PARTRIDGE
Kuss
Als Partridge auf den Füßßen steht, sieht er das Blutbad ringsum. El Capitán und Helmud sehen ziemlich mitgenommen aus. Bradwells Hemd ist zerrissen, und er blutet aus einer neuen Wunde an der anderen Schulter. Er liegt auf den Knien, hat den Kopf auf der Brust und atmet schwer. Betet er etwa? Seine Hände sind verschränkt. Lydas weißer Overall ist blutbesudelt und verdreckt. Sie ist außer Atem und wie betäubt. Sie starrt Partridge aus ihren klaren blauen Augen an und dann das, was er sieht.
Ringsum liegen die Leichen der Soldaten. Einer hat eine zerfetzte Brust. Ein zweiter hat den Unterleib aufgeschlitzt und blutige Stummel statt der Hände. Der dritte hat ein kleines Loch im Hinterkopf, doch als Partridge um ihn herumgeht, sieht er, dass das Gesicht verschwunden ist.
»Was ist hier los?«, fragt er. Übelkeit steigt in ihm auf, und seine Knie sind weich. »Was ist das?«
Dann sieht er seinen Bruder, halb versteckt im Unterholz. Er rennt zu ihm, fällt auf die Knie. »Sedge …«, sagt er. Sein rechtes Bein ist von Kugeln durchsiebt. Er liegt in einer Blutlache. Partridges Knie saugen sich damit voll.
»Mein Gott«, sagt Partridge. »Nein. Nein! Nein!« Sedges Brust hebt und senkt sich unregelmäßig. Partridge beugt sich zu ihm hinunter, bringt das Gesicht nah an seinen übergroßen Schädel und den schweren Kiefer. »Alles wird gut«, flüstert er Sedge zu. »Mom ist hier. Sie kommt gleich raus. Du wirst sie sehen.«
Pressia ist bereits aus dem Fenster geklettert. Sie sieht die Toten ringsum. »O mein Gott!«, sagt sie. »O mein Gott, nein!«
Bradwell rappelt sich hoch und torkelt zu ihr. »Pressia!«, sagt er erleichtert, doch sie ist offensichtlich zutiefst erschüttert, außerstande zu antworten.
»Hilf mir mal!«, ruft El Capitán Bradwell zu.
Gemeinsam heben sie Aribelle Willux aus dem Fenster, den dürren Leib und die nutzlosen Gliedmaßen. Caruso drückt von unten, doch er folgt ihr nicht nach draußen.
Partridge legt seinem Bruder die Hand auf die Brust. Das Blut ist nass und warm.
Sedge sieht Partridge an und lächelt. »Partridge«, sagt er. »Du bist der Auserwählte.«
»Nein«, widerspricht Partridge. »Du bist es. Du warst es von Anfang an.«
Er ruft nach Pressia. »Ist sie schon da?« Er dreht sich um und sieht, dass Bradwell seine Mutter in den Armen hält. Er trägt sie zu Partridge, setzt sie neben ihren beiden Söhnen ab. Sie ist außer sich.
»Baby, was ist mit dir?« Ihre Stimme ist abgehackt und scharf. »Sedge. Sieh mich an. Sedge.«
»Sieh nur, Sedge«, flüsterte Partridge. »Sie ist es. Sie ist da. Sie ist wirklich gekommen.«
Sedge schließt die Augen. »Nein«, flüstert er. »Die Geschichte, die du mir erzählt hast. Der Schwan …«
»Sie ist wirklich«, sagt Partridge. »Sie ist hier.«
Seine Mutter nimmt eine Flasche mit Pillen in ihre Metallzange und schiebt sie Partridge hin. »Hier. Sag deinem Vater, er kann haben, was immer er will. Er kann die Pillen haben. Er kann mich haben. Aber nicht das. Nicht meinen Sohn.« Ihre tränennassen Augen hetzen über Sedges Körper.
Partridge nimmt die Pillen und fällt beinahe hintenüber. Sein Bruder Sedge wird sterben, und er, Partridge, wird dabei zusehen. Es gibt nichts, was er dagegen tun kann.
»Sedge!«, ruft seine Mutter. Sedges Augen finden sie und halten sie fest. Es ist, als würde er sie wirklich sehen, als würde er sie wiedererkennen. »Sedge, mein Baby«, sagt seine Mutter. Für einen Moment, einen kurzen Moment glaubt Partridge, dass sie ihn vielleicht retten kann. In ihrer Stimme schwingt Hoffnung.
Sedge lächelt, dann schließt er die Augen.
Partridge beobachtet, wie sich seine Mutter über Sedge beugt. Sie will ihm einen Kuss auf die Stirn geben, wie früher, vor dem Schlafengehen.
Und dann explodiert Sedges Kopf.
Die Splitter zerfetzen das Gesicht seiner Mutter.
Ein feiner Nebel aus Blut erfüllt die Luft.
Partridge ist taub. Er sieht nichts mehr außer blutigem Nebel. Er streckt die Hand nach seiner Mutter aus, rutscht aus, fällt. Steht wieder auf. Dreht sich langsam im Kreis. Seine Mutter und Sedge sind tot.
Pressia schreit. Er kann ihren aufgerissenen Mund sehen, die vor Entsetzen geweiteten Augen, die Puppenkopffaust an die Brust gedrückt. Bradwell hält sie fest.
Partridge hört überhaupt nichts.
Lyda ist an seiner Seite. Sie hält ihn am Arm. Ihre Lippen bewegen sich.
El Capitán packt ihn an den Schultern. Partridge ballt die Faust und schlägt nach ihm. El Capitán weicht aus, und Partridge verliert erneut das Gleichgewicht und hält sich an einem großen Felsbrocken fest. Lyda sagt seinen Namen – er kann es von ihren Lippen ablesen. Partridge … Partridge … Er richtet sich auf. Er brüllt ihren Namen. »Lyda!« Er hört seine eigene Stimme nicht.
Jetzt redet auch El Capitán auf ihn ein. Er brüllt geradezu. Partridge sieht, wie die Adern an seinem Hals hervortreten. Helmud schließt die Augen, murmelt die Worte seines Bruders nach.
Dann sieht er wieder zu Pressia. Sieht ihr in die Augen. Pressia ist verwanzt – Augen und Ohren. Das Kapitol sieht zu – sein Vater ist dort. Partridge marschiert geradewegs auf Pressia zu, die immer noch schreit. Er packt sie an den Oberarmen.
Sie schließt die Augen.
»Mach die Augen auf!«, befiehlt er, und der Lärm seiner eigenen Stimme überflutet sein Gehör. »Mach deine gottverdammten Augen auf!«
Pressia sieht Partridge an, und Partridge starrt an seiner Schwester vorbei, durch die Linsen ihrer Augen in die Augen seines Vaters im Kapitol. »Ich weiß, dass du dadrin bist! Ich werde dich finden, und für das hier werde ich dich umbringen! Ich werde dich umbringen!«
Er starrt hinauf in den Himmel. Er fängt an zu zittern. Lässt Pressias Arme los. Als er sie wieder ansieht, ist es das Gesicht seiner Schwester. Sie starrt ihn an, die Wangen verschmiert von Schmutz und Tränen. Es ist seine Schwester.
Der blutige Nebel ist verschwunden.