Der Ungarnsturm beginnt
Nach dem Tod Arnulfs griffen die Ungarn an.
»Sein Sterbetag war für sie fröhlicher als alle Festtage, erwünschter als alle Schätze«, behauptet wohl kaum ganz zu Unrecht Bischof Liutprand. Ihr Vorstoß geschah unerwartet. Mit ungeheurer Wucht und arger Not im Gefolge verheerten sie weite Teile West-, doch auch Südeuropas, besonders aber das ostfränkische Reich, wohin sie freilich einst Arnulf selbst als Bundesgenossen gerufen hatte.
Auch waren die Ungarnkriege zwar hauptsächlich, doch keinesfalls ausschließlich Verteidigungskriege, und nicht nur 907 (S. 350). Seit dem Sieg des Bayernherzogs Berthold – er war der jüngere Sohn des 907 bei Preßburg gefallenen Markgrafen Liutpold – am 12. August 943 bei Wels, dem bis dahin größten deutschen Erfolg gegen die Ungarn, ergriffen die Bayern die Offensive. Einen weiteren Vorteil errangen sie 948. Bereits im nächsten Jahr schlugen sie sich mit den Magyaren offenbar in Ungarn selbst. Und auch 950 ging der Bruder Ottos I., der bayrische Herzog Heinrich, einer der ungestümsten Draufgänger unter den ostfränkischen Fürsten, wieder offensiv in Ungarn vor. Er siegte zweimal jenseits der Theiß, erbeutete reiche Schätze, viele Gefangene und kehrte »wohlbehalten in das Vaterland zurück« (Widukind).9
Die Ungarn oder Magyaren, wie sie sich selbst nannten, waren ein in Zelten oder Schilfrohrhütten lebendes berittenes Nomadenvolk, teils finnisch-ugrischer, teils turkstämmischer Abkunft; die lateinischen Quellen setzen diese schnellen, wendigen Reiter und trefflichen Bogenschützen häufig mit Hunnen und Awaren gleich. Von den Pecenegen, einem besonders kriegerischem reiternomadischem Turkvolk, schwer bedrängt und im Bündnis mit den Bulgaren 895 aus ihren Sitzen zwischen Wolga und Donau am Schwarzen Meer vertrieben, überfielen, verwüsteten, beraubten sie von der Theißebene aus immer wieder Pannonien, Böhmen und das Mährerreich, das König Arnulf 892 noch Seite an Seite mit ihnen bekämpft hatte und das sie bis 906 völlig vernichteten, buchstäblich verschwinden ließen. Ab 899 suchten sie auch Oberitalien heim, brandschatzten sogar Südfrankreich, attackierten aber im beginnenden 10. Jahrhundert in oft jährlichen Raubzügen Bayern, Sachsen, Alemannien, Elsaß, Lotharingien. Und länger als ein halbes Jahrhundert setzten sie ihre Einfälle fort – eine schlimmere Plage als die Normannen, die sich inzwischen mehr auf Ostengland konzentrierten.
Anno domini 900 erschienen die Ungarn erstmals auf einst bayerischem, heute österreichischem Boden.
Über die Enns brachen sie in den Thraungau ein, »auf 50 Meilen in die Länge und Breite mit Feuer und Schwert alles mordend und plündernd«. Allerdings erledigte im Spätherbst ein bayerisches Heer unter Graf Liutpold von Kärnten und dem Bischof Richar von Passau eine kleine ungarische Nachhut bei Linz, rühmlich kämpfend, sagt der Annalist, noch rühmlicher triumphierend. Denn angeblich fand man durch die »Gnade Gottes« unter den Gefallenen und in der Donau Ertrunkenen zwar 1200 Heiden, aber »kaum einen einzigen Christen« (Annales Fuldenses).
901 wurden die Ungarn nach einem Einfall in Karantanien auf dem Rückweg an der Fischa, östlich von Wien, geschlagen, 902 in Mähren gemeinsam mit den Mährern, deren Reich die Bayern noch zwei Jahre zuvor geplündert hatten, wie ja schon 890 und 899. Auch 903 kam es zu Kämpfen mit den Magyaren, diesmal mit unbekanntem Ausgang. Und 904 luden die Bayern eine ungarische Gesandtschaft unter deren Heerführer Chussal zu sich ein, veranstalteten erst ein Gastmahl, dann ein Massaker mit ihnen, killten sie komplett, und offensichtlich wieder mit dem Beistand Gottes.