PRESSIA

Sarkophag

Pressia rennt, so schnell sie kann. Vor ihr läuft Bradwell mit raschelnden Flügeln im Rücken. Partridge rennt mit wehendem Mantel neben ihr her. Sie weiß, dass er viel schneller laufen kann, als er es tut – besonderes Training in der Akademie, auch wenn er kein perfektes Exemplar ist –, doch sie nimmt es als gutes Zeichen, dass er bei ihr bleibt. Vielleicht hat er begriffen, wie sehr er sie braucht. Die Sprechgesänge hallen durch die Straßen und Gassen, gelegentlich durchbrochen von einem schrillen Schrei.

»Wieder unter die Erde?«, ruft Pressia Bradwell nach.

»Nein!«, erwidert er. »Sie sind auch in den Tunneln.«

Pressia sieht sich um und erblickt den Anführer des Teams. Sein Oberkörper ist nackt, Arme und Brust besudelt mit Blut über Metall. Die Haut in seinem Gesicht ist höckerig und glänzt. Einer seiner Arme ist verkrüppelt und wie angewachsen vor der Brust, der andere ist furchterregend muskulös. Um die Knöchel trägt er einen Verband, der mit Glasscherben gespickt ist. Kann sein, dass er ein OSR-Soldat ist, den sie auf Patrouille gesehen hat, doch wenn es so ist, erkennt sie ihn nicht.

Er ist der Anführer des Trupps und bildet die Spitze eines Keils. Die anderen fächern hinter ihm in loser Formation aus. Hinter dem Keil läuft ein Einpeitscher, der bestimmt, wann es an der Zeit ist auszuschwärmen und einen sich zuziehenden Kreis um das vorgesehene Opfer zu bilden. Pressia hat einmal gesehen, wie eine Frau mit ihrem Baby bei einem Kesseltreiben angegriffen wurde. Sie hatte sich in einem alten umgestürzten Postkasten versteckt, der vor langer Zeit aufgebrochen und ausgeräumt worden war. Sie hat noch immer das Bild vor Augen, wie sie den Leichnam der Mutter in die Luft geworfen hatten, nachdem sie zu Tode geprügelt worden war, und dass sie das Baby getreten hatten wie einen Ball.

Pressias Fuß verhakt sich am Bordstein, sie stürzt und rutscht über den Beton. Ihre Handfläche brennt, der Puppenkopf schmerzt. Sie sieht Partridges Stiefel und die feuchten Hosensäume vor sich anhalten und kehrtmachen. Sie versucht sich aufzurappeln, doch sie macht den Fehler, sich erneut nach den Jägern umzusehen. Das viele nasse Blut auf den nackten Körpern macht ihr furchtbar Angst. Sie strauchelt.

»Hier lang!«, ruft Bradwell. Er hat nicht gesehen, dass sie hingefallen ist. Er springt über eine niedrige, verwitterte Steinmauer in der Nähe des herabgestürzten Kirchturms.

Die Jäger kommen näher. Der Anführer hat sie fest im Blick.

Und dann wird sie hochgerissen, und in ihrem Gesicht ist plötzlich Wind. Die Socke über ihrer Puppenkopfhand bleibt an irgendwas hängen und ist weg. Sie wird hochgehoben, die Puppenfaust ist ungeschützt, und sie hört Partridge sagen: »Keine Angst. Wir haben es gleich geschafft. Wir sind fast da.«

Sie will nicht, dass der Reine sie rettet. Ausgerechnet. »Nein!«, sagt sie. »Mir geht es gut. Lass mich runter!«

Er antwortet nicht, sondern packt sie fester, und sie weiß, wenn er sie losließe, würden die Jäger über sie herfallen. Trotzdem boxt sie ihn mit der Puppenkopffaust in die Rippen. »Ich meine das ernst! Lass mich runter!« In ihrer von Panik verengten Sicht sieht sie, wie Bradwell ein Stück altes schmiedeeisernes Gitter anhebt, das über einer Öffnung im Boden liegt. In der Öffnung ist eine Treppe nach unten zu sehen. Sie schließt die Augen, als Partridge sie noch fester packt und die Treppe hinunterspringt.

Sobald seine Füße den festen Boden berühren, versetzt sie ihm einen Stoß und er lässt sie runter. Ohne die Socke auf ihrem Puppenkopf fühlt sie sich irgendwie nackt. Sie zieht den Pulloverärmel darüber, so weit es geht, und setzt sich hin. Mit angezogenen Knien hockt sie da, den Puppenkopf in ihrem Schoß versteckt. Es ist so dunkel, dass sie kaum was sehen kann.

»Entschuldige«, sagt Partridge. »Ich musste dich tragen. Ich musste, sonst …«

»Hör auf dich zu entschuldigen!«, fährt sie ihm über den Mund, während sie sich die Rippen reibt, wo er sie so fest gepackt hat. »Du hast mich gerettet. Gib mir nicht das Gefühl, ich müsste dir dafür auch noch verzeihen.« Das ist alles, was sie dazu sagen kann.

Sie sitzen auf dem Boden, Pressia zwischen Bradwell und Partridge, mit dem Rücken an der kalten Wand. Sie kauern in einer Ecke gegenüber den Stufen, und niemand rührt sich. Sie kann nicht glauben, dass Partridge sie einfach so hochgehoben hat. Wann ist sie das letzte Mal von jemandem getragen worden? Sie erinnert sich, dass ihr Vater sie in einen Mantel gewickelt und in den Armen herumgetragen hat. Sie vermisst ihn. Das Gefühl von Wärme und Geborgenheit.

Der Raum ist klein und feucht. Langsam gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit, und sie stellt fest, dass sie nicht wirklich allein sind. An der gegenüberliegenden Wand, in einer Nische, sitzt eine steinerne Gestalt – die Statue eines Mädchens auf einem länglichen, steinernen Kasten, der wie ein Sarg aussieht und hinter einer Wand aus Plexiglas steht, das zwar gesprungen, aber ansonsten intakt geblieben ist. An der Wand klebt eine Plakette, doch sie ist zu weit weg, um sie lesen zu können. Die Statue hat langes, über die Schultern fallendes Haar und trägt ein einfaches langes Kleid. Ihre perfekten, anmutigen Hände liegen gefaltet im Schoß. Sie sieht einsam aus, abgeschnitten von der Welt. In ihren Augen ist etwas zutiefst Sorgenvolles, Trauriges, als hätte sie ebenfalls geliebte Menschen verloren, doch zugleich scheint sie erwartungsvoll den Atem anzuhalten.

Die Sprechgesänge werden lauter, das Stampfen der Stiefel kommt näher. Pressia zieht den Ärmel ihres Pullovers noch weiter über den Puppenkopf. Partridge sieht es. Vielleicht will er fragen, warum sie das macht, doch jetzt ist nicht die Zeit dafür. Die Jäger sind jetzt genau über ihnen. Die Stiefel sind so laut und überall zugleich, dass kleine Bröckchen von der Decke rieseln.

Hier kommen Leute zum Beten hin. Bradwell hatte recht. Auf dem Rand der Nische und vor dem Plexiglas bemerkt Pressia die erstarrten Wachspfützen alter Kerzen, Tropfen, die an der Wand heruntergeflossen sind und sich auf dem Steinboden gesammelt haben. Pressias Blick gleitet erneut zu der Statue der jungen Frau. Das Mädchen sitzt auf seinem eigenen Sarg, der sie an ihren Schrank erinnert, in dem sie schläft oder zumindest geschlafen hat. Ob sie ihren Großvater und den Friseurladen jemals wiedersehen wird? Wartet er immer noch auf ihre Rückkehr, den Ziegelstein auf dem Schoß?

Die Schritte schwellen zu einem lauten Donnern an. Die Decke erzittert. Gips, lockere Steinchen, Putzbrocken fallen zu Boden. Plötzlich hat Pressia Angst, die Decke könnte einstürzen. Alle drei heben schützend die Arme über die Köpfe. Partridge hat das Foto seiner Mutter in die Plastikhülle zurückgelegt. Sie liegt auf seinem Rucksack, den er auf dem Schoß hält.

»Wir werden lebendig begraben!«, ruft Pressia.

»Wäre eine ziemliche Ironie«, entgegnet Bradwell. »Lebendig begraben in einer Krypta?«

»Nicht lustig«, sagt sie.

»Sollte auch nicht lustig sein«, antwortet er.

»Ich würde lieber nicht sterben«, sagt Partridge. »Nicht jetzt, wo ich weiß, dass meine Mutter überlebt hat …«

Pressia hebt überrascht den Blick und starrt ihn durch den Schauer von herabregnendem Dreck an. Glaubt er das wirklich? Wie kann er so sicher sein? Die alte Frau hat doch nur gesagt, dass irgendjemand seiner Mutter das Herz gebrochen hätte. Pressia kann mit den Worten nichts anfangen. Für einen Moment hält sie die Luft an, wünscht sich, die stampfenden Schritte würden aufhören, doch das tun sie nicht. Sie umfasst ihre Knie und kneift die Augen zu.

Plötzlich werden draußen Jubelrufe laut. Kampfrufe, Siegesgeheul.

»Sie haben wen erwischt«, sagt Pressia.

»Gut«, sagt Bradwell. »Das wird sie beschäftigen. Sie ziehen weiter und bringen die Leiche zum Feld.«

»Gut?«, fragt Partridge. »Wie kann so was gut sein?«

»Gut bedeutet nicht das, was du meinst«, erwidert Bradwell.

Die Sprechgesänge entfernen sich, werden bald leiser.

Pressia starrt auf den steinernen Sarg. »Liegt da etwa ein Toter drin?«, fragt sie.

»Das ist ein Sarkophag«, sagt Bradwell.

»Ein was?«, fragt Partridge.

»Ein Sarkophag«, wiederholt Bradwell. »Mit anderen Worten: Ja. Es liegt jemand drin, oder zumindest Teile von jemandem.«

»Wir sind in einem Grab, oder?«, fragt Partridge.

Bradwell nickt. »In einer Krypta.«

Partridge hält noch immer das Foto in der Plastikhülle fest.

Pressia streckt die Hand danach aus. »Darf ich es sehen?«

Er reicht es ihr.

»Was denn?«, entrüstet sich Bradwell. »Ich darf es nicht sehen, aber sie darf?«

Partridge grinst und zuckt die Schultern. Das Bild zeigt einen kleinen Jungen von vielleicht acht Jahren – Partridge – an einem Strand. In der einen Hand hält er einen Eimer, die andere hält die Hand seiner Mutter. Es ist windig, und das Meer um ihre Knöchel ist schaumig. Die Mutter ist wunderschön – leicht sommersprossig mit einem hinreißenden Lächeln. Die alte Frau hat recht – er sieht ihr tatsächlich ähnlich, denkt Pressia. Das gleiche strahlende Gesicht. Mütter, denkt sie. Sie werden mir immer fremd bleiben – ein Land, das ich niemals sehen werde. »Wie heißt sie?«

»Aribelle Willux. Geborene Cording.«

Sie will Partridge die Hülle mit dem Bild zurückgeben, doch er schüttelt den Kopf. »Bradwell kann es sich auch ansehen.«

»Ich?«, fragt Bradwell. »Ich dachte, ich wäre nicht gut genug?«

»Vielleicht siehst du was auf dem Bild, das ich nicht sehe.«

»Zum Beispiel?«

»Irgendeinen Hinweis«, sagt Partridge.

Pressia gibt Bradwell das Foto, und er betrachtet es eingehend.

»Ich erinnere mich an diese Reise«, beginnt Partridge zu erzählen. »Wir waren allein, meine Mutter und ich. Meine Großmutter hatte ihr ein Haus am Meer vererbt. Es war ziemlich kalt, und wir wurden beide krank. Eine Magen-Darm-Grippe. Sie machte Tee für uns beide, und ich spuckte in einen Eimer neben dem Bett.« Er kramt in seinem Rucksack und zieht den Beutel mit den Habseligkeiten seiner Mutter hervor. »Hier«, sagt er. »Vielleicht findet ihr irgendwas, wenn ihr euch diese Sachen anseht. Ich weiß nicht … vielleicht, wenn ihr die Geburtstagskarte lest. Außerdem ist da eine Spieluhr und eine Halskette.«

Bradwell gibt Partridge das Foto zurück, nimmt den Beutel und späht hinein. Er zieht die Spieluhr hervor, klappt sie auf, und eine leise Melodie erklingt. »Das Lied kenne ich nicht«, sagt er.

»Es ist seltsam, ich weiß, aber ich glaube, sie hat die Melodie selbst geschrieben«, sagt Partridge. »Andererseits – wie kommt sie an eine Spieluhr, die ein Lied abspielt, das sie geschrieben hat?«

»Die Schachtel sieht aus wie selbst gemacht«, sagt Pressia. Die Schachtel ist in der Tat sehr einfach und schmucklos. Sie streckt die Hand danach aus. »Lass mal sehen, ja?«

Bradwell reicht ihr die Schachtel. Sie sieht ins Innere und bemerkt die dünnen Metallstifte, die über die kleinen Noppen der Walze streichen. »So was könnte ich auch bauen, wenn ich die richtigen Werkzeuge hätte.« Sie schließt die Spieluhr, öffnet sie, schließt sie wieder, prüft den Stoppmechanismus.

Bradwell nimmt die goldene Halskette und lässt sie über die Finger gleiten. Der Schwan dreht sich. Er scheint aus massivem Gold zu sein. Er hat einen langen Hals und ein übergroßes Auge aus einem Edelstein. Es ist ein hellblauer Stein von der Größe einer Murmel, der von beiden Seiten zu sehen ist. Er ist vollkommen, nicht ein Kratzer, keine Schramme, nichts – er ist rein. Pressia kann den Blick nicht abwenden. Noch nie hat sie irgendetwas gesehen, das die Bombenangriffe unbeschadet überstanden hat – abgesehen von Partridge. Das blaue Auge des Schwans ist hypnotisch.

Schließlich lässt Bradwell die Kette in den Beutel zurückgleiten. Er sieht Pressia an. Sein Gesichtsausdruck wird für einen kurzen Moment weich, als wollte er ihr etwas sagen. Dann versteift er sich wieder. »Ich habe euch zur Lombard Street gebracht. Das ist alles, was ich versprochen habe.« Er steht auf, geduckt, weil die Decke zu niedrig ist. »Die Leute meinen, es ist erstaunlich, dass ich seit meinem neunten Lebensjahr alleine überlebt habe. Die Sache ist die – ich habe überlebt, weil ich alleine war. Wenn man erst anfängt, sich mit anderen Leuten einzulassen, ziehen sie dich runter. Ihr beide müsst euch von jetzt an alleine durchschlagen.«

»Nette Einstellung«, sagt Pressia. »Wirklich großherzig und milde.«

»Wenn du schlau bist, suchst du auch das Weite«, empfiehlt er ihr. »Großherzigkeit und Milde können dich umbringen.«

»Hört mal«, sagt Partridge. »Ich komme zurecht, okay? Ich brauche niemanden, der mir die Hand hält.«

Pressia weiß, dass er allein keine Chance hat. Er muss es auch wissen. Aber was jetzt? Die Luft in dem kleinen Raum verändert sich. Ein bisschen sonnenbeschienene Asche schwebt von oben herab. Sie streift das Gitter oben und sickert in die Krypta. Es ist Morgen, und jetzt ist es auch hell genug, um den Namen auf der Plakette zu erkennen, wenigstens einen Teil: HEILIGE WI…, der Rest ist unleserlich. Die Plakette ist beschädigt, die Buchstaben verschwunden. Unter dem Namen kann sie ein paar weitere Worte entziffern: Geboren in … Ihr Vater war … Schutzheilige … Äbtin … kleine Kinder … drei Wunder … Tuberkulose … Das ist alles.

Sie bemerkt eine kleine getrocknete Blume auf der wachsüberzogenen Kante. Eine Opfergabe? »Ich schätze, wir sind in einer Sackgasse gelandet«, sagt sie.

»Nicht unbedingt. Meine Mutter hat die Bomben überlebt«, sagt Partridge. »So viel weiß ich jetzt.«

»Woher weißt du das?«, will Pressia wissen.

»Die alte Frau hat es gesagt. Du warst dabei«, antwortet Partridge.

»Ich dachte, sie hätte gesagt, dass er ihr das Herz gebrochen hat? Und das bedeutet meiner Meinung nach nicht, dass sie überlebt hat.«

»Er hat ihr das Herz gebrochen, kein Zweifel. Er hat sie hier zurückgelassen. Wäre sie bei den Explosionen gestorben, hätte sie keine Zeit mehr gehabt für ein gebrochenes Herz. Aber sie hatte eins. Er hat ihr das Herz gebrochen, und diese Frau wusste Bescheid. Sie wusste, dass meine Mutter zurückgelassen worden war und dass mein Vater mich und meinen Bruder mitgenommen hatte. Das ist es, was sie damit meinte, er hätte ihr das Herz gebrochen. Sie mag eine Heilige gewesen sein, doch sie starb nicht als Heilige.« Partridge schiebt das Foto zurück in den Umschlag, steckt ihn in den Beutel und packt alles zurück in seinen Rucksack.

»Selbst wenn sie die Bomben überstanden hat, was immer noch ziemlich unwahrscheinlich ist, hat sie möglicherweise nicht das überlebt, was danach kam«, gibt Bradwell zu bedenken. »Nicht viele haben das überlebt.«

»Hört zu, ihr haltet mich vielleicht für dumm, aber ich denke, sie lebt noch«, beharrt Partridge.

»Dein Vater hat dich und deinen Bruder gerettet, aber nicht deine Mutter?«, fragt Bradwell.

Partridge nickt. »Er hat ihr das Herz gebrochen – und mir.« Das Geständnis hängt für einen winzigen Augenblick im Raum, bevor Partridge es abschüttelt. »Ich will zurück zu der alten Frau. Sie weiß mehr, als sie mir verraten hat.«

»Es ist inzwischen hell«, warnt Pressia. »Wir müssen vorsichtig sein. Lass mich zuerst einen Blick nach draußen werfen.«

»Ich gehe«, sagt Partridge.

»Nein«, entscheidet Bradwell. »Ich gehe. Ich gehe nachsehen, was die Jäger angerichtet haben.«

»Ich habe gesagt, ich gehe«, beharrt Pressia. Sie steht auf und streift sich Staub und Schutt von Kopf und Schultern. Sie will sich nützlich machen, sichergehen, dass Partridge ihren Wert begreift. Sie hat noch längst nicht aufgegeben.

»Nein. Es ist zu gefährlich!«, sagt Partridge, streckt die Hand aus und packt sie. Er erwischt sie am Handgelenk, zieht den Ärmel des Pullovers hoch, legt den Hinterkopf der Puppe frei. Er ist überrascht, doch er lässt nicht los. Stattdessen sieht er ihr in die Augen.

Sie dreht den Arm und zeigt ihm das Puppengesicht, das ihre Handfläche ersetzt.

»Das ist von den Explosionen«, sagt sie. »Du wolltest es wissen. Jetzt weißt du es.«

»Okay«, sagt Partridge.

»Wir tragen unsere Narben mit Stolz«, sagt Bradwell. »Wir sind Überlebende.«

Pressia weiß, dass Bradwell wünscht, es wäre wahr – doch das ist es nicht, jedenfalls nicht für sie.

»Ich gehe jetzt nach oben und sehe mich um«, sagt sie. »Keine Sorge, ich komme wieder.«

Partridge nickt und lässt sie gehen. Sie steigt die Stufen hinauf ins Licht und hält sich in der Deckung der eingestürzten Überreste der einstigen Kirche. Sie duckt sich hinter eine Mauer und späht hinaus auf die Straße. Vor dem Haus der alten Frau stehen ein paar Leute und reden leise miteinander. Die Plane vor dem Fenster ist verschwunden. Die Schalholzplatte vor der Tür ebenfalls. Die Leute gehen wieder.

Und dort auf dem Boden ist eine Blutlache, in der Glasscherben glitzern.

Pressias Augen brennen, doch sie weint nicht. Die Alte hätte nicht so laut und irre singen sollen, ist stattdessen ihr nächster Gedanke. Sie hätte damit aufhören sollen. Sie hätte es besser wissen müssen. Pressia spürt, wie ihr Mitleid in Verachtung umschlägt. Sie hasst es, wenn das geschieht. Sie weiß, dass es falsch ist, aber sie kann nichts dagegen tun. Der Tod dieser Frau muss ihr eine Lektion sein. Das ist alles.

Sie wendet sich ab.

Und plötzlich ist eine kalte Manschette um ihren Arm. Ein Grunzen, ein scharfes Luftholen. Sie wird gepackt und hochgehoben, und dann rennt jemand mit ihr los.

Zuerst denkt sie, es ist schon wieder Partridge oder vielleicht einer der Jäger vom Kesseltreiben. Aber nein. Sie hört einen Motor. Die OSR. Sie greift nach dem Messer, das Bradwell ihr gegeben hat. Legt die Hand um den Griff, zieht es aus dem Gürtel, doch eine Hand mit einem dunklen Metallfinger packt ihr Handgelenk mit solcher Macht, dass sie den Griff loslässt. Das Messer fällt klappernd zu Boden.

Die Hand mit dem Metallfinger legt sich auf ihren Mund. Sie versucht zu schreien, zu spät. Wie der Junge mit den Zehenstummeln in dem Raum über der geheimen Versammlung beißt sie in das fleischige Zentrum der Hand, wo die Haut weich ist. Sie hört einen Fluch und spürt, wie sich der Brustkorb ihres Häschers zusammenzieht, doch der Griff um ihren Körper wird nur noch fester. Ihre Zähne sind durch das Fleisch gegangen. Sie schmeckt Salz und Blut. Sie biegt den Rücken durch, tritt nach dem Häscher, versucht ihn mit der Puppenkopffaust zu treffen. Wissen Partridge und Bradwell, dass sie entführt wird? Werden sie sie suchen?

Sie versucht zu spucken. Sie spürt Wind im Haar. Sie hört den Motor. Sie blickt auf und sieht die Pritsche des Trucks. Sie sind gekommen, um sie zu holen. Sie weiß, dass sie verloren hat.