PRESSIA

Blut

Als Partridge sie losgelassen hat, rennt Pressia zum Leichnam ihrer Mutter. Die untere Hälfte ihres Gesichts ist weg. Sie ist blutüberströmt, doch ein Auge ist klar. Es blinzelt. Aribelle lebt noch. Pressia legt die Hände auf die blutige Brust ihrer Mutter. Drei der sechs kleinen Quadrate pulsieren. Soll sie ihr Herz massieren? »Sie lebt noch!«, schreit Pressia. »Sie lebt noch!«

Bradwell kniet neben ihr nieder. »Sie stirbt, Pressia«, sagt er leise. »Es ist vorbei. Sie wird nicht überleben.«

Partridge ist im Wald, tief unter den Bäumen. Sie kann sein ersticktes Schluchzen hören. Ihre Mutter starrt zu ihr hoch.

»Sie leidet«, sagt El Capitán leise. »Es könnte noch länger dauern.«

Ihre Mutter hat Mühe zu atmen. Ihr Auge blinkt.

Pressia erhebt sich. Bradwell ebenfalls. Sie dreht sich zu El Capitán um.

»Kannst du ihr Gnade gewähren?«, fragt er. »Schaffst du das?«

Pressia starrt El Capitán an, dann ihre Mutter, die anfängt zu zittern. Ihr blutiger Kopf knallt gegen Steine und Dreck. »Gib mir eine Waffe.«

El Capitán reicht ihr sein Gewehr. Sie hebt die Waffe, zielt auf ihre Mutter, atmet ein, halb wieder aus – und schließt die Augen. Sie drückt ab. Sie spürt den Rückstoß im ganzen Körper.

Pressia ist wie erstarrt. Sie starrt ihre Mutter an. Das Zittern hat aufgehört. Die drei kleinen pulsierenden Quadrate sind erloschen. »Sie hat Frieden gefunden«, sagt El Capitán.

Pressia gibt ihm die Waffe zurück. Sie sieht nicht zurück. Sie weiß, woran sie sich erinnern will und woran nicht. Sie setzt sich den Hügel hinunter in Bewegung.

»Los, verschwinden wir!«, sagt Bradwell. »Irgendwo da draußen gibt es noch einen überlebenden Soldaten!«

Blätter, Ranken. Das lockere Erdreich, das unter ihren Schritten nachgibt.

Ich bin hier, denkt Pressia. Ich bin hier und im nächsten Moment und im übernächsten – aber wer bin ich? Pressia Belze? Emi Imanaka? Ist sie jemandes Enkeltochter oder Tochter? Eine Waise, ein uneheliches Kind, ein Bastard mit einer Puppenkopffaust, eine Soldatin?

Sie rennt den Hügel hinunter, und die anderen haben Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Vor ihrem geistigen Auge löst sich das Gesicht ihrer Mutter erneut auf, zerplatzen die Köpfe von Sedge und Aribelle, und alles ist voller Blut. Blut überall – ein Film von Blut auf Gras, Nesseln, Ranken, dornigen Zweigen.

Sie rennen alle den Hügel hinunter, in vollem Lauf.

Pressia will die Toten begraben.

Aber nein.

Ein Soldat ist noch auf den Beinen. Er wird sie jagen.

Pressias Großvater war Leichenbestatter. Er hätte sie hübsch zurechtmachen können. Er konnte einen Kopf verdrehen, um einen geplatzten Schädel zu verbergen. Er konnte eine Nase aus einem Stück Knochen nachbilden, er konnte die Haut spannen, er konnte Augenlider nachmachen und zunähen. Früher gab es mal mit Seide ausgeschlagene Särge. Großvater ist auch tot.

Pressia ist unten angekommen. Es wird kein Begräbnis geben. Sedge und Aribelle werden von wilden Tieren gefressen werden. Das Leichentuch ist ihr eigenes Blut.

Dort steht der schwarze Wagen, halb verdeckt unter Gestrüpp und Ranken. El Capitán beginnt, alles runterzureißen.

Bradwell steht schwer atmend neben Pressia. Er hat sich einen notdürftigen Verband aus Stoff von seiner Hose angelegt. Der Verband ist durchnässt und dunkel von Blut. Das Hemd ist verschwunden; sein Oberkörper ist nackt. Partridge hat ihm seine Jacke angeboten, doch Bradwell sagt, dass er innerlich glüht. Die Vögel flattern, die hellen Schnäbel tief in seiner Haut, die maskierten Augen voller Panik. Sie wollte sie immer sehen, und da sind sie, die grauen, ausgebreiteten Schwingen, die bleichen Brüstchen, die glänzenden Augen, die zierlichen Krallenfüße in hellem Rot. Sie wüsste gerne, was für Vögel es sind. Sie stellt sich Bradwell als kleinen Jungen vor, der durch einen Schwarm rennt. Sie fliegen auf, dann ein blendend helles Licht und die Vögel sind mit ihm verschmolzen, für immer. Er reicht ihr die Hand.

»Nein«, sagt sie. Sie will aus eigener Kraft gehen.

Sie packt die kleine Glocke, die sie die ganze Zeit in der Jackentasche mit sich herumgetragen hat. Jetzt wird sie die Glocke niemals ihrer Mutter geben, den Beweis für ein altes Leben. Sie wird ihr niemals die Geschichten erzählen, die sie aufbewahrt hat. Sie hatten nicht die Zeit. Pressia hatte nicht einmal die Zeit, ihrer Mutter zu sagen, dass sie sie liebt.

Das Mädchen in Weiß ist ebenfalls blutbesudelt. Lyda. Partridge hat sie neben sich. Sie stützt ihn mehr als er sie. »Aber sie wollten meine Mutter lebend«, sagt er. »Sie wollten sie verhören. Das ergibt doch keinen Sinn!« Er hält die Flasche mit den Pillen fest an die Brust gedrückt.

Pressia ist immer noch Auge und Ohr des Kapitols. Sie sehen alles, was sie sieht, sie hören alles, was sie hört. Doch sie begreift nicht, was geschehen ist. Sie etwa? Ist es das, was sie die ganze Zeit wollten?

El Capitán hat den Wagen unterdessen von dem Gestrüpp befreit. »Fahren wir«, sagt er.

»Fahren wir«, sagt Helmud.

Alle steigen ein. Partridge und Lyda auf der Rückbank, Pressia und Bradwell vorne neben El Capitán am Lenkrad. Helmud starrt hinaus ins Leere. Er zittert.

El Capitán legt den Rückwärtsgang ein. »Wohin?«

»Pressia muss wieder frei werden«, sagt Bradwell. »Wer auch immer ihr das angetan hat, er muss es rückgängig machen.«

Sie setzen zurück in die Deadlands und fahren dann nach Süden, um die Berge herum.

»Zur Farm«, sagt Pressia. »Wir müssen auf die andere Seite der Berge.«

»Wie kann es hier draußen eine Farm geben?«, fragt Partridge misstrauisch.

Pressia denkt an Ingerships Frau und an das, was sie ihr zugeflüstert hat: Ich passe auf, dass dir nichts passiert.

»Sie hatten Austern, Eier und Limonade, und die Türen hatten Gummidichtungen, um den Staub draußen zu halten. Im Esszimmer hing ein wunderschöner Kronleuchter an der Decke, und draußen auf den Feldern waren Arbeiter, die sich um das Getreide kümmerten«, berichtet sie, doch während die Worte aus ihrem Mund kommen, überlegt sie, ob sie den Verstand verloren hat. Sie sieht das Gesicht ihrer Mutter, den Kuss, den sie ihrem ältesten Sohn gibt, und dann plötzlich sind beide tot. Es geschieht wieder und wieder in ihrem Kopf, langsam, wie in Zeitlupe. Pressia beugt sich nach vorne, nimmt den Kopf in den Schoß, schließt die Augen, öffnet sie, schließt sie. Jedes Mal, wenn sie sie öffnet, starrt sie ein Puppenkopf an. An diesem Kopf hat ihre Mutter sie erkannt, den klickenden Augenlidern und den Plastikwimpern, den kleinen Nasenlöchern und dem Loch zwischen den Lippen.

Die Dusts erheben sich von Neuem. Es sind weniger hier, wo das Land allmählich in Gras übergeht, das es mit seinen Wurzeln festhält. Dennoch machen sie sich auf und versuchen die Limousine einzukreisen. El Capitán rammt einen, und die anderen ziehen sich zurück.

Bradwell schreit, dass er etwas gesehen hat: »Kein Dust. Spezialkräfte!«

Sie fahren am Berg entlang, unter einem vorspringenden Felsen vorbei, wo der Soldat lauert. Es gibt einen dumpfen Schlag, als er auf dem Dach des Wagens landet. Pressia sieht nach oben und bemerkt die zwei Beulen, die er mit seinen Stiefeln gemacht hat.

Bradwell packt das Gewehr, das neben El Capitán auf dem Boden gelegen hat, richtet es senkrecht nach oben und feuert. Die Ladung reißt ein Loch in das Metall, und der Schuss streift das Bein des Soldaten. Er fällt aufs Dach, doch er klammert sich fest.

El Capitán versucht ihn durch wilde Lenkmanöver abzuschütteln, aber es klappt nicht. Der Soldat taucht vor dem hinteren Seitenfenster auf und tritt die Scheibe mit dem unverletzten Bein ein. Glassplitter regnen ins Innere. Er greift in den Wagen und packt Partridge an der Kehle, doch Partridge hat einen Fleischerhaken und seine eigene übermenschliche Reaktion. Er holt blitzschnell aus und treibt den Haken in den Rücken des Soldaten, zwischen die Schulterblätter.

Der Soldat gibt ein dumpfes Stöhnen von sich. Sein Griff erschlafft, und Partridge fällt in seinen Sitz zurück. Der Soldat klammert sich weiter an den Wagen. Mit der freien Hand versucht er den Haken auf seinem Rücken zu erreichen. Bradwell lässt sein Fenster runter, klettert halb aus dem Wagen, spannt die Waffe erneut, doch bevor er Zeit hat zu feuern, sieht ihn der Soldat, wirft sich ihm entgegen, zerrt ihn aus dem Wagen. Sie landen draußen im Dreck und überschlagen sich mehrmals.

Pressia ist dem Wahnsinn nah. Nicht Bradwell – nicht noch jemand. Das würde sie nicht ertragen. Sie will aus dem Wagen, zerrt am Türöffner – verriegelt. »Mach auf!«, schreit sie.

»Nein!«, widerspricht El Capitán. »Du kannst ihm nicht helfen. Es ist zu gefährlich.«

Sie hämmert mit dem Puppenkopf gegen die Tür. »Lass mich raus!«

Partridge greift über den Sitz, packt sie bei den Armen und zieht sie zurück. »Pressia! Nicht!«

»Nimm das Gewehr!«, ruft Lyda.

Pressia packt das Gewehr und hängt sich mit dem Oberkörper aus dem Fenster.

El Capitán lenkt den Wagen herum, um ihr ein besseres Schussfeld zu bieten. »Halt dich bereit, sobald sie sich trennen. Du hast vielleicht nur diese eine Chance.«

Der Soldat versucht sich aufzurappeln, doch sein Bein hat keine Muskeln mehr. Er windet sich vor Schmerz wegen des immer noch in seinem Rücken festsitzenden Hakens. Er hat Bradwell bei der Kehle, doch Bradwell tritt ihm gegen die Beinwunde, stößt ihm den Ellbogen in den Unterleib und reißt sich endlich von ihm los.

Angezogen vom Blut des Soldaten umkreist ein Dust die beiden wie ein Geier, allerdings nicht in der Luft, sondern unterirdisch. Aschewölkchen steigen auf, erschweren die Sicht. Bradwell versetzt dem Soldaten einen Tritt in den Magen, doch der Soldat packt Bradwell und wirft ihn nieder. Bradwell landet hart, direkt vor einem lauernden Dust. Er weicht hastig zurück. Der Soldat hält inne und scheint kurz sein verwundetes Bein in Augenschein zu nehmen.

Bradwell packt den Fleischerhaken und reißt ihn aus dem Rücken des Soldaten. Mit dem Haken in der Hand fällt er zurück und landet hart.

Pressia atmet ein, stößt die Hälfte der Luft wieder aus, zielt und schießt.

Der Soldat wird herumgerissen und sackt zusammen.

Bradwell springt auf, und mit einer einzigen schnellen Bewegung – die Vögel auf seinem Rücken sind ein hektisches verschwommenes Flügelflattern – zerschneidet er den Dust in zwei Teile. Er ist wunderschön, denkt Pressia. Die verwundeten Schultern, als wäre er gewaltsam zum Ritter geschlagen worden, sein markanter Kiefer, die blitzenden Augen.

El Capitán lenkt den Wagen zu Bradwell, entriegelt die Tür, doch Pressia hat sich schon durchs Fenster geschoben. Sie packt Bradwell und hilft ihm zum Wagen. Sie öffnet die Tür. Beide gleiten hinein. Sie zieht die Tür hinter sich zu, dann sieht sie Bradwell an. Sie hebt die Hand und berührt einen Schnitt an seiner Unterlippe. »Stirb nicht«, sagt sie. »Versprich mir das.«

El Capitán legt den Gang ein und gibt Gas.

»Ich verspreche, dass ich mir Mühe gebe«, sagt Bradwell.

Sie schaut durch die Heckscheibe nach hinten. Mehr Dusts sind dazugekommen und umzingeln den Soldaten. Einer erhebt sich und bläht sich auf wie eine Kobra. Innerhalb weniger Sekunden ist der Soldat verschwunden, von der Erde verschlungen.

Bradwell streicht mit der Hand über Pressias Haar. Sie schlingt die Arme um ihn und lauscht mit geschlossenen Augen dem Hämmern seines Herzschlags. Sie stellt sich vor, für immer so zu bleiben, und alles andere einfach versinken zu lassen.

Bald darauf sagt Bradwell: »Wir sind da«, und sie hebt den Kopf. Sie biegen um eine Ecke, und vor ihnen liegen Felder mit Getreide und die lange Zufahrt zur Veranda des gelben Farmhauses. Für einen Moment stellt sie sich vor, sie wären auf dem Weg nach Hause.

Doch als sie näher kommen, sieht sie etwas an einem der Fenster. Es sieht beinahe aus wie eine kleine Fahne – ein weißes Handtuch mit einem blutroten Streifen in der Mitte. Sie greift in ihre Tasche und zieht die Karte hervor, die Ingerships Frau ihr in der Küche gegeben hat. Das Zeichen. Was bedeutet es? Ich kann dir helfen, aber du musst helfen, mich zu retten. War es nicht das, was sie zu Pressia gesagt hatte?