihnen bekehrt und getauft ...«
In der Tat gilt dieser von Papst Paschalis I. zum Legaten des Nordens ernannte Prälat im Rahmen der karolingischen Skandinavienpolitik als der Initiant der nordischen Mission. Einst hatte Karl »der Große« den Nachkommen von »Ziegenhirten«, den Sohn eines unfreien Bauern, in seine Hofschule aufgenommen, hatte ihn Ludwig, als König von Aquitanien von Jugend an mit ihm befreundet, zum Hofbibliothekar, als Kaiser 816 zum Erzbischof von Reims und Abt von St. Remi, aus dem Nichts also fast zu einem der ersten Männer des Reiches gemacht. Jetzt aber stieß er seinen kaiserlichen Freund und Förderer, der auch noch den Kirchenfürsten oft begünstigte, in dessen schlimmster Stunde vom Thron. »Sie suchten damals«, schreibt Chorbischof Thegan, »einen frechen und grausamen Menschen aus, Bischof Ebo von Reims, aus ursprünglich unfreiem Geschlecht, daß er den Kaiser mit den Lügen der übrigen unmenschlich peinigte.« Ein Prälat war also frech und grausam, die übrigen logen auf Teufel komm raus, kurz, die ganze heilige Meute fiel über den Herrscher her. »Unerhörtes redeten sie, Unerhörtes taten sie, indem sie ihm täglich Vorwürfe machten ...« Und kein anderer als Ebo verdonnerte im Oktober 833 zu St-Médard in Soissons seinen einstigen Gönner persönlich zur Kirchenbuße, wofür ihm Lothar die Abtei St-Vaast gegeben haben soll.
Von Compiègne trieb man Ludwig, »den frömmsten der Fürsten«, so nennt ihn Thegan nicht nur einmal, nach Aachen. Und der ihn trieb, war auch ein katholischer Fürst, sein eigener Sohn! Und in Aachen verhielt sich der ganze katholische Klüngel »nicht nur nicht menschlicher«, klagen die Jahrbücher von St. Bertin, »sondern seine Feinde wüteten noch viel grausamer gegen ihn, indem sie Tag und Nacht bemüht waren, durch so schwere Kränkungen seinen Mut zu brechen, daß er freiwillig die Welt verlasse und sich in ein Kloster begebe«.68