PRESSIA
Geschenke
Am Morgen ihres sechzehnten Geburtstags wacht Pressia im Schrank aus einem unruhigen Schlaf auf. Sie hört Bradwells Stimme, der sie fragt, ob sie schon sechzehn ist. Und jetzt ist es tatsächlich passiert. Sie erinnert sich deutlich an ihren Namen auf der Liste und die Schrift, als sie mit dem Finger darübergefahren ist.
Sie könnte den ganzen Tag im dunklen Schrank bleiben. Sie könnte die Augen schließen und so tun, als wäre sie eine Ascheflocke, die hoch hinauf in den Himmel geschwebt ist und nun auf dieses Mädchen herabblickt, das sich im Schrank versteckt hat. Sie versucht sich das vorzustellen, doch dann lenkt sie der abgehackte Husten ihres Großvaters ab, und sie kehrt in ihren eigenen Körper zurück, spürt das Holz des Schranks im Rücken, an den beengten Schultern, die Puppenkopffaust unter dem Kinn.
Es ist ihr Geburtstag. Es gibt kein Vertun.
Sie klettert aus dem Schrank.
Ihr Großvater sitzt bereits am Tisch. »Guten Morgen.«
Vor ihm liegen zwei Päckchen. Das eine ist ein einfaches Blatt Papier auf einem kleinen Hügel, obendrauf eine Blume. Das andere ist etwas Zusammengerolltes, eingewickelt in Stoff, zusammengebunden mit Schnüren, die zu einer Schleife geknotet sind.
Pressia geht an den Geschenken vorbei zu Freedles Käfig. Sie schiebt die Finger zwischen den Stäben hindurch. Die Zikade flattert mit ihren Metallflügeln, die gegen die Stäbe ticken. »Du hättest mir keine Geschenke holen sollen.«
»Aber natürlich hätte ich«, widerspricht ihr Großvater.
Sie will keinen Geburtstag und keine Geschenke. »Ich brauche nichts«, sagt sie.
»Pressia«, flüstert er. »Wir sollten feiern, was wir feiern können.«
»Nicht diesen«, sagt sie. »Nicht diesen Geburtstag.«
»Das Geschenk ist von mir«, sagt er und deutet auf den Hügel mit der Blume. »Das andere habe ich heute Morgen neben der Tür gefunden.«
»Neben der Tür?« Wer wissen will, wann sie Geburtstag hat, muss nur auf die Liste sehen, die überall in der Stadt angeschlagen ist. Trotzdem. Pressia hat nicht viele Freunde. Wenn Überlebende sechzehn werden, zerbrechen alle Freundschaften und Verbindungen. Jeder weiß, dass er bald alleine klarkommen muss. In den Wochen, bevor Gorse und Fandra verschwunden sind, war Fandra Pressia gegenüber abweisend. Sie brach die Verbindung ab, bevor sie Abschied nehmen musste. Pressia hat es damals nicht verstanden, jetzt schon.
Ihr Großvater wendet das andere Geschenk, und auf dem Stoff kommt Schrift zum Vorschein.
Pressia geht zum Tisch und nimmt ihm gegenüber Platz. Sie liest die Zeilen. Für dich, Pressia. Bradwell.
»Bradwell?«, fragt ihr Großvater. »Ich kenne ihn. Ich habe ihn genäht. Woher weiß er, wer du bist?«
»Weiß er nicht«, sagt sie und fragt sich: Warum schenkt er mir was? Er denkt, ich bin nur eine von der Sorte – von denen, die alles wieder haben wollen wie früher, im Davor, die sogar das Kapitol mögen und alles, wofür es steht. Abgesehen davon, was ist so falsch daran? Ist es nicht das, was sich jeder normale Mensch wünschen würde? Sie spürt, wie sich eine eigenartige, wütende Hitze in ihr ausbreitet. Sie stellt sich Bradwells Gesicht vor, die beiden Narben, die Verbrennung, die Art und Weise, wie seine Augen feucht werden und er blinzelt, um im nächsten Moment wieder hart auszusehen.
Sie ignoriert sein Geschenk und zieht stattdessen das ihres Großvaters zu sich herüber.
»Ich wünschte, es wäre etwas Schönes«, seufzt ihr Großvater. »Ich wünschte, ich könnte dir etwas Schönes schenken, du hättest es verdient.«
»Keine Sorge, es ist okay«, sagt sie.
»Dann los, mach es auf.«
Sie beugt sich vor, zupft am Papier und hebt es dann schwungvoll zur Seite. Sie liebt Geschenke, auch wenn sie es nicht gerne zugibt.
Es ist ein Paar Schuhe, dickes Leder über glattem Holz.
»Clogs«, sagt ihr Großvater. »Die Holländer haben sie erfunden, genau wie die Windmühlen.«
»Ich dachte immer, Mühlen wären für Korn oder für Papier«, sagt sie. »Aber für Wind?«
»Die Mühlen wurden vom Wind angetrieben. Sie sahen aus wie Leuchttürme«, erklärt er. Was Leuchttürme sind, hat er ihr schon mal erzählt. Er ist am Meer aufgewachsen. »Anstatt eines Lichts oben an der Spitze hatten Windmühlen riesige Propeller. Sie haben sich im Wind gedreht und die Mühlen angetrieben. Probier sie an.«
Sie stellt die Clogs auf den Boden und schiebt die Füße in den Hohlraum zwischen Leder und Holz. Das Leder ist noch steif, und als sie sich hinstellt, bemerkt sie, dass die dicke Holzsohle sie größer macht. Sie will nicht größer sein. Sie will klein sein, klein und jung. Ihr Großvater ersetzt ihre alten Schuhe mit neuen, die aussehen, als würden sie niemals kaputtgehen.
Glaubt er, dass sie bald kommen, um Pressia zu holen? Glaubt er, dass sie in diesen Schuhen weglaufen wird? Wohin? In die Trümmerfelder vielleicht? Oder die Meltlands? Die Deadlands? Was liegt dahinter? Es gibt Gerüchte über alte Waggons, Schienen, Tunnel, große, luftige Fabriken, Freizeitparks – es gab nicht nur Disney World – Zoos, Museen und Stadien. Brücken gab es früher auch mal – eine davon führte über einen Fluss, der sich angeblich westlich von hier befindet. Ist das alles weg?
»Als du zwei Jahre alt warst, hattest du ein Pony auf deiner Geburtstagsfeier«, sagt ihr Großvater.
»Ein Pony?«, fragt sie und klumpt in den schweren Holzschuhen herum. Sie fühlt sich, als hätte sie Hufe. Sie trägt eine Wollhose, Socken und einen Pullover. Die Wolle für ihre Kleidung stammt von Schafen, die draußen vor der Stadt gehalten werden, wo es Stellen mit hartem, magerem Gras und ein paar Baumreihen gibt, die an OSR-Land grenzen. Dort jagen einige Überlebende neue Tierarten, geflügelte Viecher und pelzige Bestien, die den Boden nach Knollen und Wurzeln durchwühlen oder sich gegenseitig fressen. Manche Schafe sind kaum als solche zu erkennen, doch obwohl deformiert, mit verdrehten, spitzen Hörnern, die sie beim Grasen behindern, ist ihre Wolle immer noch brauchbar. Einige der Überlebenden haben sich damit eine Existenz aufgebaut. »Warum denn ein Pony? Wo sollten sie denn ein Pony unterbringen?«
»Es ist im Garten im Kreis gelaufen. Jeder durfte darauf reiten.« Es ist das erste Mal, dass sie von einem Pony hört. Ihr Großvater hat ihr viele Geschichten über Geburtstage erzählt. Eiscreme, Kuchen, Piñatas, Wasserbomben. Woher hat er das nun schon wieder?
»Meine Eltern haben ein Pony gemietet, das in unserem Garten im Kreis herumgelaufen ist?« Ihre Eltern sind Fremde für sie. Der kleinste Hinweis auf sie verursacht einen unersättlichen Hunger.
Großvater nickt. Er sieht plötzlich müde aus und sehr alt. »Manchmal bin ich froh, dass sie das alles nicht erleben mussten.«
Pressia sagt nichts, aber seine Worte brennen tief in ihr. Sie will ihre Eltern bei sich haben, hier und jetzt. Sie versucht bestimmte Augenblicke aus ihrem Leben in ihrem Kopf zu speichern, damit sie ihnen eines Tages alles erzählen kann, nur für den Fall. Und obwohl sie weiß, dass ihre Eltern tot sind, kann sie damit nicht aufhören. Selbst jetzt denkt sie, dass sie ihnen von ihrem Geburtstag erzählen wird, Windmühlen und Clogs und alles. Und falls sie sie jemals wiedersieht – und obwohl sie weiß, dass es nicht der Fall sein wird –, wird sie ihnen Fragen stellen. Sie würden ihr Geschichten erzählen, und Pressia würde sie nach dem Pony fragen. Sie wünscht sich, dass ihre Eltern irgendwie über sie wachen, all das sehen, so wie in manchen Religionen, die an den Himmel und die ewig lebende Seele glauben. Manchmal kann sie fast spüren, wie ihre Eltern sie beobachten – auch wenn sie nicht sicher ist, ob Mutter oder Vater. Sie kann zwar mit niemandem darüber reden, aber es ist ein Trost.
»Und das andere Geschenk? Von Bradwell?« Ihr Großvater klingt teils misstrauisch, teils spöttisch, ein Tonfall, den sie noch nie bei ihm gehört hat.
»Wahrscheinlich irgendwas Dummes. Oder Gemeines. Er kann ganz schön gemein sein.«
»Willst du es nicht aufmachen?«
Ein Teil von ihr will es tatsächlich nicht, doch das würde das Geschenk nur wichtiger scheinen lassen, als es ist. Um es schnell hinter sich zu bringen, zieht sie die Schleife auf, die Schnur löst sich und fällt auf den Tisch. Sie bringt die Schnur zu Freedles Käfig und schiebt sie zwischen den Stäben hindurch. Freedle mag kleine Sachen, mit denen er spielen kann – oder zumindest mochte er sie, als er noch jünger war. »Hier, für dich«, sagt Pressia.
Freedles Augen richten sich auf die Schnur. Er flattert mit den Flügeln.
Pressia geht zum Tisch zurück, setzt sich und entrollt den Stoff.
Es ist ein Zeitungsausschnitt – der Ausschnitt, den sie in Bradwells Truhe gefunden und der ihr so sehr gefallen hat, der mit den Leuten mit den gefärbten Brillen im Kino, die aus kleinen Pappbechern aßen – das Foto, das ihre Hände auf unerklärliche Weise zum Zittern brachte. Das Foto, das sie betrachtet hat, als Bradwell zu ihr sagte, dass er solche wie sie kenne. Das Herz pocht schmerzhaft in ihrer Brust, sie atmet schwer. Ist es ein grausames Geschenk? Macht er sich über sie lustig?
Pressia muss sich beruhigen. Es ist nur Papier, sagt sie sich.
Doch es ist mehr als nur Papier. Es hat schon damals existiert, als Pressia noch einen Vater und eine Mutter hatte und als sie im Garten auf einem Pony im Kreis geritten ist. Sie berührt die Wange von jemandem, der im Kino laut auflacht. Bradwell hat anscheinend doch recht gehabt. Sie ist eine von der Sorte. Ist das der Grund, warum er sie beschenkt hat? Gut, dann ist es so. Das ist es, was sie will und niemals haben wird. Das Davor soll wieder zurückkehren. Warum sollte sie die Menschen im Kapitol nicht beneiden? Warum sollte sie sich nicht wünschen, irgendwo auf der Welt zu sein, nur nicht hier? Sie hätte nichts dagegen, in einem Kino zu sitzen, eine 3-D-Brille zu tragen und Sachen aus Pappschachteln zu essen, zusammen mit ihrer wunderschönen Mutter und ihrem Vater, dem Architekten. Sie hätte nichts dagegen, einen Hund aus einem Partyhut zu zaubern, einen Wagen mit Reklame auf dem Dach zu fahren und sich ein Maßband um die Taille zu legen. Ist das denn so falsch?
»Die Filme«, sagt ihr Großvater in diesem Moment. »Sieh dir das an! 3-D-Brillen! Ich erinnere mich. Ich habe solche Filme gesehen, als ich noch jünger war.«
»Es sieht so wirklich aus«, sagt Pressia. »Wäre es nicht schön, wenn …«
Ihr Großvater lässt sie nicht ausreden. »Wir leben nun mal in dieser Welt.«
»Ich weiß«, sagt sie und sieht zu Freedle hinüber, dem rostigen Freedle. Sie steht auf und entfernt sich ein paar Schritte von dem Bild. Sie starrt auf die Reihe kleiner selbst gebastelter Tierchen auf dem Fenstersims. Zum ersten Mal findet sie sie kindisch. Sie ist jetzt sechzehn. Was soll sie noch mit Spielsachen? Sie starrt die Metalltiere an. Dann den Ausschnitt aus der Zeitschrift. 3-D-Brillen, samtbezogene Sitze. Verglichen mit der glänzenden Welt auf diesem Foto kommen ihr die winzigen Schmetterlinge dumm vor. Kleine traurige Ausreden von einem ordentlichen Spielzeug. Sie nimmt eines der Tierchen hoch und hält es in der Hand. Sie stellt den Schmetterling zurück auf den Sims, hebt ihre gesunde Hand und presst sie leicht gegen die gesprungene Fensterscheibe.