Karl der Kahle und der Westen
Das Westfrankenreich wird jetzt durch Kriege, durch bürgerkriegsähnliche Zustände und Adelsoppositionen besonders erschüttert. Aus dem Süden, aus Spanien und Afrika, brechen die Sarazenen, aus Skandinavien fallen die Normannen ein. Ihre Züge übers Meer und an den Flußläufen herauf kosten immer mehr Menschenopfer, Geld, Tributzahlungen, Kirchenschätze. Doch blüht das Raub- und Bandenwesen, gegen das Karl das Kapitular von Servais erläßt, auch im Land selbst, wobei klerikale Würdenträger, steinreiche Aristokraten aus Beutegier oft gemeinsame Sache mit den Banditen machen oder diese auch gegen Entgelt für Mordtaten anwerben – fällt es doch zu allen Zeiten schwer, sich die Unterwelt schlimmer vorzustellen als die Etagen darüber. Auch der König ist kein so schlechtes Beispiel dafür. Karl der Kahle, am 13. Juni 823 in Frankfurt am Main aus Ludwigs des Frommen zweiter Ehe geboren, heiratete als Neunzehnjähriger 842 Irmintrud, die Tochter des einige Jahre zuvor gegen Lothar gefallenen Grafen Odo von Orléans; offenbar eine rein politische Partie, weil er so, schreibt Nithard, »den größten Teil des Volkes zu gewinnen hoffte«. »In demselben Jahre«, schließen die »Annales Xantenses« ihre kargen Mitteilungen, »ging in der Stadt Tours die Kaiserin Judith aus der Welt, die Mutter Karls, nachdem ihr Sohn ihr alles Vermögen geraubt hatte«.21
Irmintrud gebar Karl, nach einer Tochter Judith, vier Söhne: Ludwig, Karl, Karlmann und Lothar. Die zwei jüngsten zwang der Vater, von Erzbischof Hinkmar dafür gelobt, in den geistlichen Stand. Der gelähmte Lothar starb noch im Knabenalter als Abt von S. Germain d'Auxerre. So blieb ihm das Schicksal Prinz Karlmanns erspart.
Familienschwierigkeiten löste Karl II. nach Art vieler Potentaten (nicht nur seiner Zeit). Zwar als Tochter Judith nach zwei Ehen an englischen Königshöfen 861 mit dem flandrischen Grafen Balduin I. durchgebrannt und (nach einer päpstlichen Intervention) 863 dessen Frau geworden war, da konnte Karl nur resignieren. Als aber seine Söhne, der von Geburt an lahme Lothar und der durch eine Verletzung geistesgestörte Karl das Kind, 865 und 866 kurz hintereinander starben, versöhnte sich der König zunächst ganz christlich mit seiner Gattin Irmintrud und ließ sie zur Königin salben. Doch ihren Bruder Wilhelm, der sich unmittelbar darauf gegen ihn verschwor, ließ Karl köpfen – Irmintrud ging ins Kloster.
Karl, gelegentlich durch den Bischof Frechulf von Lisieux mit dem Werk des Militärschriftstellers Vegetius über die Kriegskunst beschenkt (womit der Christ bereits um 400 dem Verfall des römischen Militärwesens entgegenwirken wollte!), Karl war persönlich alles andere als mutig, liebte es schon gar nicht, selbst zu kämpfen, neigte aber zur Grausamkeit.
Das veranschaulicht auch sein Vorgehen gegen Karlmann. Er hatte den Prinzen, der viele Sympathien genoß, aus politischen Rücksichten in den geistlichen Stand gesteckt, genauer, ihn, wie den gelähmten Lothar, noch sehr jung zum Mönch scheren lassen, worauf er immerhin nacheinander Abt von Saint-Médard, Saint-Germain-d'Auxerre, Saint-Amand, Saint-Riquier, Saint-Pierre de Lobbes und Saint-Aroul geworden ist.
Im Auftrag des Königs zog Abt Karlmann 868 an der Spitze eines Heeres gegen die Normannen, empörte sich aber 870/872 gegen den Vater, wurde in Senlis eingekerkert und 873, aufgrund einer Klageschrift des Regenten, durch eine dort versammelte Synode jeder geistlichen »Würde« beraubt. Es soll ihm nur willkommen gewesen sein, zumal es ihm wieder Thronaussichten eröffnete – zugleich dem Vater jedoch die Möglichkeit, den Sohn noch strenger zu bestrafen. Als darum dessen Parteigänger seine Befreiung und Erhebung zum König vorbereiteten, stellte ihn Vater Karl abermals vor Gericht und ließ ihm die Augen ausstechen, »damit die wahnwitzige Hoffnung der Friedensstörer auf ihn vereitelt werde und die Kirche Gottes und die Christenheit im Reich außer der Befeindung durch die Heiden nicht auch durch einen verruchten Aufstand in Verwirrung gebracht werden könne«. Noch im selben Jahr vermochte der Blinde aus Corbie zu seinem ostfränkischen Onkel Ludwig dem Deutschen zu fliehen, der ihm das Kloster Echternach gab, als dessen Laienabt er einige Jahre später starb.22
Karl II. der Kahle konnte sich lange bloß schwer behaupten. Nicht nur geriet er durch die Agitationen der Mutter für seine Ausstattung in beträchtliche Krisen. Auch Mißverhältnisse im eigenen, geographisch, ethnisch und geschichtlich sehr unterschiedlichen Reich setzten ihm zu; Spannungen im Süden, mit den spanisch-septimanischen Goten, den Basken, und Schwierigkeiten mit dem fränkischen Norden. Auch gewann er anfangs viele Magnaten nicht, da sie sich lieber Lothar anschlossen. Erst nach dessen Niederlage bei Fontenoy konnte er langsam seine Position verbessern.23
In die gefährlichsten Konflikte aber stürzten Karl die selbstbewußten Bretonen sowie die Ansprüche seines Neffen Pippins II. auf Aquitanien.