»...weil der Soldat nach Verwesung stinkt« – Bischof Thietmar »auf der Höhe der Bildung seiner Zeit«
Stolz meldet der Chronist auch den Schlachtentod »zwei meiner Urgroßväter namens Liuthar« bei Lenzen, des Liuthar von Stade und Liuthar von Walbeck; »treffliche Ritter von hoher Abkunft, Zierde und Trost des Vaterlandes ...« Dieselben Phrasen – durch die Jahrtausende: vom alten Rom (hier präsent durch dessen »Nationalepos«, Vergils Aeneis 10, 858 f.) bis zur entsprechenden Weltkriegspropaganda (man vgl. »Die Politik der Päpste im 20. Jahrhundert« I 236 ff.!, II 112 ff.) – semper idem. Das Entscheidende jedenfalls, das Geschichts-Notorische, -Normierende: die kolossale Verdummungs-, Unterjochungs-, die Kriminal- und Katastrophenhistorie, besonders auch das völkerverblödende Glorifizieren und Sanktifizieren all der unsäglichen Schlacht- und Abstechungsorgien, das wiederholt sich immer wieder – selten so drastisch und gut gegeißelt wie in Brechts »Ballade vom toten Soldaten«:
»Und weil der Soldat nach Verwesung stinkt,
drum hinkt ein Pfaffe voran,
der über ihn ein Weihrauchfaß schwingt,
Eben dies Weihrauchfaß schwingt auch Bischof Thietmar von Merseburg, indem er unmittelbar nach der Erinnerung an seine Urgroßväter, die »Zierde und Trost des Vaterlandes«, mehrere Beispiele, »Beweise« auftischt, damit ja »kein Christgläubiger mehr an der künftigen Auferstehung der Toten zweifle ...« Denn das christliche Dauermassaker viribus unitis von Thron und Altar seit dem frühen 4. Jahrhundert (I 247 ff.) wird traditionell innig mit dem christlichen Glauben verwoben. Je mehr Blut fließt, desto nötiger der »liebe« Gott, besonders aber die Predigt von der Auferstehung – die Weiterlebenslüge.
So präsentiert Thietmar gleich »eine jüngst aus dieser Welt Gegangene«, die sich, wieder aufgerappelt, ganz normal mit einem Priester unterhält, was natürlich »zuverlässige Kunde« verbürgt. Etwas »ganz Ähnliches«, fährt der Bischof fort, »sahen und hörten zu meiner Zeit in Magdeburg Wächter«. Sahen und hörten sie doch in einer Kirche zwei wiederum Mausetote »richtig singen«. Und auch die herbeigeholten »angesehensten Bürger« erlebten diesen wirklich wunderbaren Genuß, wofür es abermals »glaubhafte Zeugen« gibt. Wie denn auch in Deventer Tote in einer Kirche opferten und sangen und einen sie beguckenden Priester kurzerhand hinauswarfen, ja diesen in der nächsten Nacht mir nichts, dir nichts vor dem Altar »zu Staub und Asche« verbrannten, was sogar Thietmars kranke Base Brigida bezeugt (wohl die Tochter seines Onkels, des Markgrafen Liuthar von der sächsischen Nordmark), die überdies versichert: »Hinderte mich meine Schwäche nicht, lieber Sohn, so könnte ich Dir noch viel von alledem erzählen.«
Geht es ihm – der selbst einmal »deutlich ein Totengespräch« belauschte, wie jetzt ein »Gefährte« von ihm erhärten könnte – doch nur darum, »allen Gläubigen«, und zwar »deutlich«, wie er wieder betont, »die Gewißheit der Auferstehung und zukünftiger Wiedervergeltung nach ihren Verdiensten« zu predigen; allen also glauben zu machen, daß man im Krieg stolz »Zierde und Trost des Vaterlandes« sein, daß man seelenruhig »fallen« könne, weil man ja wieder aufsteht, aufersteht, wie seine beiden Urgroßväter bei Lenzen ... Und noch dem »Ungläubigen« macht er dies gänzlich unbezweifelbar durch die Worte der Propheten: »Herr, deine Toten werden leben!« Oder: »Und die Toten in den Gräbern werden sich erheben, die Stimme des Gottessohnes hören und frohlocken ...« Ja, welcher Schwachkopf möchte da noch zweifeln!
Da alles so einfach, glaubhaft und vor allem so wahrhaftig ist, zumal für einen christlichen Bischof, füttert uns Thietmar in seinem Geschichtswerk förmlich mit Wunderbarem, mit Traumgesichten, Offenbarungen, Teufelserscheinungen, Visionen, mit Zeichen und Wundern, Heilungswundern, Strafwundern, mirakulösen Sonnenfinsternissen etc. etc. Ist dies doch das Werk eines Mannes, wie uns die Forschung versichert, der »aus einer der besten Schulen hervorgegangen«, »der auf der Höhe der Bildung seiner Zeit stand«, der »weitreichende Kenntnisse« hatte (Trillmich) – Ergo kann der vom Schlag getroffene Magdeburger Dekan Hepo zwar »kaum noch flüstern«, aber noch »sehr schön mit den Brüdern die Psalmen singen«. Ergo erneuert sich irgendwo ausgegangener Wein von ganz allein, so daß nicht nur die Nonnen eines Klosters »lange Zeit« davon trinken, »sondern auch viele andere Umwohner und Gäste zum Lobe des Herrn«. Und irgendwo stinkt ein heiliger Leichnam nicht, sondern duftet einfach so kräftig wie lieblich »nach dem Zeugnis höchst glaubwürdiger Männer noch in mehr als drei Meilen Entfernung«.
Selbstverständlich dürfen wir all das und derlei schockweise mehr, so belehren uns Historiker wie Theologen, nicht von heute, sondern nur von einer Zeit aus beurteilen, die anders glaubte, anders dachte. Das klingt weise. Doch beiseite, daß noch heute Millionen so glauben und denken – warum dachte und glaubte man denn diesen ganzen unsterblichen Stuß über Epochen hin so verbissen? Weil Tausende und Abertausende verpfaffter Tölpel und Betrüger ihn eingetrichtert, weil sie die klassischen Ideale der griechischen Antike durch Jahrhunderte ruiniert, »die Weisheit dieser Welt zur Torheit« gemacht (1. Kor. 1,20), weil sie das Abend- wie Morgenland in diesen ganzen finster fatalen Sumpf von Unwissenheit und Aberglauben, von Reliquien-, Wunder-, Wallfahrtsschwindel gestürzt, die Völker geistig geradezu darin begraben haben (vgl. bes. III 3. u. 4. Kapitel!); weil sie die Allgemeinbildung aus den Schulen verbannt, die gesamte Erziehung der Christianisierung untergeordnet, aufgeopfert, weil sie ihren theologischen Geisterwahn zum Unterricht schlechthin gemacht haben, so daß noch Thomas von Aquin das Streben nach Erkenntnis »Sünde« nennen konnte, wenn es nicht »die Erkenntnis Gottes« bezweckt (vgl. auch I 26 ff.).
So ließ sich noch jeder Wahnsinn, auch der monströseste, mühelos verbreiten und verinnerlichen, je toller, desto schöner! Nicht nur der große Haufen: illiterati et idiotae. »Ein verzücktes Volk«, höhnt Voltaire, »das hinter ein paar Schwindlern herläuft, genügt; mit der Ansteckung mehren sich die Wunder – und nun ist die ganze Welt verrückt.«
Bis tief in die Neuzeit vegetieren die christlichen Massen im Zustand völligen Analphabetentums. Ja, warum denn! Doch auch die Aristokratie, die Mehrheit der Fürsten: bis in die Stauferzeit nicht schreibkundig. Nur eines hatte dieser Christenadel besser als alles gelernt, nicht die Nächsten-, nicht die Feindesliebe, nicht die Frohe Botschaft, nein: schlachten, schlachten, schlachten!17
931 zieht Heinrich gegen die Obodriten. 932 wird das 10000 Einwohner zählende Liubusua, Zentrum des Slavenstammes der Lusici (nach neuesten Forschungen im Kreis Luckau gelegen), erobert und niedergebrannt, achtzig Jahre später die durch eine deutsche Besatzung gesicherte Burg von Boleslaw Chrobry, dem Polenfürsten, genommen. (Es geschah im zweiten der drei Kriege, die Kaiser Heinrich der Heilige, mit Heiden im Bunde, gegen den Polen führte, den man seinerseits immerhin als Ideal des christlichen Herrschers feierte, als rex Christianissimus und athleta Christi; Rühmungen, deren sich Boleslaw u.v.a. auch dadurch würdig erwies, daß er am 20. August 1012 bei der Einnahme von Liubusua ein »jammervolles Blutbad« veranstaltete [Bischof Thietmar] und die Burg abermals niederbrannte.) Heinrich I. machte seinerzeit die Lausitz tributpflichtig, ebenfalls, durch einen Feldzug 934, die Uckermark. »Kein Wunder, daß solche Taten auch die Kirche begeisterten«, schwärmt man noch im 20. Jahrhundert. »Mitgerissen von dem Strom des Lebens, der mit Heinrich aufquillt, kommt auch das kirchliche Leben in Fluß ...« (Schöffel).18
Das gilt sogar noch für den Norden. Im selben Jahr nämlich, 934, besiegt Heinrich in einem blutigen Krieg gegen die als fast unüberwindbar geltenden, in ganz Westeuropa gefürchteten Dänen deren Unterkönig Gnuba, den Beherrscher von Haithabu, macht ihn zinspflichtig und zu seinem Vasallen. Nicht zuletzt aber schuf der König dadurch auch im Norden eine neue Basis für die Ausbreitung des Gottesreiches auf Erden. Brachte er so doch die Heiden »von ihrem alten Irrglauben ab und lehrte sie das Joch Christi tragen« (Thietmar). Denn getreu der alten Strategie: erst das Schwert, dann die Mission, begann gleich nach dieser Niederlage Erzbischof Unno von Hamburg-Bremen in Dänemark und Birka die Bekehrungsarbeit. Bald danach fiel Gnuba im Kampf gegen den nordjütischen König Gorm, unter dessen Sohn König Harald Blauzahn die Dänen Christen werden.19
Im Osten freilich hatte man jetzt die wildesten Teufel vor sich und noch längst nicht im »Joch Christi«.