PARTRIDGE

Pakt

Seine Mutter ist nicht tot. Sedge ist nicht tot. In Partridges Gedanken kann das nicht sein. Es muss einen Fehler gegeben haben, irgendwo, und alles wird sich aufklären. Auch an der Akademie hat es manchmal Fehler gegeben, hauptsächlich in der Wahrnehmung, menschliches Versagen. Sein Vater ist schuld. Sein Vater ist menschlich. Es ist ein menschlicher Fehler.

Oder vielleicht ist es ein Test. Sein Vater hat die Konstruktionszeichnungen aufgehängt, und er hat Partridge das Foto gegeben in der Hoffnung – oder vielleicht hat er es sogar gewusst –, dass Partridge die Information nutzen würde. Vielleicht war das alles von dem Augenblick an, als das Bild mit hellem Blitz aufgenommen wurde, Teil eines Planes, um Partridges geistige und körperliche Stärke zu testen: Am Ende kommen alle aus ihren Verstecken wie bei einem kunstvoll eingefädelten Streich oder einer Überraschungsparty. Es ist eine Erklärung, die Sedge und seine Mutter am Leben lässt, doch obwohl er sich mit aller Macht an diese gewagte Logik klammert, weiß er, dass er sich etwas vormacht. Ein anderer Teil seines Gehirns sagt ihm, dass sie wirklich tot sind, ein für alle Mal.

Der Verband um seine linke Hand verbirgt das fehlende Glied seines kleinen Fingers, doch er beginnt einen Schmerz zu spüren, ein Pulsieren, als wäre der Finger immer noch da. Pressia beginnt von dem Farmhaus zu erzählen, und er glaubt ihr kein Wort. Wie könnte er? Eine Farm, hier draußen? Ein automatisches System, das Fenster und Türen versiegelt, sodass Staub und Asche nicht eindringen können? Ein Kronleuchter im Esszimmer? Und alles umgeben von Feldern mit Arbeitern, die Pestizide versprühen?

Eine Auster – irgendeine, ob giftig oder nicht – wäre ein wissenschaftliches Wunder. Andererseits gibt es im Kapitol Labore, die sich mit nichts anderem beschäftigen als der Rückkehr zu natürlicher Nahrungsmittelproduktion. Die Farm gehört zum Kapitol. Es muss so sein. Die beiden Welten sind miteinander auf eine Weise verbunden, die er sich niemals hätte vorstellen können. Der Wagen, in dem sie alle sitzen, ist der Beweis. Er muss aus dem Kapitol stammen. Woher sonst? Als Pressia zu erzählen aufhört, sagt Lyda: »Ich habe beim Kapitol Reifenspuren gesehen. Es gibt ein Ladedock. Laster fahren hin und her.«

Testen sie bereits den Übergang vom Kapitol nach draußen, zurück nach Hause in ihr rechtmäßiges Paradies, das Neue Eden?, fragt sich Partridge. Gesegnet. Im Kapitol waren sie gesegnet. Partridge erinnert sich an die Worte seiner Mutter. Sklaven. Eine neue Klasse von Untermenschen. Die Stimme seiner Mutter ist wie ein Stück hauchdünnen Stoffs, das in seinem Hinterkopf leise raschelt – und dann spürt er ein Gewusel in seiner Brust, und ihm wird übel vor Wut. Sie ist verwundet, doch Sedge ist bei ihr, und Caruso kümmert sich um sie, genau wie beim letzten Mal, als sie beinahe umgekommen wäre. Menschlicher Irrtum.

Nein, tot. Alle beide, und Caruso wird niemals aus dem Bunker an die Oberfläche kommen. Er ist der Einzige, der übrig geblieben ist. Er wird eines Tages dort in seinem Bunker sterben – wahrscheinlich recht bald, jetzt wo Partridges Vater endlich weiß, wo der Bunker ist.

Mrs Fareling … er denkt an Mrs Fareling und an Tyndal. Er ist nicht dazu gekommen, seiner Mutter ihre Nachricht zu bestellen – dass sie überlebt haben. Danke. Es gibt so Vieles, was er ihr nicht mehr sagen konnte, zu viel, um es zu zählen.

Als Pressia verkündet, dass sie fast da sind, wendet sich Lyda an Partridge. »Es gibt da etwas, das ich dir von jemandem bestellen soll«, sagt sie.

»Von wem?«

»Einem Mädchen, dem ich im Therapiezentrum begegnet bin«, antwortet Lyda und sie scheint verlegen, weil sie einräumen muss, dort gewesen zu sein. Aber irgendjemand muss ihr schließlich den Kopf rasiert haben. Partridge wüsste gerne, wie viel sie wegen ihm durchgemacht hat. Er würde gerne alles ungeschehen machen. Doch sie will jetzt nicht darüber reden, das sieht er ihr an. Was sie zu sagen hat ist wichtig. »Sie hat mir aufgetragen, dir zu sagen, dass es viele wie sie gibt, die das Kapitol stürzen wollen. Das ist alles, was sie sagen konnte. Verstehst du das?«

»Schläfer«, murmelt Partridge. Lyda steckt tief in der Geschichte drin. Sie ist nicht nur eine Geisel. Sie ist eine Botin. Ob ihr eigentlich klar ist, dass sie jetzt für die Seite seiner Mutter arbeitet? Er will ihr erzählen, dass seine Mutter gesagt hat, er wäre der Anführer, doch das kann er nicht. Er ist zu durcheinander. »Ja«, stößt er hervor. »Ja, ich verstehe.«

Sie biegen um die letzte Kurve, und El Capitán lenkt den Wagen hinter eine Gruppe niedriger, buschiger Obstbäume, die so dicht gepflanzt sind, dass ihre Äste einander umranken. Und dort ist es – ein gelbes Farmhaus, genau wie Pressia es beschrieben hat, zusammen mit den dunklen, üppigen Reihen von Vegetation in einem Tal, eine grüne Insel inmitten eines sich in sämtliche Richtungen erstreckenden Meeres aus Asche und Staub. Es gibt eine rote Scheune mit weißen Verzierungen und mehrere Gewächshäuser. Das alles erweckt den Eindruck, als stamme es aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort. Fremdartig. Auf den Feldern sind keine Arbeiter zu sehen, keine OSR-Soldaten, doch am Farmhaus stehen zwei Leitern mit Eimern an den Sprossen, und zwei lange Stangen liegen auf dem Boden. »Hat jemand das Haus geschrubbt?«, fragt Partridge.

»Dieses Tuch im Fenster, das aussieht wie eine kleine Fahne«, sagt Lyda. »Das habe ich schon mal irgendwo gesehen.«

»Es ist das Zeichen des Widerstands«, sagt Bradwell. »Meine Eltern hatten eine echte Flagge, die genauso aussah. Sie lag zusammengefaltet in einer Schublade. Es ist ein ganz altes Symbol.«

»Ingerships Frau«, sagt Pressia. »Ich glaube, sie ist in Schwierigkeiten.«

»Wie kommt dieses Haus hierher?«, flüstert Partridge.

»Es sieht aus wie ein Haus aus einer Zeitschrift«, sagt Pressia. »Aber krank, von innen befallen.«

»Mit Sicherheit jedenfalls kein altmodisches arabisches Beduinenzelt«, sagt El Capitán.

»Bradwell braucht deine Jacke«, sagt Pressia zu Partridge. Die Hitze der Schlacht ist vergangen, und Bradwell hat angefangen zu zittern. Partridge sieht seine Schultern zucken. Er zieht seine Jacke aus, die ohnehin Bradwell gehört, und reicht sie ihm. Bradwell zieht sie an. »Danke«, sagt er, doch seine Stimme klingt beinahe hohl. Oder ist Partridges Hörvermögen beeinträchtigt? Er kann sich auf nichts mehr verlassen – nicht auf das, was er sieht oder hört, nicht auf Häuser, die aus dem Nichts auftauchen, nicht auf blutigen Nebel oder die Augen seiner Schwester.

»Wir könnten Ingership die Medikamente geben im Austausch dafür, dass er all dieses Zeug aus deinem Kopf holt«, sagt Partridge. Er ist der Einzige, der die Wahrheit kennt – die Medikamente sind ein Täuschungsmanöver, ein Köder, mit dem Zweck, ihnen Zeit zu verschaffen.

»Was ist mit Ingerships Frau?«, fragt Pressia. »Können wir ihr helfen?«

»War es nicht sie, die dich betäubt hat?«, fragt Bradwell.

»Ich weiß es nicht«, sagt Pressia.

Fette Vögel, die entfernt aussehen wie Hühner, watscheln über den Weg. Sie sehen grotesk aus mit ihren zweigeteilten Hufen am Ende der kurzen Beine. Sie haben keine Federn, stattdessen sind sie mit einer Art Schuppen bedeckt, als wäre die Haut, die normalerweise an den Beinen wächst, über den gesamten Körper gewuchert. Ihre Flügel sind knochige Gebilde, die in unmöglichen Winkeln an den Seiten abstehen.

»So was hast du aber nicht in den Zeitschriften gesehen«, sagt Bradwell.

Partridge denkt an seinen Vater, krank im Kopf wie das Innere dieses Hauses. »Wenn wir zum Haus gehen, hältst du die Flasche mit den Pillen dicht an deinen Kopf«, sagt er zu Pressia.

»Nein«, sagt Bradwell und legt Partridge die Hand abwehrend auf die Brust. »Das ist zu viel.«

»Was?«, entgegnet Partridge. »So funktioniert er. Er würde ihren Kopf explodieren lassen, aber nicht die Pillen.« Sein Vater ist ein kaltblütiger Mörder. Partridge schließt für einen Moment die Augen, wie um seine Sicht zu klären. Doch er weiß, dass sein Vater keinen Knopf gedrückt hat, ohne sich vorher zu überzeugen, dass die Pillen in Partridges Faust waren, weit genug weg. »Es ist zu ihrem eigenen Schutz.«

»Er hat recht«, sagt Pressia zu Bradwell.

Partridge stellt sich vor, wie sein Vater ihn beobachtet, wie er jedes Wort hört, jede Geste sieht. Sein Vater muss mit Ingership in Verbindung stehen, denn genau in diesem Moment treten zwei junge Soldaten in OSR-Uniform durch die Tür auf die Veranda. Es sind Unglückselige, jedoch schwer bewaffnet. Sie treten zum Rand der Veranda und blockieren den Eingang.

El Capitán blinzelt durch die Windschutzscheibe. »Wisst ihr, was mich ankotzt? Es sind meine eigenen gottverdammten Rekruten. Sie können nicht mal richtig mit einer Waffe umgehen. Was gut für uns ist, schätze ich.«

»Mich ankotzt«, flüstert Helmud mit rauer Stimme.

»Okay«, sagt Bradwell. »Seid ihr bereit?«

Partridge will noch mehr sagen. Er will, dass sie einen Pakt schließen, hier im Wagen, bevor sie aussteigen. Doch er ist nicht sicher, worauf sie schwören sollen.

»Hey, fast hätte ich was vergessen«, sagt El Capitán. Er kramt in seiner Jackentasche und zieht etwas hervor. »Gehört das jemandem von euch?«

Es ist die Spieluhr von Partridges Mutter, rauchgeschwärzt.

»Nimm du sie«, sagt Pressia.

»Nein«, widerspricht Partridge. »Du kannst sie haben.«

»Aber sie spielt eine Melodie, die nur du und unsere Mutter gekannt haben. Jetzt gehört sie dir.«

Partridge nimmt sie, reibt mit dem Daumen daran. Der fettige Ruß löst sich stellenweise. »Danke.« Er hat das Gefühl, etwas Bedeutungsvolles festzuhalten, einen Teil seiner Mutter, den er für immer bei sich tragen kann.

»Sind wir so weit?«, fragt Pressia.

Alle nicken.

El Capitán legt den Gang ein und beschleunigt den Wagen in Richtung Haus. Die Rekruten feuern nicht. Stattdessen wenden sie sich ab und hämmern gegen die Tür. El Capitán bremst eine Sekunde zu spät und rammt die Verandatreppe. Unter dem Aufprall zersplittert das Holz.

Alle steigen aus. El Capitán trägt sein Gewehr. Partridge und Lyda haben Fleischerhaken und Messer. Bradwell hält ebenfalls ein Messer. Pressia presst die Flasche mit den Pillen an ihre Schläfe.

»Wo ist Ingership?«, ruft El Capitán den Rekruten zu.

Die beiden jungen Soldaten wechseln einen nervösen Blick, doch sie schweigen. Sie sind dünn und sehen aus, als wären sie vor Kurzem erst geschlagen worden. Auf der nackten Haut ihrer Arme und ihrer Gesichter sind Schwellungen und Striemen.

In diesem Moment wird im ersten Stock ein Fenster geöffnet, auf der gegenüberliegenden Seite des Fensters mit dem rotgestreiften Handtuch. Ingership beugt sich hinaus, das Kinn hoch, die Arme steif. Die Metallplatte in seinem Gesicht glänzt. Er lächelt. »Da seid ihr ja!« Seine Stimme klingt heiter, doch er sieht aus, als hätte er eine Schlägerei hinter sich. Auf der nackten Haut seiner linken Gesichtshälfte sind Kratzspuren zu sehen. »Hattet ihr Probleme herzufinden?«

El Capitán spannt den Abzug seines Gewehrs und feuert. Der Schuss lässt Partridge zusammenzucken. Er sieht wieder die Explosion vor seinem geistigen Auge – seinen Bruder, seine Mutter, die Luft erfüllt von einem feinen Nebel aus Blut.

»Meine Güte!«, ruft Ingership und duckt sich hinter den Fenstersims. »Was ist denn das für ein Benehmen!«

In einer verspäteten Reaktion schießt einer der Rekruten auf ihren Wagen.

El Capitán feuert erneut. Diesmal zerspringt eine Scheibe im Erdgeschoss.

»Aufhören«, sagt Partridge.

»Ich wollte ihn nicht treffen«, sagt El Capitán.

»Treffen«, sagt Helmud.

»Es ist okay«, ruft Partridge Ingership zu. »Wir schießen nicht.«

»Dein Vater könnte diesen Ort umzingeln lassen!«, ruft Ingership zurück. »Er hätte euch alle längst erschießen lassen können! Das weißt du sicher, Junge? Er nimmt Rücksicht auf dich!«

Partridge ist nicht sicher, ob das stimmt. Die Spezialkräfte sind eine neue Elitetruppe. Es waren nur sechs Soldaten, und die sind inzwischen alle tot. Er weiß, wer als Nächster an der Reihe gewesen wäre – die Jungs von der Akademie, die Teil der Horde waren. Sie können unmöglich schon so weit sein mit ihrer Ausbildung. Es war nicht genug Zeit für diese Art von Transformation und Training.

»Er will etwas von uns, und wir haben es«, sagt Partridge. »So einfach ist das.«

Ingership zögert. »Ihr habt die Medikamente aus dem Bunker?«

»Sie haben den Auslöser, der Pressias Kopf zur Explosion bringt?«, entgegnet Bradwell.

»Wir machen ein Geschäft«, sagt Partridge.

Ingership verschwindet. Aus dem Fenster im ersten Stock dringen Geräusche. Die beiden Rekruten auf der Veranda zielen mit ihren Waffen auf Partridge und seine Freunde.

Dann ertönt ein Summen aus dem Haus, und die automatischen Gummidichtungen, die die Asche draußen halten, lösen sich.

Die Vordertür klickt und schwingt weit auf.

Im oberen Fenster mit dem blutigen Handtuch erkennt Partridge ein weißes Gesicht – Ingerships Frau? – und eine blasse Hand, an das Glas der Scheibe gepresst.