PARTRIDGE
Cygnus
»Du hast es nicht, oder?«, fragt Partridge seine Mutter.
»Was denn, ein Mittel zur Umkehrung der Schnellen Zelldegeneration?« Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Wir waren auf der Hut vor deinem Vater. Wir wussten, dass er mit uns gebrochen hatte.«
»Woher wusstet ihr das?«
»Er hatte mich belogen.«
»Du hast ihn doch auch belogen, oder nicht?«, entgegnet Partridge so schnell, dass er selbst überrascht ist.
Sie hebt den Blick und sieht ihn an. »Zugegeben. Aber er war nicht der, der er zu sein vorgegeben hat.«
»Wir können nicht immer so sein, wie wir wollen.« Er denkt an Sedge. Kann er jemals zurückverwandelt werden? Kann seine Mutter ihn vielleicht retten?
»Hör zu, es gibt da ein paar Dinge, die du wissen solltest. Dein Vater unterzog sich einer Aufwertung seines Gehirns, bevor das Verfahren vollständig getestet war. Damals waren wir alle noch jung.« Aribelle sieht zu Boden. »Schon bevor die Bomben fielen war sein Gehirn vollständig umcodiert. Er sagte, er müsse sein Gehirn verbessern, damit er diese neue Welt erschaffen könnte. Und Menschen, die ihrer wert wären – dem Neuen Eden. Ich habe ihn damals nicht oft gesehen. Er erzählte mir, dass er aufgehört hätte zu schlafen. Dass er nur noch denken würde. Dass sein Verstand unter Strom stünde. Die Synapsen brannten förmlich in seinem Kopf, ein Schnellfeuer ohnegleichen. Und trotzdem dachte er …«
»Was?«, fragt Partridge, als Aribelle verstummt.
»Das Kapitol war mehr als nur ein Job. Kuppelbauten waren seine lebenslange Obsession. Du hättest ihn hören sollen, wie er schon mit neunzehn Jahren Vorträge über antike Kulturen gehalten hat … Er hielt sich selbst für die Krönung der Menschheit. Er wusste, dass die Hirnkapazitätssteigerung irgendwann ihren Zoll verlangen würden. Aber er glaubte, bis dahin hätte er einen Weg gefunden, um das in Ordnung zu bringen. Und er war überzeugt, sobald ihm das gelungen wäre, würde er ewig leben.«
Partridge schüttelt den Kopf. »Du hast gesagt, du hättest ursprünglich biomedizinische Nanotechnologie für Traumaheilung erforscht.« Er denkt an Arvin Weed, der ständig von sich selbst regenerierenden Zellen geredet hat. »Warum hast du diese Medikamente nicht selbst genommen? Oder konntest du Knochenzellen nicht dazu bringen, weiteres Knochenwachstum zu schaffen? Oder Muskelzellen Muskelgewebe? Haut? Oder hast du die Medikamente nicht hier?«
»Doch, natürlich. Eine ganze Reihe. Einige sind sehr stark. Du musst mehr darüber erfahren.« Sie öffnet eine Schublade, und dort liegen in einer Reihe von Vertiefungen Ampullen.
»Sehr stark? Inwiefern?«
»Sie sind Teil einer Antwort auf die Umkehrung. Dein Vater braucht das, was in diesen Ampullen ist. Doch er braucht noch einen weiteren Inhaltsstoff, von dem ich nicht weiß, ob es ihn gibt oder nicht. Ein anderes Mitglied der Gruppe hat daran gearbeitet. Und er braucht die Formel, wie er die beiden Substanzen vermischen muss.«
»Gibt es diese Formel?«
»Es gab sie mal, vor langer Zeit. Ich weiß nicht, ob das heute noch so ist.«
Partridge denkt an die Waffen in den Armen seines Bruders. Pressias Puppenkopffaust. Bradwells Vögel, El Capitán und seinen Bruder Helmud. »Können diese Medikamente auch Verschmelzungen rückgängig machen?«
Sie schließt die Augen, als hätte sie Schmerzen, dann öffnet und schließt sie langsam ihre Zange und schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt sie ärgerlich. »Das nicht. Sie trennen kein Gewebe, sondern verbinden es und lassen es wachsen. Dein Vater hat diese biosynthetisierende Nanotechnologie absichtlich in den Bombencocktail gemischt, mit dem einzigen Zweck, Überlebende mit der Welt ringsum zu verschmelzen und eine neue Klasse von Untermenschen zu schaffen, eine Klasse von Sklaven, die im Neuen Eden den anderen dienen sollten, nachdem sich die Erde erneuert hat. Ich musste es den anderen sagen. Ich musste ihn verlassen und einen Weg finden, Menschen zu retten. Ich habe versagt.
Das ist der eigentliche Grund, warum ich dich mit nach Japan genommen habe, wo ich mich mit Emis – Pressias – Vater traf, einem der sieben. Ich musste ihm so viele Geheimnisse deines Vaters verraten, wie ich konnte.«
»Aber warum hast du diese Medikamente nicht selbst genommen?«
»Zum einen sind sie noch nicht vollkommen. Die Nanotechnik weiß nicht immer, wann sie aufhören muss. Außerdem, Partridge, selbst wenn alles genau wie gewünscht funktionieren würde – du weißt, warum ich sie nicht nehmen würde.«
»Nein!«, sagt Partridge aufgebracht. »Weiß ich nicht!«
»Es wäre, als würde ich die Wahrheit verbergen wollen. Mein Körper ist die Wahrheit. Es ist die Geschichte.«
»Aber es muss nicht so sein.«
Sie sieht auf seine Hand. »Was ist damit passiert?«
»Ich habe ein kleines Opfer gebracht«, sagt er.
»Möchtest du es rückgängig machen?«
Er starrt auf die Bandage und das dunkle, getrocknete Blut. Er schüttelt den Kopf. »Nein.«
»Dann verstehst du das vielleicht.« Sie schließt die Schublade wieder. »Ich habe einen Großteil meines Lebens damit verschwendet, Dinge zu bedauern. Ein großer Teil von alldem ist meine Schuld, Partridge.« Sie beginnt zu weinen.
»Du kannst dir keine Vorwürfe machen«, sagt er.
»Ich musste irgendwann aufhören zurückzublicken. Es fraß mich bei lebendigem Leib auf. Dich und deine Schwester zu sehen hilft mir, den Blick in die Zukunft zu richten.«
»Da ist noch etwas, das mein Vater will«, sagt Partridge.
»Und was wäre das?« Sie sieht ihn überrascht an. Ihre Augen sind den seinen sehr ähnlich und zugleich ganz anders. Er hat sie so sehr vermisst, dass er für einen Moment kaum atmen kann. Er muss zu Boden sehen, um nicht die Fassung zu verlieren.
»Dich«, sagt Partridge.
»Mich? Warum? Hat er nicht genügend Lakaien, die ihn von vorn bis hinten bedienen?«
»Caruso hat gesagt, dass ich der Anführer sein sollte, der das Kapitol von innen heraus übernimmt. Was hat er damit gemeint?«
»Genau das, was er gesagt hat. Du solltest unser Anführer werden. Du solltest deinen Vater niederwerfen und das Kapitol übernehmen. Wir haben Schläferzellen im Kapitol. Ein ausgedehntes Netzwerk.«
»Schläferzellen?«
»Leute, die auf unserer Seite sind«, erklärt sie.
Sie fährt mit ihrem Rollstuhl zum Schreibtisch und öffnet eine Schublade. Mit ihrer Zange nimmt sie ein Papier hervor. Es ist eine Namensliste. »Das Kapitol weiß nicht, dass es diese Liste gibt. Es würde das Leben vieler Menschen gefährden.«
Partridge überfliegt die Liste. »Was denn, die Weeds? Arvins Eltern? Und der Vater von Algrin Firth? Aber Algrin soll zu den Spezialkräften. Er ist für die Eliteausbildung vorgesehen.« Er liest weiter. »Glassings«, sagt er, und dann erinnert er sich an die Unterhaltung, die er auf dem Ball mit seinem Geschichtslehrer geführt hat. »Er hat mich ermutigt, deine Sachen aus dem Archiv für die Persönlichen Gegenstände Verstorbener mitzunehmen«, sagt Partridge. »Er hat außerdem gesagt, dass ich mit ihm über alles reden könnte und dass ich nicht allein wäre.«
»Durand Glassings«, sagt seine Mutter. »Er ist wichtig. Unsere beste Verbindung zu dir.«
»Er ist mein Lehrer für Weltgeschichte.«
»Er war derjenige, der dir den Plan erklären sollte«, sagt sie.
Partridge ist sprachlos. »Aber ich bin kein Anführer!«, sagt er. »Ich hätte keine Schläfer befehligen und das Kapitol überwältigen können.«
»Wir haben auf ein Zeichen gewartet, dass du so weit bist. Und wir bekamen dieses Zeichen.«
»Was für ein Zeichen?«, fragt Partridge.
»Ironischerweise deine Flucht.«
»Was machen wir jetzt? Sie wollen, dass wir dich ausliefern. Zusammen mit allem, was du hier in deinem Labor hast.«
»Und wenn wir uns weigern?«
»Es gibt eine Geisel«, sagt Partridge. »Ein Mädchen namens Lyda.« Seine Stimme wird rau, als er ihren Namen ausspricht.
»Lyda«, sagt seine Mutter. »Sie bedeutet dir viel?«
Er nickt. »Ich wünschte, es wäre nicht so.«
»Nein, tust du nicht.«
»Sie hat ihr Leben für mich riskiert. Ich bin bereit, meines für sie zu riskieren. Aber ich bin nicht bereit, dein Leben aufs Spiel zu setzen.«
»Vielleicht können wir ihnen trotzdem geben, was sie haben wollen. Ich nehme ein paar Pillen mit, und bis sie herausfinden, dass sie wertlos sind, könnt ihr euch vielleicht alle in Sicherheit bringen«, sagt sie. »Wir können uns Zeit verschaffen. Irgendwann jedoch wirst du kämpfen müssen, Partridge.«
»Ich kann nicht. Ich bin nicht Sedge. Er war der Anführer, nicht ich.«
»War der Anführer?«, fragt sie. »Was ist mit ihm?«
»Mir hat man erzählt, er wäre tot. Selbstmord. Aber er lebt. Er ist oben, vor dem Eingang. Er steht auf der anderen Seite – er ist der Soldat, der die Geisel festhält. Das Kapitol hat Sedge in eine Maschine verwandelt, eine Maschine, gepaart mit einem Tier. Ich kann es nicht erklären. Ich weiß, dass er es ist, ich erkenne ihn an seiner Stimme. Ich würde sie überall wiedererkennen.«
»Ich will ihn sehen«, sagt sie.
»Heißt das, du willst nach oben? Dich selbst ausliefern?«
»Ich habe keine Angst vor deinem Vater.«
»Aber er könnte dich töten.«
»Ich bin schon größtenteils tot.«
»Das ist nicht wahr!« Es ist etwas an seiner Mutter, das sie lebendiger erscheinen lässt als jeden, dem er jemals begegnet ist.
»Du kannst das schaffen, Partridge. Du kannst das Kapitol übernehmen und die Welt neu erschaffen, für alle. Einen Reinen, so nennen sie dich doch, oder? Was bedeutet das in Wirklichkeit?«
Er weiß nicht, was er darauf antworten soll. Er wünschte, er wüsste es. Er wünschte, die Worte kämen ihm in den Sinn. Doch da ist nichts.
»Unsere Kommunikation mit den Schläfern im Kapitol ist sehr eingeschränkt, und seit deiner Flucht ist sie völlig zusammengebrochen. Wenn wir wüssten, ob sie noch bei uns sind, würde uns das ein ganzes Stück weiterhelfen.«
»Das sind sie«, sagt Partridge zu ihr. »Sie haben Lyda eine Botschaft mitgegeben. Sie lautet: Sag dem Schwan, dass wir warten.«
»Der Cygnus«, flüstert sie.
Dann plötzlich ertönt von oben ein Hämmern. Die Zikaden erschrecken und flattern nervös durch das Zimmer.
Es sind Schüsse. Schüsse von Maschinengewehren.