EL CAPITÁN
Kappe
El Capitán hat sich an eine der gebogenen Enden des zerstörten Wassserturms gelehnt und gewartet, bis es dunkel wurde. Er hat sich die Zeit damit vertrieben, nach Dusts Ausschau zu halten. Hin und wieder hört er ein Rascheln im Sand. Er schießt auf die Kreaturen, doch es ist schon zu dunkel, und sie sind zu schnell. Die Schüsse scheinen sie aber zu vertreiben.
Er ist hungrig und friert. Seine Füße sind geschwollen vom Auf- und Abgehen mit dem Gewicht seines Bruders auf dem Rücken. Helmud schläft und ist schwer wie ein Sack. Er fängt an zu schnarchen, und El Capitán beugt sich vor und lässt sich wieder zurückfallen gegen die harte Wand des Wasserturms. Der Aufprall raubt Helmud für einen Moment die Luft, dann beginnt er leise zu stöhnen und zu wimmern, bis El Capitán ihn anraunzt, endlich still zu sein.
Wie lange ist Pressia Belze schon weg? El Capitán weiß es nicht. Seine Uhr ist stehen geblieben. Das Funkgerät ist tot, er hat keine Verbindung zu seinem Hauptquartier.
Als El Capitán endlich die schwarze Limousine entdeckt, die sich mit einer großen Staubfahne im Schlepptau nähert, ist er mehr wütend als erleichtert. Der Wagen schlängelt sich mit geringer Geschwindigkeit durch die Deadlands. Der Kurs muss eine Ursache haben – fährt der Fahrer so eigenartig, weil er fürchtet, dass ein Dust aus dem Boden kommt und ihm den Weg versperrt? Schwer zu sagen.
Schließlich hält die Limousine beim Wasserturm. Sie ist staubbedeckt, und an den Reifen klebt Erde. Sie waren in einer fruchtbaren Gegend? El Capitán richtet sich auf, und aus irgendeinem Grund fängt Helmud erneut an zu wimmern. »Halt die Klappe, Helmud!«, befiehlt El Capitán und schüttelt sich und damit Helmud auf seinem Rücken. Helmuds Nacken macht knackende Geräusche, doch er ist nicht tot. Das macht er manchmal.
Der Fahrer bleibt im Wagen sitzen, ohne die Scheibe herunterzulassen. El Capitán geht zur hinteren Tür und öffnet sie. Ingership ist nicht zu sehen, was nicht weiter überraschend ist. Seine Besuche sind immer kurz. Pressia lehnt auf der anderen Seite an der Scheibe, die Beine übereinandergeschlagen, eine Hand vor den Augen. Im schwachen Licht der Innenraumbeleuchtung wirkt sie mitgenommen und geschrumpft. El Capitán steigt ein und zieht die Tür hinter sich ins Schloss, dass es kracht. Auf dem Sitz zwischen ihnen liegt ein brauner Umschlag mit dem Namen Pressia Belze darauf. Der Umschlag ist aufgerissen. Er sieht zerknittert aus, als hätte jemand ihn weggeworfen und wieder aufgehoben.
»Wir fahren zurück zur Basis, richtig?«, fragt El Capitán den Fahrer.
»Kommt darauf an«, antwortet der. »Ich befolge jetzt die Befehle von Belze.«
»Was? Belze?«
»Das ist richtig. Ingerships Anordnung.«
El Capitán ist so lange bei der OSR, und dann kommt Pressia Belze und übernimmt das Kommando? Nach einem Essen mit Ingership? »Ingership hat angeordnet, dass Belze mir übergeordnet ist? Shit.«
»Shit«, echot Helmud.
»Das ist richtig, Sir.«
El Capitán rutscht nach vorne auf den Beifahrersitz und senkt die Stimme. »Sie sieht übel zugerichtet aus.«
»Sie ist nicht tot, falls du das meinst«, sagt der Fahrer.
El Capitán kehrt in den Fond zurück. »Pressia«, sagt er leise.
Sie hebt den Kopf und blinzelt. Ihre Augen sind rotgerändert und trübe.
»Alles okay?«, fragt El Capitán.
Pressia nickt. »Ingership wohnt in einem Zelt, wie die alten Araber.«
»Tatsächlich?«, fragt El Capitán.
»Tatsächlich?«, wiederholt Helmud.
Pressia blickt durch die Scheibe nach draußen. Sie hebt ihre Puppenkopffaust und bewegt sie leicht hin und her, wie ein Kopfschütteln. Spricht sie jetzt durch die Puppe zu ihm? Sie sieht El Capitán an, als wollte sie ihn fragen, ob er die Geste verstanden hat. Vermutlich traut sie dem Fahrer nicht über den Weg, möchte nicht, dass er irgendetwas von ihrer Unterhaltung hört.
El Capitán nickt und beschließt, seine Vermutung zu überprüfen. »War es schön? So weit oben, meine ich?«
»Wunderschön«, sagt Pressia und schüttelt erneut den Puppenkopf. El Capitán begreift. Irgendetwas ist passiert. Etwas Schlimmes. Sie kann nicht reden. »Sind das die Befehle?«, fragt er und deutet auf den Umschlag.
»Ja.«
»Spiele ich eine Rolle?«
»Sie wollen, dass du mich unterstützt.«
»Ich warte auf Befehle, Belze«, sagt der Fahrer. »Wohin soll ich dich bringen?«
»Der Ton gefällt mir nicht«, sagt El Capitán. Er überlegt, ob er dem Fahrer eine Kopfnuss geben soll, doch dann lässt er es. Er will Pressia nicht verärgern.
»Mein Ton muss dir nicht gefallen«, sagt der Fahrer.
Pressia hebt den Umschlag und schüttet den Inhalt aus: Ein einzelnes Blatt mit einer Liste von Befehlen, ein Foto von einem alten Mann, der friedlich in einem Krankenhausbett liegt, und ein kleines Gerät, wie El Capitán es seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hat, höchstens kaputt: schwarze Bildschirme, geschmolzenes Plastik, ein paar Tastaturen, Teile, die mit menschlichen Körpern verschmolzen sind. »Der Blip«, sagt sie zu El Capitán. »Wir müssen den Blip finden. Männlich, achtzehn Jahre alt.«
El Capitán nimmt den Handheld auf. Er ist so an sein Walkie-Talkie gewöhnt, dass ihm das Gerät fremdartig vorkommt. Es ist dünn mit glänzendem, beinahe öligem Display. Auf dem Display ist die Umgebung aus der Vogelperspektive zu sehen. Und es zeigt in der Tat einen kleinen blauen Blip. Der Blip pulsiert, während er sich langsam über den Schirm bewegt. El Capitán berührt den blauen Punkt, und plötzlich zoomt das Bild zu einer Nahaufnahme der Umgebung des Punktes heran. Worte erscheinen auf dem Schirm: 24th Street, Cheney Ave., Bank of Commerce and Trade. War das nicht die Bank, die seine Mutter C&T nannte? War das die Bank seiner Mutter? Er erinnert sich an Lollies in einem Glas mit einem Schraubdeckel und einer labyrinthartigen Menschenschlange, eingeklemmt zwischen samtweichen Tauen. Doch die Straßen sehen nicht mehr so aus wie früher. Auf dem Schirm ist die Wahrheit zu sehen, eine zerstörte Stadt, überlagert mit einem Plan der einstigen Straßen. »Ich weiß, wo das ist«, sagt El Capitán. »Dieser blaue Blip hier.«
»Ja«, sagt Pressia.
Er sucht das Display nach einem Markt ab, der vor Kurzem ins Leben gerufen wurde. Der Markt ist nicht zu sehen. »Das Bild ist nicht aktuell«, sagt er.
»Nicht ganz, richtig.«
»Du kennst diesen Blip?«, fragt El Capitán.
»Es ist ein Reiner. Er ist durch das Luftfiltersystem aus dem Kapitol ausgebrochen.«
El Capitán will nichts auf der Welt lieber als einen Reinen töten. Es ist ein Wunsch, der so grundlegend und machtvoll in ihm ist wie Hunger. »Und was machen wir, wenn wir den Reinen gefunden haben? Zielschießen?«
»Er soll uns zu seiner Mutter führen.« Pressia sieht mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Horizont. »Und wenn wir sie haben, liefern wir den Reinen und seine Mutter an Ingership aus.«
»Und Ingership? Wird er sie öffentlich hinrichten?«
»Er wird sie an das Kapitol zurückgeben.«
»Zurückgeben?«
»Ja.«
An das Kapitol zurückgeben. El Capitán wird klar, dass Ingership mit dem Kapitol zusammenarbeitet. Es ist, als hätte er es schon die ganze Zeit gewusst, ohne es sich einzugestehen. Natürlich, denkt El Capitán. Das bedeutet, dass die OSR in Wirklichkeit überhaupt nicht existiert. El Capitán erinnert sich, wie es war, als er nach den vergrabenen Waffen gesucht hat. Wie er nach Orientierungspunkten gesucht hat, während sein Bruder sterbend auf seinem Rücken hing und das Blut durch seinen Körper raste. Die Welt war nackt, kahl, ausradiert. Seine Mutter war schon tot gewesen, begraben irgendwo auf dem Friedhof außerhalb einer Anstalt. Er erinnert sich, dass er all das überlebt hat und sieht Pressia an. »Ich bin froh«, sagt er, »dass Ingership deine Loyalität und dein Vertrauen erworben hat.«
»Absolut«, sagt Pressia und sieht weiter aus dem Fenster. El Capitán hingegen starrt unverwandt auf den Puppenkopf, der sich nun ein klein wenig hebt und hin und her dreht, wenige Zentimeter über der Sitzbank. Dann wendet sich Pressia um und sieht El Capitán in die Augen. »Ich hoffe doch, dass er auch dein Vertrauen und deine Loyalität besitzt?«
Lauscht der Fahrer ihrer Unterhaltung? Gibt er sie an Ingership weiter? Es spielt keine Rolle. El Capitán kann nicht antworten. Er kann nicht mal nicken. So wird er nicht untergehen. In seiner Brust brennt es wie Feuer. Helmud ist unruhig, als hätte El Capitáns heiße Wut einen Weg durch den gemeinsamen Kreislauf zu ihm gefunden. Er zappelt mit den Fingern wie eine alte Lady, die nervös Babysocken strickt.
»Wohin jetzt?«, fragt der Fahrer.
»Das wirst du erfahren, wenn wir so weit sind!«, brüllt Pressia ihn an. El Capitán ist stolz auf sie. Erleichtert, als er sieht, dass das Blut in ihre Wangen zurückgekehrt ist.
Er sieht wieder auf den Bildschirm. »Hast du einen Plan?«
Sie nickt mit dem Puppenkopf. Laut sagt sie: »Wir folgen dem Blip.«
El Capitán legt den Finger auf das Foto und zieht es über den Sitz zu sich. »Jemand, den du kennst?«
»Mein Großvater.«
»Ein hübsches Zimmer hat er da.«
»Ja.«
Also haben sie ihren Großvater als Geisel genommen. So spielen sie also dieses Spiel. El Capitán nimmt das einzelne Blatt mit den Befehlen und überfliegt den Inhalt. Pressia soll den Reinen aufspüren, sein Vertrauen gewinnen, ihm zur Zielperson – seiner Mutter – folgen und beide an Spezialkräfte übergeben, die eintreffen, sobald sie per Funk gerufen werden. »Spezialkräfte?«
»Die merkwürdigen Geschöpfe, die deine Fallen ausgeräumt haben.«
El Capitán versucht das Gehörte zu begreifen. Er liest weiter. Sie sollen den Unterschlupf schützen sowie sämtliche Objekte darin – koste es, was es wolle –, insbesondere Pillen, Kapseln, Ampullen. Alles, was nach Medikamenten aussieht. Belze hat das Kommando. El Capitán hat ihr zu helfen und sie zu unterstützen. El Capitán fühlt sich gefangen und missbraucht, wie die Rekruten draußen in den Pferchen. Er ballt die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortreten. Seine Brust fühlt sich an, als würde sie zusammengedrückt.
»Du weißt, wohin wir gehen?«
Sie nickt.
»Ich befolge nur dann Befehle, wenn du wirklich weißt, was dein Auftrag ist.«
»Wie Ingership sagt: Das Kapitol ist gut. Es wacht über uns wie das gnädige Auge Gottes. Er bittet uns um etwas, und wir werden ihm dienen.«
El Capitán kann nicht anders, er muss lachen. »Die ganzen Jahre habe ich mich an der Nase herumführen lassen! Ha. Das war richtig dumm von mir, nicht wahr? Das Kapitol ist überhaupt nicht böse. Die ganze Zeit über dachten wir, das Kapitol wäre der Feind und wir müssten eines Tages gegen es kämpfen. Ist es nicht so, Helmud?«
Helmud sagt kein Wort. Pressia starrt geradeaus durch die Scheibe. »Nein, wir werden nicht gegen das Kapitol kämpfen«, sagt sie. Doch El Capitán beobachtet den Puppenkopf, der sich ein wenig hebt und senkt. Doch. Doch, sie werden kämpfen. Pressia boxt mit dem Kopf gegen den Ledersitz.
»Okay«, sagt El Capitán. Eine Sache ist klar – er muss den Fahrer loswerden. »Warum lässt du dir nicht den Wind ein wenig um die Ohren wehen?«, sagt er zu Pressia. Er hat sich bisher kaum jemals in einem Ton wie diesem reden hören, leise, freundlich, ruhig. »Du kannst ein wenig Bewegung vertragen. Geh dir die Füße vertreten. Mach einen kleinen Spaziergang.«
Pressia starrt ihn eine ganze Minute lang an, dann nickt sie. Sie steigt aus dem Wagen, lehnt sich gegen die Tür, kämpft um ihr Gleichgewicht, bis sie ohne Hilfe steht. Mit der gesunden Hand hält sie sich den Kopf, als wäre ihr schwindlig. Dann schließt sie die Tür. El Capitán sieht ihr nach, bis sie um die Ecke des umgestürzten Wasserturms verschwunden ist.
»Was zum Teufel soll das?«, fragt der Fahrer und dreht sich zu El Capitán um.
Helmud ist aufgeregt. Er beginnt auf El Capitáns Rücken zu schaukeln, vor und zurück. »Teufel, Teufel, Teufel«, flüstert er. Es ist eine Warnung. El Capitán kennt das. Helmud versucht dem Fahrer zu sagen, dass er sich beruhigen soll. Doch der denkt nicht daran. »Belze hat einen Auftrag! Willst du dich einmischen? Ich sollte dich ausliefern! Ingership wird dich …«
El Capitán versetzt dem Fahrer einen Schlag gegen den Kehlkopf. Der Kopf des Mannes kracht gegen die Scheibe. El Capitán steigt aus, behindert durch Helmud, und mit zwei, drei schnellen Schritten ist er bei der Fahrertür. Er reißt sie auf und zerrt den Benommenen an seiner Uniformjacke aus dem Sitz. Sie torkeln. El Capitán verpasst ihm eine Kopfnuss und stößt ihn im Licht der Scheinwerfer zu Boden. Helmuds Stirn kracht gegen El Capitáns Hinterkopf. El Capitán tritt dem Fahrer in die Rippen, umrundet den zusammengekrümmt am Boden Liegenden und tritt ihm von hinten in die Nieren. Er schiebt die Hand um den Griff der Waffe in seinem Gürtel, will den Kerl erschießen, doch dann entscheidet er sich dagegen. Soll er zusehen, wie er sich hier draußen in den Deadlands durchschlägt.
Der Fahrer windet sich am Boden und hustet Blut. Der Sand färbt sich rot. El Capitán tätschelt die Motorhaube des Wagens. Er erinnert sich an sein Motorrad. Es war fast wie Fliegen. Er klettert hinter das Lenkrad, reibt über das Armaturenbrett, packt das Steuer mit beiden Händen. Er hat alles gewusst, was es über das Fliegen von Flugzeugen zu wissen gab, und er weiß, dass er niemals dazu kommen wird. Aber vielleicht fühlt sich Autofahren ein wenig danach an, nur ein ganz klein wenig.
Er lässt die Scheibe herunter und pfeift durch die Zähne. »Pressia?«, ruft er.
Pressia taucht wieder auf. Sie scheint ein wenig zu Kräften gekommen.
»Steig ein, auf den Beifahrersitz. Der Fahrer fühlt sich ein wenig unwohl. Ich fahre.«
Pressia steigt in den Wagen und schließt die Tür. Sie stellt keine Fragen. Die Luft im Innern scheint elektrisch aufgeladen zu sein. El Capitán legt den Rückwärtsgang ein, gibt Gas, dann wieder den Vorwärtsgang. Er kurbelt am Lenkrad, um den Fahrer nicht zu erwischen. Die Reifen drehen durch, dann finden sie Halt, und der Wagen setzt sich mit einem dumpfen Brummen in Bewegung, das er in den Rippen spüren kann. Eine Staubwolke wirbelt auf, aus deren Sog ein Dust aufsteigt. El Capitán kann es im Rückspiegel sehen, im Schein der Rückleuchten. Und wie ein echtes Tier, angezogen vom Blut des Fahrers, stürzt sich der Dust auf den Körper. Die Kappe rollt verloren über die Deadlands.