PRESSIA
Graue Augen
Der Reine kommt taumelnd auf die Beine und steht schwankend da. Er blickt sich einen Moment suchend um, die Straße mit den ausgebrannten Ruinen hoch und runter, über die Trümmerfelder mit ihren Rauchfahnen, die gerade hinaufsteigen in die nächtliche Luft, dann wieder zu den Ruinen. Er sieht hinauf in den Himmel, als versuchte er, sich auf diese Weise zu orientieren. Schließlich wirft er sich die Tasche an dem langen Trageriemen über die Schulter und schlingt sich den Schal um den Hals. Er blickt zu den Trümmerfeldern und setzt sich in dieser Richtung in Bewegung.
Pressia zieht die Wollsocke über ihrer Puppenkopffaust hoch und den Pulloverärmel herunter, dann tritt sie aus ihrer Deckung.
»Nicht«, sagt sie. »Das schaffst du nicht.«
Er wirbelt erschrocken herum, dann fällt sein Blick auf sie. Er ist offensichtlich erleichtert, dass sie kein Mehrling und keine Bestie ist und auch kein Soldat der OSR – obwohl sie bezweifelt, dass er auch nur den Namen all dieser Dinge weiß. Wovor sollte man sich auch fürchten dort, wo er herkommt? Weiß er überhaupt, was Furcht ist? Hat er Angst vor Geburtstagskuchen und vor Hunden mit Sonnenbrillen und neuen Autos mit großen roten Reklametafeln darauf?
Sein Gesicht ist glatt und klar, und seine Augen sind von einem blassen Grau. Sie kann kaum glauben, dass sie einem Reinen gegenübersteht – einem lebendigen, atmenden Reinen.
Verbrenn einen Reinen und atme die Asche,
Nimm seine Därme und mach eine Tasche,
Spinn seine Haare und mach einen Strick,
Und koch seine Knochen zu Seife dick …
Das ist es, was ihr in den Sinn kommt. Kinder singen das Lied quasi ununterbrochen, aber niemand hält es für möglich, je einen Reinen zu Gesicht zu bekommen, ganz egal, wie viele dumme Gerüchte es gibt. Nie im Leben. Sie fühlt sich, als wäre etwas Leichtes, Luftiges, Beschwingtes in ihrer Brust, eingesperrt wie Freedle in seinen Käfig, wie der selbst gemachte Schmetterling in ihrem Sack.
»Ich will zur Lombard Street«, sagt er in diesem Moment. Er ist ein bisschen außer Atem. Pressia fragt sich, ob seine Stimme anders ist, von einer anderen Qualität – klarer, reiner? Die Stimme von jemandem, der nicht seit Jahren Asche eingeatmet hat? »Zehn-vierundfünfzig Lombard Street, um genau zu sein. Große Reihenhäuser mit schmiedeeisernen Toren.«
»Es ist nicht klug, ohne jede Deckung mitten auf der Straße zu stehen«, erklärt Pressia. »Das ist gefährlich.«
»Das habe ich gemerkt.« Er macht einen Schritt auf sie zu, dann hält er inne. Eine Seite seines Gesichts ist ein bisschen mit Asche eingestaubt. »Ich weiß nicht, ob ich dir trauen sollte«, sagt er. Das ist nachvollziehbar. Beinahe hätten die Mehrlinge ihn erledigt – kein Wunder, dass er nervös ist.
Sie streckt ihm den nackten Fuß hin. »Hier. Ich hab meinen Schuh geworfen, um die Mehrlinge abzulenken. Sie hätten dich umgebracht. Einmal hab ich dich also schon gerettet.«
Er sieht die Straße hinunter zu der Stelle, wo sie ihn herumgestoßen haben. Dann geht er zu Pressia in die Seitengasse. »Danke«, sagt er und lächelt. Seine Zähne sind gerade und strahlend weiß, als hätte er sein ganzes Leben nur frische Milch getrunken und sonst nichts. Sein Gesicht ist aus dieser Nähe noch verblüffender wegen seiner Vollkommenheit. Sie vermag nicht zu sagen, wie alt er ist. Er scheint älter zu sein als sie, doch in anderer Hinsicht scheint er jünger. Sie will nicht, dass er ihr Gaffen bemerkt, deswegen senkt sie den Blick. »Sie hätten mich zerrissen«, sagt er. »Ich hoffe, ich bin deinen verlorenen Schuh wert.«
»Ich hoffe, mein Schuh ist nicht verloren«, sagt sie und wendet sich ein wenig ab, um die Narbe in ihrem Gesicht zu verbergen.
Er zupft am Riemen seiner Tasche. »Ich helfe dir bei der Suche nach deinem Schuh, wenn du mir bei der Suche nach der Lombard Street hilfst.«
»Es ist nicht mehr so einfach, Straßen zu finden, weißt du? Wir benutzen keine Straßennamen mehr.«
»Wo hast du deinen Schuh hingeworfen? In welche Richtung?«, fragt er und geht zurück Richtung Hauptstraße.
»Nicht«, sagt sie, obwohl sie den Schuh doch braucht, das Geschenk von ihrem Großvater, das vielleicht sein letztes war. Sie hört einen Motor, östlich, und einen anderen in der anderen Richtung. Und da ist immer noch einer in der Nähe, oder ist es ein Echo? Er sollte sich verstecken, jeder kann ihn sehen. Das ist gefährlich. »Lass es!«
Aber er steht schon wieder mitten auf der Straße, breitet die Arme aus und deutet in entgegengesetzte Richtungen, als wollte er sich zu einer lebenden Zielscheibe machen.
»Das Ölfass dort«, sagt sie, damit er sich beeilt.
Er wirbelt herum, sieht das Fass und rennt los. Er umrundet das Fass und bückt sich. Als er wieder hochkommt, hat er ihren Schuh. Er hebt ihn über den Kopf wie einen Preis.
»Hör auf damit!«, flüstert sie und wünscht sich nur, dass er schnell wieder in Deckung kommt.
Er rennt zu ihr zurück und kniet vor ihr nieder. »Hier«, sagt er. »Gib mir deinen Fuß.«
»Schon gut«, widerspricht sie. »Das kann ich selbst.« Ihre Wangen sind gerötet. Sie ist verlegen und zugleich wütend auf ihn. Was glaubt er eigentlich, wer er ist? Er ist ein Reiner, der in Sicherheit gewesen ist, sein ganzes Leben lang, der es immer leicht gehabt hat. Sie kann ihren Schuh selbst anziehen. Sie ist kein Kind mehr. Sie bückt sich, reißt ihm unwirsch den Schuh aus der Hand und zieht ihn an.
»Was sagst du dazu: Ich habe dir geholfen, deinen Schuh zu finden, und du hilfst mir, die Lombard Street zu finden – oder das, was mal die Lombard Street war.«
Jetzt hat sie richtig Angst. Allmählich sickert die Tatsache ein, dass er ein Reiner ist und dass es gefährlich ist, in seiner Nähe zu sein. Die Neuigkeit, dass er hier ist, wird sich weiterverbreiten, und es gibt keine Möglichkeit, dies zu verhindern. Wenn die Leute erst herausfinden, dass es wahr ist, dann wird die Jagd auf ihn eröffnet, ob er sich als Zielscheibe hinstellt oder nicht. Manche werden ihn als Opfer für ihre Wut benutzen wollen. Er repräsentiert die Bewohner des Kapitols, die Reichen und Glücklichen, die die anderen zum Leiden und zum Sterben zurückgelassen haben. Andere werden ihn fangen und irgendwie Lösegeld für ihn erpressen wollen. Und die OSR wird ihn wegen seiner Geheimnisse haben wollen oder um ihn als Köder zu benutzen.
Auch sie hat ihre Gründe, oder etwa nicht? Wenn es einen Weg nach draußen gibt, dann gibt es auch einen Weg nach drinnen, nicht wahr? Das hat die alte Frau gesagt, und vielleicht ist es die Wahrheit. Sie weiß, dass der Reine nützlich sein könnte. Vielleicht kann sie ihn benutzen, um sich einen Vorteil bei der OSR zu verschaffen? Vielleicht könnte sie erreichen, dass sie sich nicht mehr stellen muss? Und wenn sie schon dabei ist, auch noch medizinische Hilfe für ihren Großvater verlangen?
Sie zupft am Ärmel ihres Pullovers. Das Kapitol wird vermutlich Leute schicken, die nach ihm suchen. Was, wenn sie ihn zurückwollen? »Hast du einen Chip?«, fragt sie.
Er reibt sich den Nacken. »Nein«, sagt er. »Ich habe als Kind keinen bekommen. Ich bin so jungfräulich wie am Tag meiner Geburt. Du kannst nachsehen, wenn du willst.« Die Chip-Implantate hinterlassen eine kleine vorstehende Narbe.
Sie schüttelt den Kopf.
»Hast du einen?«
»Er funktioniert nicht mehr. Nur ein toter Chip«, sagt sie. Sie trägt das Haar so lang, dass die Narbe bedeckt ist. »Sie würden hier ohnehin nicht funktionieren. Aber damals haben alle guten Eltern ihren Kindern einen Chip einsetzen lassen.«
»Willst du damit sagen, dass meine Eltern keine guten Eltern waren?«, entgegnet er halb im Scherz.
»Ich weiß nichts über deine Eltern.«
»Tja, ich habe jedenfalls keinen Chip. Das ist es doch, was du wissen wolltest. Wirst du mir nun helfen, oder was?« Er ist jetzt ein bisschen verärgert. Sie weiß nicht genau wieso, aber es freut sie, dass sie ihn reizen kann. Das gibt ihr ein bisschen mehr Macht.
Sie nickt. »Wir müssen die alten Karten benutzen, schätze ich. Ich kenne jemanden, der welche hat. Ich war auf dem Weg zu ihm. Ich kann dich mitnehmen. Vielleicht kann er helfen.«
»Klingt gut«, sagt er. »Wo lang?« Er dreht sich um und will zurück zur Straße.
Sie packt ihn an der Jacke. »Warte! Ich laufe nicht so mit dir rum!«
»Wie denn?«
Sie starrt ihn ungläubig an. »Ohne Tarnung.«
Er steckt die Hände in die Taschen. »Dann ist es also offensichtlich.«
»Natürlich ist es offensichtlich.«
Er schweigt kurz. Sie stehen da. »Was war das für ein Ding, das mich angegriffen hat?«, fragt er schließlich.
»Ein Mehrling. Ein großer obendrein. Jeder hier draußen ist irgendwie verformt, mit irgendwas verschmolzen. Keiner von uns ist noch das, was er mal war.«
»Und du?«
Sie wendet den Blick von ihm ab und spricht weiter, als hätte sie die Frage nicht gehört. »Die Haut der Menschen ist oft übersät mit Sachen. Scharfen Glassplittern zum Beispiel. Oder Plastik, das irgendwann hart wird und jede Bewegung erschwert. Metall, das rostet.«
»Wie der Blechmann«, sagt der Reine.
»Wer?«
»Der Blechmann. Eine Figur aus einem Buch und diesem alten Film«, sagt er.
»So was haben wir hier nicht mehr. Es ist nicht viel übrig.«
»Richtig«, sagt er. »Was bedeutet dieses Singen?«
Sie hat es verdrängt, doch er hat recht. In der Ferne sind immer noch die Sprechgesänge vom Kesseltreiben zu hören, herbeigetragen vom Wind. Sie zuckt die Schultern. »Vielleicht singen die Leute bei einer Hochzeit«, sagt sie. Sie ist nicht sicher, warum sie so was sagt. Haben die Leute früher bei Hochzeiten gesungen, vielleicht bei der kirchlichen Hochzeit ihrer Eltern und dem Empfang unter weißen Zelten? Singen sie immer noch oben im Kapitol?
»Du musst vor den Trucks der OSR auf der Hut sein.«
Er lächelt.
»Was ist daran so lustig?«
»Dass es sie wirklich gibt. Wir wussten im Kapitol, dass sie existiert. OSR. Sie hat angefangen als ›Operation Suche und Rettung‹, eine Art Miliz, die die Ordnung aufrechterhalten wollte, und dann wurde sie zu einer Art faschistischem Regime. Die ›Operation‹ … wie nennt sie sich jetzt?«
»›Sakrale Revolution‹«, sagt Pressia tonlos. Sie kann nicht anders, sie hat das Gefühl, auf den Arm genommen zu werden.
»Richtig«, sagt er. »Das ist es.«
»Hältst du das für drollig, oder was? Sie werden dich umbringen. Sie werden dich foltern, dir eine Pistole in den Rachen schieben und dich umbringen. Verstehst du das?«
Er scheint es zu akzeptieren. »Ich schätze, du hasst mich«, sagt er. »Ich könnte es dir jedenfalls nicht verdenken. Historisch betrachtet …«
Pressia schüttelt den Kopf. »Bitte … keine pauschale Entschuldigung, ja? Ich brauche deine Schuldgefühle nicht. Du bist reingekommen – ich nicht. Ende der Geschichte.«
Sie schiebt die Hand in die Tasche und spürt den harten Rand der Glocke. Sie überlegt, ob sie eine etwas freundlichere Bemerkung hinzufügen soll, um seine Schuldgefühle zu mildern, irgendetwas wie: Wir waren schließlich noch Kinder, als es passiert ist. Was hätten wir ändern können? Was hätte irgendjemand ändern können? Doch dann beschließt sie, es nicht zu tun. Seine Schuldgefühle verschaffen ihr ebenfalls einen Vorteil. Abgesehen davon sind seine Schuldgefühle nicht ganz unbegründet, nicht wahr? Wie ist er ins Kapitol gekommen? Welches Vorrecht hatte er? Sie versteht genug von Bradwells Verschwörungstheorien, um zu begreifen, dass hässliche Entscheidungen getroffen worde waren. Warum sollte sie nicht dem Reinen ein bisschen die Schuld geben?
»Du musst die Kapuze aufsetzen und dir den Schal vors Gesicht binden«, sagt sie zu ihm.
»Ich will versuchen, nicht aufzufallen.« Hastig wickelt er sich den Schal um den Hals, bedeckt sein Gesicht und zieht die Kapuze über. »Besser so?«, fragt er.
Eigentlich ist es nicht genug. Etwas in seinen grauen Augen macht ihn anders, etwas, das er womöglich nicht beeinflussen, nicht ändern kann. Wird nicht jeder auf den ersten Blick sehen, dass er ein Reiner ist? Pressia ist sicher, dass sie ihn durchschauen würde. Er strahlt Hoffnung aus, auf eine Weise wie sonst niemand hier, aber es ist auch eine tiefe Traurigkeit in ihm. In mancherlei Hinsicht wirkt er jedoch überhaupt nicht wie ein Reiner. »Es ist nicht nur dein Gesicht«, sagt sie zu ihm.
»Was denn noch?«, will er wissen.
Sie schüttelt den Kopf, lässt das Haar über die Seite ihres Gesichts fallen, um die Narben zu verdecken. »Nichts«, sagt sie. Und dann, ohne nachzudenken, fragt sie: »Warum bist du hergekommen?«
»Mein Zuhause«, sagt er. »Ich versuche, mein Zuhause zu finden.«
Das macht Pressia auf unerklärliche Weise wütend. Sie zieht den Pullover bis unter das Kinn. »Zuhause«, sagt sie. »Hier draußen, außerhalb des Kapitols, in der Lombard Street.«
»Genau.«
Er hat sein Zuhause verlassen. Er ist weggegangen. Er hat nicht verdient, es wiederzufinden. Sie beschließt, das Thema zu wechseln. »Wir müssen durch die Trümmerfelder, uns bleibt keine andere Wahl«, sagt sie zu dem Reinen. Sie versucht seinem Blick auszuweichen. Sie strafft die Socke und zupft am Ärmel ihres Pullovers. »Wir könnten Bestien begegnen oder Dusts, die versuchen, uns zu töten, aber wenigstens sind wir nicht auf den Straßen, wo die anderen herumstreifen, die dich fangen wollen. Außerdem geht es schneller.«
»Mich fangen?«
»Es hat sich schon herumgesprochen, dass du hier bist. Die Gerüchte brodeln nur so. Und wenn die Mehrlinge vorhin nicht allesamt zu benebelt waren, um dein Gesicht zu sehen, nun, dann verbreiten sie noch mehr Gerüchte. Wir müssen uns beeilen, und wir müssen leise und unauffällig sein, um niemanden auf uns aufmerksam zu machen, und wir müssen …«
»Wie heißt du?«, fragt der Reine unvermittelt.
»Wie ich heiße?«
Er streckt die Hand geradewegs vor sich hin, zielt damit auf sie wie mit einer Pistole, den Daumen in die Luft gereckt.
»Was machst du da?«
»Was?« Er rückt die Hand noch ein Stück weiter vor. »Ich versuche mich vorzustellen. Ich werde Partridge genannt.«
»Ich heiße Pressia«, sagt sie und schlägt seine Hand beiseite. »Hör auf, mit deiner Hand auf mich zu zielen, okay?«
Er sieht sie verwirrt an und nimmt die Hand zurück. Steckt sie in eine der Taschen seiner Kapuzenjacke.
»Wenn in der Tasche irgendwas Wertvolles ist, dann solltest du sie besser unter deiner Jacke verstecken.« Pressia setzt sich in Richtung der Trümmerfelder in Bewegung, und er folgt ihr dicht auf den Fersen. »Halte dich von den Rauchfahnen fern. Geh vorsichtig«, weist sie ihn an. »Manche Leute sagen, die Dusts können Erschütterungen spüren. Wenn dich einer packt, schrei nicht. Sag kein Wort, okay? Ich drehe mich immer wieder nach dir um.«
Es ist eine Kunst, die Trümmerfelder zu durchqueren, leichtfüßig und flink, immer schnell das Körpergewicht von einem Fuß auf den anderen verlagernd, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Pressia hat diese Kunst im Laufe der Jahre während ihrer Suchen nach verwertbaren Dingen perfektioniert. Sie weiß, wie sie sich bewegen muss, die Knie locker, die Füße entspannt, um unter keinen Umständen aus dem Tritt zu kommen.
Sie schlägt die Richtung über die Trümmerberge ein und hört ihn dicht hinter sich, während sie nach Augen zwischen den Steinen Ausschau hält. Sie darf sich nicht zu sehr auf die Augen konzentrieren, denn sie muss zugleich einen Weg zwischen den Rauchfahnen hindurch einschlagen, ohne ihnen zu nahe zu kommen, und auf den Reinen hinter sich aufpassen. Und auf Motorengeräusche achten. Sie will nicht auf der anderen Seite herauskommen und im Scheinwerferlicht eines OSR-Trucks stehen.
Sie begreift, dass sie deshalb für den Reinen wertvoll ist. Sie ist seine Führerin, und sie darf ihm nicht zu viel verraten, damit er weiter auf sie angewiesen ist, sie braucht und vielleicht sogar in ihrer Schuld steht. Sie will, dass er das Gefühl hat, ihr was schuldig zu sein.
Während sie auf diese Weise voraneilt – ständig auf der Hut, leichtfüßig, mit Blick zurück auf den Reinen, dessen Kapuze im Wind flattert –, denkt sie zugleich an Bradwell. Was wird er sagen, wenn sie mit einem Reinen vor seiner Tür auftaucht? Wird es ihn beeindrucken? Vermutlich nicht. Er hat nicht so ausgesehen, als wäre er leicht zu beeindrucken. Trotzdem, sein Lebensziel ist es, die wahre Vergangenheit aufzudecken. Hoffentlich hat er die richtigen alten Karten, und hoffentlich weiß er damit in den Trümmern dieser Stadt etwas anzufangen. Was nützen schon Straßennamen in einer Stadt, in der es so gut wie nichts mehr gibt, vor allem kaum Straßen?
Darüber denkt sie nach, als sie hinter sich einen Aufschrei hört. Sie wirbelt herum und sieht, dass der Reine bereits am Boden liegt und mit einem Bein unter die Trümmer gezerrt wurde. »Pressia!«, ruft er.
Ringsum werden die kehligen Rufe von Bestien laut.
»Warum musstest du schreien!«, herrscht sie den Reinen an, und ihr wird klar, dass sie jetzt auch schreit, kann sich aber nicht zusammenreißen. »Ich hab dich gewarnt, nicht zu schreien!« Sie blickt hinaus über die Trümmerfelder. Köpfe zeigen sich bei den Rauchfahnen. Die Bestien wissen, dass ihnen jemand ins Netz gegangen ist. Sie wollen alle ihren Anteil am Festschmaus. Hier draußen gibt es auch noch andere Ausgestoßene – Kreaturen, die so verbrannt oder so verschmolzen oder vernarbt sind, dass man sie nicht mehr identifizieren kann. Sie haben etwas grundlegend Menschliches verloren. Und abgeschnitten von allen anderen, wurden sie bösartig.
Pressia bückt sich. Sie hebt Steine auf und wirft damit nach den Bestien, trifft eine am Kopf, dann eine weitere. Sie ducken sich, dann tauchen sie wieder auf. »Es ist stärker als du!«, ruft sie. »Du kannst dich nicht festhalten! Du musst mit nach unten und dort gegen es kämpfen. Nimm einen Stein in jede Hand und schlag damit zu! Ich gebe dir Rückendeckung!«
Sie hofft, dass er weiß, wie man kämpft, auch wenn sie bezweifelt, dass die Jungen im Kapitol so was lernen. Was gibt es denn schon, wovor sie sich schützen müssten? Und wenn er nicht weiß, wie man kämpft, kann sie ihm nicht helfen – niemand wäre oben, um die Bestien abzuwehren. Sie würden sich in einer großen hungrigen Meute am Loch versammeln und darauf warten, beide zu zerreißen, sobald sie sich oben blicken lassen – falls sie es überhaupt schaffen.
Partridge starrt sie aus vor Angst weit aufgerissenen Augen an.
»Tu es!«, sagt sie.
Er schüttelt den Kopf. »Ich gehe nicht da runter und kämpfe zu seinen eigenen Bedingungen mit diesem Ding!«, sagt er.
»Du hast keine andere Wahl.«
Doch dann krallt sich Partridge an den Steinbrocken fest, zieht sich nach vorn, Zentimeter um Zentimeter. Er erwischt einen losen Stein, und die Kreatur – wahrscheinlich ein Dust – zerrt ihn nach unten, als wäre er von einer unsichtbaren Leiter abgerutscht. Doch seine andere Hand lässt nicht locker, und obwohl der Dust eines seiner Beine hat, tritt der Reine mit dem anderen Stiefel zu, so fest er kann. Während er sich mit der Hand festhält, zieht er das Bein mit brutaler Kraft bis unters Kinn und zerrt den Dust aus seinem Loch. So was hat Pressia noch nie gesehen. Sie wusste nicht, dass es überhaupt möglich ist.
Der Dust ist gedrungen und hat eine fassförmige Brust, mit einem harten Steinpanzer. Das Gesicht ist wie genschnitzt – tiefliegende Augen, ein kleines dunkles Loch als Maul. Er ist etwa so groß wie ein kleiner Bär, und weil er an Dunkelheit und enge Räume gewöhnt ist, scheint er verwirrt hier draußen an der Oberfläche, ein wenig benommen. Dann sieht er Partridge und kriecht erneut auf ihn zu. Pressia wirft Stein um Stein nach den Bestien, damit sie wissen, dass sie und Partridge keine leichte Beute sind, auf die sie sich stürzen können wie die Geier. Sie müssen schon kämpfen. Pressia hat zwei der Bestien voll getroffen – eine mit einem Katzengesicht heult auf und verschwindet. Die andere hat ebenfalls einen Pelz, doch darunter bewegen sich dicke Muskeln. Sie kassiert den Treffer, macht einen Satz und geht in Deckung.
Partridge fummelt an seinem Rucksack und kramt mit seinen merkwürdig schnellen Bewegungen darin herum. Wieso sind seine Hände so unglaublich schnell? Wie ist das möglich? Und wieso ist er gleichzeitig so ungeschickt? Würde er langsamer machen, er würde viel schneller finden, wonach er sucht. Seine Hände tasten umher, und der Dust findet Zeit, sich abzudrücken und zu springen. Er landet mit seinem steinernen Gewicht auf Partridges Brust, und der Reine stolpert rückwärts und landet krachend in den Steinen. Der Dust hat ihm für einen Moment die Luft geraubt, und er ist benommen, außer Atem. Doch Pressia kann sehen, was er aus der Tasche gezogen hat: ein Messer mit hölzernem Griff.
Sie wirft unablässig Steine nach den Bestien, die sie nach und nach immer enger umkreisen. »Such nach etwas Menschlichem an ihm!«, ruft sie. »Du kannst ihn nur erledigen, wenn du den Teil von ihm triffst, der lebendig ist!«
Der Dust hat Partridge unter sich und hebt seinen Steinkopf, um ihn gegen Partridges Schädel zu rammen, doch der Reine stößt ihn mit überraschender Kraft von sich. Der Dust landet hart – Stein auf Stein – auf dem Rücken und enthüllt einen Streifen blasser rosiger Haut auf der Unterseite. Wie ein Käfer zappelt er hilflos auf dem Rücken und wedelt mit den kleinen, steinverkrusteten Armen und Beinen.
Der Reine bewegt sich blitzschnell. Er rammt das Messer in die rosige Haut, und die Klinge bohrt sich zwischen den steinernen Platten tief in den Leib des Dusts. Die Kreatur stößt ein hohles Stöhnen aus, als würde ihre Stimme in der eigenen Steinhülle widerhallen. Dunkles, aschenes Blut ergießt sich aus der Wunde. Der Reine bewegt die Klinge hin und her, als würde er einen Laib Brot schneiden, dann zieht er sie raus und kratzt über die Steine.
Der faulige Gestank des Dust-Blutes weht zu Pressia herüber. Die Bestien ziehen sich mit einem Mal ängstlich in ihre rauchigen Löcher zurück.
Pressia ist atemlos. Partridge starrt den Dust an. Das Messer zittert in seiner Hand, und sein Blick ist leer. Er ist über und über voll mit Staub und Dreck. Aus seiner Nase rinnt ein dünner Blutstrom. Er wischt mit dem Handrücken darüber und starrt auf den roten verschmierten Fleck, den das Blut hinterlässt.
»Partridge …«, flüstert Pressia. Sein Name klingt eigenartig aus ihrem Mund, zu persönlich. Doch dann spricht sie ihn erneut aus. »Partridge, ist alles in Ordnung?«
Er zieht die Kapuze wieder über den Kopf, setzt sich auf die Felsen, während er wartet, bis er wieder zu Atem gekommen ist. Er schlingt den Arm um seine Tasche. »Tut mir leid«, sagt er.
»Was tut dir leid?«
»Dass ich geschrien habe. Du hast mich gewarnt, nicht zu schreien.« Er reibt mit dem Daumen über den Dreck auf der Hand und starrt ihn nachdenklich an. »Der Dreck«, sagt er mit einer Stimme, die plötzlich eigenartig friedlich klingt.
»Ja? Was ist damit?«, fragt sie.
»Er ist dreckig.«