PRESSIA

Austern

Sobald sie das Haus betreten haben, schließt Ingerships Frau hinter ihnen die Tür und drückt anschließend auf einen Knopf an der Wand. Wie von Geisterhand legen sich Gummidichtungen über die Fugen der Tür. Um den Staub draußen zu halten?, fragt sich Pressia. Falls ja, funktioniert es gut. Die Wände sind cremefarben glänzend. Die Holzböden sind poliert. An einer Wand hängt ein Gemälde, das genau dieses Haus zeigt, umgeben von verschneiten Hügeln, weiß und glitzernd, als gäbe es überhaupt keine Asche.

»Willkommen in unserer bescheidenen Behausung«, sagt Ingership, dann fährt er mit einem Finger über einen Streifen aus weißem Holz, der sich in Hüfthöhe an den Wänden entlangzieht. Er hält den Finger hoch. Er ist leicht grau von Asche. Er macht sich nicht die Mühe, seinen Metallkiefer zu öffnen, sondern sagt mit zusammengebissenen Zähnen: »Eklig?«

Seine Frau sieht untröstlich aus. Ihr Kopf bewegt sich rasch auf und ab. »Eklig!«, piepst sie.

Pressia hat noch nie so viel Eleganz gesehen – ein Läufer mit hellblauem Blumenmuster, ein Treppengeländer, das am Fuß der Treppe in einer verschnörkelten Schnitzerei endet, eine goldene Decke. Sie gehen in ein Esszimmer mit einer langen, mit einem roten Tuch gedeckten Tafel. Das Besteck glänzt silbern, die Wände sind mit noch mehr Blumen gemustert. An der Decke hängt eine gigantische Lampe aus glitzerndem Glas, nicht Scherben, sondern sauber geschnittenen geometrischen Figuren. Pressia kann sich nicht an das Wort für diese Art von Lampen erinnern. Sie hat gehört, wie ihr Großvater es benutzte, als sie mit Freedle spielte. Er hatte eine Kerze in Freedles Käfig gestellt, die den Raum von oben in ein hübsches Licht tauchte.

Sie denkt an Bradwell. Sie kann nicht anders. Was würde er zu dieser Zurschaustellung von Reichtum sagen? Er würde es krank nennen. Du weißt, dass Gott dich liebt, weil du reich bist! Sie kann förmlich hören, wie er über diese Behausung herzieht. Sie weiß, dass sie es genauso abstoßend finden sollte. Wer kann guten Gewissens hier leben, wenn er weiß, wie alle anderen ihr Dasein fristen? Doch es ist ein Zuhause – ein wunderschönes Zuhause. Sie würde gerne hier wohnen. Sie liebt das glänzende runde Holz der Stuhllehnen, die samtenen Vorhänge, die verzierten Griffe des Silberbestecks. Irgendwo oben muss es eine Badewanne geben und ein großes weiches Bett. Es verspricht Wärme, Sicherheit, Frieden. Ist es so falsch, sich nach so einem Leben zu sehnen? Sie kann Bradwells Gesichtsausdruck vor ihrem geistigen Auge sehen, wenn er antwortet: Allerdings. Es ist völlig falsch. Sie ruft sich ins Gedächtnis, dass es keine Rolle spielt, was Bradwell denkt. Sie wird ihn wohl nie wiedersehen. Der Gedanke erfüllt sie mit schmerzlicher Sehnsucht. Sie wünschte, es wäre nicht so. Sie wünschte, er wäre ihr egal.

Auf dem Tisch liegt ein großer brauner Umschlag, auf dem in dicker schwarzer Tinte ihr Name steht: Pressia Belze. Das ist unheilvoll, doch sie kann sich nicht erklären warum. Statt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf das Essen – eine Schale heller ölglänzender Maiskörner, die Austern in halber Schale (jedenfalls vermutet sie, dass es die Austern sind, unförmige braune Klumpen in Wasser in weißen perlmuttfarbenen Muschelschalen) sowie Eier. Ganze Eier, weiß, hart gekocht, geschält, geteilt, mit gelben Dottern. Sind das die Altertümlichkeiten, an denen Ingership »bastelt«? Die immer noch nicht ganz perfekten? In Pressias Augen sehen sie perfekt aus.

Der Tisch ist für sechs Personen gedeckt. Pressia fragt sich, ob noch jemand erwartet wird. Ingership nimmt am Kopfende des Tisches Platz, und seine Frau – deren Namen Pressia bisher nicht erfahren hat – zieht den Stuhl zu seiner Linken hervor. »Hier, bitte sehr«, sagt sie zu Pressia. Pressia setzt sich, und Ingerships Frau hilft ihr, den Stuhl wieder an den Tisch zu schieben, als wäre Pressia behindert. Sie klemmt den Puppenkopf unter den Tisch.

»Limonade?«, fragt Ingerships Frau.

Limonen – Pressia weiß, was Limonen sind, aber sie hat noch nie Limonade getrunken. Wo sollte sie auch Limonen hernehmen?

Ingership nickt, ohne sie anzusehen.

»Ja, bitte«, sagt Pressia. »Danke sehr.« Es ist so lange her, dass sie sich manierlich benommen hat, dass sie nicht mehr sicher ist, ob sie die richtige Antwort gegeben hat oder nicht. Ihr Großvater hat versucht, ihr Manieren beizubringen, als sie noch klein war. Weil er genauso erzogen worden ist, sagte er. »Für den Fall, dass du eines Tages mit dem Präsidenten am Tisch sitzt«, habe seine Mutter dazu gesagt. Ohne einen Präsidenten sind die Argumente für Manieren natürlich nichts wert.

Ingerships Frau kommt mit einem glänzenden Metallkrug an den Tisch, dessen Inhalt so kalt ist, dass die Außenseite vor Kondensation tropft, und schenkt jedem ein Glas Limonade ein. Die Limonade ist hellgelb. Pressia möchte davon trinken, doch sie wartet. Sie überlegt, dass es am besten ist, wenn sie alles tut, was Ingership macht, auf genau die gleiche Weise. Vielleicht mag er sie dann mehr, wenn er denkt, dass sie ihm irgendwie ähnelt. Im hell erleuchteten Raum glänzt das Metall von Ingerships Maske wie Chrom. Sie fragt sich, ob er es jeden Abend poliert.

Ingership nimmt seine weiße Stoffserviette, entfaltet sie mit einem Schwung und stopft sie sich unter das Kinn. Pressia folgt seinem Beispiel – einhändig. Ingership zieht seine Uniformmütze tiefer in die Stirn. Pressia hat keine Uniformmütze, also streicht sie sich das Haar glatt.

Als Ingerships Frau die Schale mit den Austern nimmt, hebt er zwei Finger, und sie setzt ihm zwei Austern auf den Teller. Pressia macht es ihm nach. Außerdem einen Löffel von ölbestrichenem Mais. Und drei Eier. Ingerships Frau sagt: »Ich hoffe, es schmeckt.«

»Danke sehr, Puppe«, sagt Ingership, sieht seine Frau an und lächelt stolz. Seine Frau lächelt zurück. »Pressia, meine Frau war Mitglied bei den Femininen Feministinnen, als du noch klein warst, du weißt schon, bevor …«

»Ah«, sagt Pressia, obwohl sie den Ausdruck Feminine Feministinnen noch nie im Leben gehört hat.

»Sie war sogar im Vorsitz. Ihre Mutter war eine der Gründerinnen.«

»Aha«, sagt Pressia leise. »Sehr schön.«

»Ich bin sicher, Pressia versteht die Probleme«, sagt Ingership. »Sie muss ihren Offiziersstatus irgendwie mit ihrer Weiblichkeit in Einklang bringen.«

»Wir glauben an die wahre Bildung für Frauen«, sagt Ingerships Frau. »Wir glauben an Erfolg und Verantwortung, doch warum muss das mit einfachen weiblichen Tugenden konkurrieren, Schönheit und Eleganz und einer Leidenschaft für das Heim und die Familie? Warum muss das heißen, dass wir eine Aktentasche tragen und burschikos sind?«

Pressia sieht Ingership an, weil sie nicht genau weiß, was sie darauf antworten soll. Rezitiert seine Frau eine Werbebotschaft aus dem Davor? Es gibt keine Bildung mehr, für niemanden. Heim und Familie? Und was ist eine Aktentasche?

»Meine Liebe«, sagt Ingership, »lass uns nicht über Politik reden.«

Seine Frau blickt betreten auf ihre bestrumpften Fingerspitzen, zupft den Stoff zurecht. »Natürlich. Du hast ja so recht. Bitte entschuldige.« Sie lächelt, nickt und wendet sich ab, um in den Raum zu gehen, der die Küche zu sein scheint.

»Warte«, sagt Ingership. »Pressia ist immerhin ein Mädchen. Vielleicht möchte sie einmal eine richtige Küche in all ihrer voll ausgestatteten Pracht sehen? Pressia?«

Pressia zögert. Offen gestanden hat sie keine Lust, sich von Ingership zu entfernen. Sie verlässt sich auf seine Andeutungen bezüglich angemessenen Verhaltens – andererseits darf sie die Einladung nicht ausschlagen. Das wäre unhöflich, so viel ist ihr bewusst. Frauen und Küchen. Sie ist innerlich empört, trotzdem pflichtet sie ihm bei. »Ja! Natürlich gerne! Eine Küche!«

Ingerships Frau wirkt äußerst nervös. Ihr Gesichtsausdruck, verborgen unter dem Strumpf, ist schwer zu deuten, doch sie zupft erneut an den Fingerspitzen ihres Strumpfes. »Ja, ja«, sagt sie, »natürlich. Es ist mir eine Freude.«

Pressia steht auf, legt ihre Serviette auf den Stuhl und schiebt den Stuhl unter den Tisch. Sie folgt Ingerships Frau durch die Schwingtür in das Nachbarzimmer.

Die Küche ist geräumig. Über einem langen schmalen Tisch in der Mitte hängt eine Lampe. Die vielen freien Arbeitsflächen sind ordentlich aufgeräumt und frisch gesäubert.

»Das Spülbecken. Der Geschirrspüler«, sagt Ingerships Frau und deutet auf den großen schwarzen Apparat unter dem Tresen. »Der Kühlschrank«, sagt sie und zeigt auf einen großen Schrank mit zwei Türen, einer großen unten und einer kleineren oben.

Pressia geht zu jedem der benannten Geräte und betrachtet sie. »Sehr schön«, sagt sie.

Ingerships Frau tritt zum Spülbecken. Als Pressia neben ihr steht, legt sie einen Metallhebel am Ende einer chromglänzenden Vorrichtung um, und Wasser fließt rauschend aus einer bis dahin unsichtbaren Öffnung. »Ich passe auf, dass dir nichts passiert«, flüstert sie Pressia vertraulich zu. »Keine Sorge. Ich habe einen Plan. Ich tue mein Bestes.«

»Dass mir nichts passiert?«, fragt Pressia überrascht.

»Hat er dir nicht gesagt, warum du hier bist?«

Pressia schüttelt den Kopf.

»Hier«, sagt Ingerships Frau und gibt Pressia eine kleine weiße Karte mit einer roten Linie in der Mitte – hellrot, die Farbe von frischem Blut. »Ich kann dir helfen, aber du musst helfen, mich zu retten.«

»Ich verstehe nicht …«, sagt Pressia und starrt ratlos auf die Karte.

»Behalt sie«, sagt Ingerships Frau und drückt Pressias Hand zu. »Du darfst sie nicht verlieren.«

Pressia nimmt die Karte und steckt sie tief in ihre Hosentasche.

Dann dreht Ingerships Frau den Wasserhahn wieder ab. »Und so funktioniert es!«, sagt sie laut. »Mit Rohren und Abwasser und allem!«

Pressia starrt sie verwirrt an.

»Keine Ursache«, sagt Ingerships Frau.

»Danke sehr«, sagt Pressia ein wenig verspätet, doch es klingt mehr wie eine Frage.

Ingerships Frau führt Pressia aus der Küche zurück ins Esszimmer. Pressia setzt sich wieder auf ihren Platz.

»Es ist eine wunderschöne Küche«, sagt sie. Sie ist immer noch verwirrt.

»Ja, nicht wahr?«, sagt Ingership.

Seine Frau verneigt sich leicht und verschwindet wieder. Pressia hört Töpfe klappern.

»Ich muss mich entschuldigen«, sagt Ingership mit einem Lachen. »Sie weiß, dass sie nicht so über Politik reden soll, wie sie es getan hat.«

Pressia hört ein Geräusch im Eingang und hebt den Kopf. Dort steht eine junge Frau in einem Ganzkörperstrumpf ähnlich dem von Ingerships Frau, mit dem Unterschied, dass er nicht so makellos und sauber ist. Sie trägt ein dunkelgraues Kleid und klobige Schuhe, und sie hat einen Eimer und einen Schwamm bei sich. Sie wischt die Wände ab, insbesondere die Stelle, die Ingership als »eklig« bezeichnet hat.

Ingership nimmt ein halbes Ei und schiebt es sich in den Mund. Pressia folgt augenblicklich seinem Beispiel. Sie lässt das Ei für einen Moment ruhen, fährt mit der Zunge über die glatte Oberfläche, bevor sie zu kauen beginnt. Das weiche Eigelb ist salzig. Es schmeckt himmlisch.

»Du wirst dich natürlich fragen – und ganz zu Recht«, beginnt Ingership, »wie das möglich ist. Das Haus, die Scheune, das Essen.« Seine Hand wirbelt mit einer alles umfassenden Geste durch die Luft. Seine Finger wirken überraschend klein und elegant.

Hastig verzehrt Pressia weiter ihre Eier. Sie lächelt gepresst und mit vollen Backen.

»Nun, ich will dir ein kleines Geheimnis anvertrauen, Pressia Belze. Es ist nämlich folgendermaßen: Meine Frau und ich sind Verbindungsoffiziere zwischen hier und dem Kapitol. Weißt du, was das bedeutet, Verbindungsoffiziere?« Er wartet nicht auf Pressias Antwort. »Wir sind Vermittler. Brückenbauer. Es war eine verlorene Sache hier, bevor die Bomben fielen. Die Rechtschaffene Rote Welle hat sich die größte Mühe gegeben, und ich bin ihr auch zutiefst dankbar für die Rückkehr des Anstands. Doch es musste sich etwas ändern. Die anderen schlugen zuerst zu – auch Judas war Teil von Gottes Plan. Du weißt, was ich meine? Es gab die einen, die froh waren über die Rückkehr von Sitte und Moral, und die anderen, die nicht in der Lage waren, sie anzunehmen. Die Bomben, so müssen wir wohl annehmen, waren in gewisser Weise zum Besten von allen. Es gab jene, die darauf vorbereitet waren, und jene, die keinen Zutritt verdient hatten. Das Kapitol ist gut. Es wacht über uns wie das gnädige Auge Gottes, und jetzt verlangt es etwas von dir und mir, Pressia Belze, und wir werden ihm dienen.« Er sieht sie scharf an. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Ich muss wohl einer von jenen gewesen sein, die gemäß Gottes großem Plan keinen Zutritt zum Kapitol verdient hatten. Ich war ein Sünder. Du warst eine Sünderin. Doch das bedeutet nicht, dass wir weiterhin Sünder sein müssen.«

Pressia weiß nicht, worauf sie sich zuerst konzentrieren soll. Ingership als Mittelsmann, der glaubt, die Bomben wären eine Strafe für ihre Sünden? Es ist genau das, was die Überlebenden glauben sollen, ginge es nach dem Kapitol – dass sie es nicht besser verdient haben. Sie hasst Ingership, jedoch hauptsächlich, weil er Macht hat. Er verbreitet gefährliche Ideen, wirft mit Gott und Sünde um sich und dient den Mächtigen, weil er selbst noch mächtiger werden will. Bradwell würde ihm wahrscheinlich den Hals zudrücken und sein Metallgesicht an der Wand verbeulen, bevor er ihm einen Vortrag über die wirkliche Geschichte halten würde. Pressia jedoch hat diese Möglichkeit nicht. Sie sitzt am Tisch und sieht immer wieder zu dem braunen Umschlag. Ist es das, worauf Ingership hinauswill? Wird er ihr gleich den Umschlag geben? Sie wünschte, er würde endlich zum Punkt kommen. Will das Kapitol etwas von ihr? Was passiert, wenn sie sich weigert? Sie schlingt das letzte Ei herunter. Sie nickt, als würde sie Ingership beipflichten, doch in Wirklichkeit denkt sie an die Eier. Sie hat jedes einzelne genossen, den Geschmack in ihrem Bauch gespeichert.

Ingership hebt eine Austernschale, kippt sie wie eine winzige Teetasse und schlürft den Inhalt in einem Zug herunter. Dann sieht er Pressia an, als wollte er sie ermutigen – oder ist es ein Test? »Eine wahre Delikatesse«, sagt er.

Pressia nimmt eine Auster von ihrem Teller. Sie spürt die raue Außenseite der Schale zuerst an den Fingern und dann an der Unterlippe. Sie kippt die Schale hoch, und die Auster gleitet über ihre Zunge in ihren Rachen und dann nach unten. Sie ist so schnell in ihrem Magen verschwunden, dass Pressia nicht einmal sagen kann, wie sie geschmeckt hat. Auf ihrer Zunge ist nur ein Nachgeschmack von salzigem Wasser.

»Köstlich, nicht wahr?«, fragt Ingership.

Pressia lächelt und nickt.

Ingership legt triumphierend die Hände flach auf den Tisch. »Ja, ja«, sagt er. »Die alte Welt in unseren Mündern, wenn auch nur für einen Moment. Das letzte große Vergnügen, das uns geblieben ist.« Dann schiebt er eine Hand in seine Jacke und zieht ein kleines Foto aus der Innentasche. Er legt es auf den Tisch und schiebt es Pressia hin. »Weißt du, wo wir sind?«

Es ist ein Foto von Ingership und seiner Frau. Sie stehen in der Ecke eines weißen Zimmers. Neben ihnen steht ein Mann von Ingerships Statur in einem ABC-Schutzanzug. Hinter der kleinen Scheibe, die sein Gesicht bedeckt, kann man sehen, dass er lächelt. Ingership schüttelt die dick behandschuhte Hand des Mannes. Ihm wird eine Medaille überreicht. Sein hageres Gesicht mit dem glänzenden Metall und seine Frau in ihrem Ganzkörperstrumpf lächeln grotesk. Sie sind beide in Weiß gekleidet. Waren sie etwa im Kapitol? Sieht das Leben im Kapitol etwa so aus? Schutzanzüge, Gesichter hinter winzigen Fenstern? Pressia spürt, wie sich ihr Magen unvermittelt zusammenzieht. Liegt es am Bild? Oder hat sie zu schnell gegessen?

Sie schiebt das Foto über den Tisch zu Ingership zurück. Schweiß bricht ihr aus. Sie nimmt einen Schluck Limonade – es ist das Seltsamste, was sie je geschmeckt hat –, süß und sauer zugleich. Ihre Zunge schnalzt an den Gaumendeckel. Sie ist begeistert.

»Es war eine Belobigungszeremonie im Kapitol«, erklärt Ingership. Er nimmt das Foto auf und betrachtet es. »Eigentlich ist es ein Schleusenraum. Wir sind durch eine Reihe von versiegelten Toren hinein und wieder zurück nach draußen.«

»Tragen die Leute im Kapitol die ganze Zeit diese Anzüge?«, fragt Pressia.

»Oh nein, wo denkst du hin? Sie leben in einer Welt wie der, in der wir früher gelebt haben, mit dem Unterschied, dass sie sicher und kontrolliert und … und … und rein ist.« Er steckt das Bild in die Innentasche seiner Jacke zurück und tätschelt es liebevoll. »Die Menschen im Kapitol haben – in sehr begrenztem Maß – Kinder. Sie wollen eines Tages wieder herauskommen, um die Erde neu zu besiedeln. Und sie brauchen Helfer, zum Testen, Vorbereiten, Sichern und – und das ist der Schlüssel, Pressia Belze, das ist grundlegend – zum Verteidigen.«

»Verteidigen?«, fragt Pressia.

»Verteidigen«, sagt Ingership. »Deswegen bist du hier.« Er blickt über die Schulter, um zu sehen, ob die junge Frau noch immer mit dem Abwaschen der Wände beschäftigt ist. Sie ist. Ingership schnippt mit den Fingern, und sie nimmt hastig ihren Eimer und verschwindet den Gang hinunter. »Verstehst du, ein Reiner ist aus dem Kapitol geflohen«, fährt er schließlich fort. »Sie haben den Ausbruch erwartet und trafen Vorbereitungen, ihn gehen zu lassen. Das Kapitol hält niemanden gegen seinen Willen fest. Doch wenn der Reine schon nach draußen wollte, dann sollte er rund um die Uhr beaufsichtigt werden, ausgerüstet mit Ohr-Implantaten, sodass sie ihn hören konnten, falls er Hilfe brauchte, und Augen-Implantaten, damit sie sehen konnten, was er sieht. So hätten sie ihn nach Hause holen könne, wenn er in Gefahr schwebte.«

Pressia erinnert sich, wie sie Partridge zum ersten Mal gesehen hat – das blasse Gesicht, die große, schlanke Gestalt, der geschorene Kopf – genau so, wie die Gerüchte den Reinen beschrieben hatten. Sie weiß, dass etwas an Ingerships Erklärung nicht stimmt, aber sie weiß nicht genau, was es ist.

»Wer ist dieser Reine?«, fragt Pressia. Sie will herausfinden, wie viel Ingership weiß, oder zumindest, wie viel er ihr zu sagen bereit ist. »Warum machen sie sich so viel Mühe?«

»So denkt ein Offizier, sehr schön, Pressia. Das ist es, was ich sehen möchte. Er ist tatsächlich der Sohn einer wichtigen Persönlichkeit. Und er konnte ein wenig früher entkommen, als es das Kapitol erwartet hat, bevor er zu seinem eigenen Schutz in Narkose versetzt und mit Überwachungschips ausgestattet werden konnte.«

»Aber warum?«, fragt Pressia. »Warum sollte er das Kapitol verlassen wollen?«

»Niemand hat das je zuvor getan. Aber dieser Reine – Ripkard Crick Willux, auch unter dem Namen Partridge, Rebhuhn, bekannt – hat einen guten Grund. Er sucht nach seiner Mutter.«

»Seine Mutter ist eine Überlebende?«

»Eine der Unglückseligen, ja, leider. Eine Sünderin wie der Rest von uns.« Ingership schlürft eine Auster. »Das ist das Seltsame daran. Das Kapitol hat neue Informationen, die ihr Überleben bestätigen und glaubt, dass sie sich in einem Bau befindet, bei einer kleinen, jedoch relativ hoch entwickelten Gruppe. Das Kapitol glaubt, dass sie gegen ihren Willen dort festgehalten wird, als Gefangene. Einsatzkräfte des Kapitols versuchen gegenwärtig mit ihrer überlegenen Nahaufklärung, diesen Bau zu lokalisieren. Das Kapitol will sie heil und unverletzt herausholen, bevor der Bau zerstört wird. Wir möchten außerdem verhindern, dass der Reine im Verlauf dieser Operation verletzt wird. Und weil der Reine nicht entsprechend ausgerüstet ist, brauchen wir jemanden, der bei ihm ist, der ihn führt und beschützt und zur Not verteidigt.«

»Mich?«

»Ja, dich, Pressia Belze. Das Kapitol möchte, dass du den Reinen findest und bei ihm bleibst, Tag und Nacht.«

»Aber wieso ausgerechnet ich?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe eine sehr hohe Sicherheitsstufe, aber ich weiß nicht alles. Weißt du etwas über diesen Reinen? Gibt es irgendeine Verbindung?«

Pressias Magen krampft sich erneut zusammen. Sie ist nicht sicher, ob sie versuchen soll zu lügen oder nicht. Ihr wird bewusst, dass ihr Gesichtsausdruck sie wahrscheinlich längst verraten hat. Sie ist eine furchtbar schlechte Lügnerin. »Ich glaube nicht.«

»Nun, das ist schade«, sagt Ingership. Schade, dass sie keine Verbindung zu Partridge hat, oder schade, dass sie Informationen zurückhält? Sie weiß nicht, was er meint.

»Und du glaubst, seine Mutter lebt tatsächlich noch?« Hoffnung durchflutet Pressia. Sie könnte Partridges Mutter retten. Er hatte tatsächlich recht.

»Sie ist sehr lebendig, glauben wir.«

»Wer ist ›Wir‹?«, fragt Pressia. »Du sagst immer wieder ›Wir‹.«

»Ich meine selbstverständlich das Kapitol. Wir. Und diese Definition kann dich ebenfalls einschließen, Pressia.« Er trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte. »Wir werden dich selbstverständlich vorbereiten. Wir haben die dafür erforderlichen Dinge hier. Selbstverständlich wird es eine zivilisierte Angelegenheit werden. Meine Frau bereitet den Ether vor.« Er beugt sich zu Pressia hinüber. »Riechst du ihn schon?«

Pressia atmet schnüffelnd die Luft ein, und tatsächlich bemerkt sie eine übelkeiterregende Süße. Sie nickt knapp – plötzlich ist ihr viel zu schlecht, um mehr zu tun. In ihrem Magen und ihrer Brust breitet sich Hitze aus. Die Hitze strahlt in die Arme und Beine. Ether? »Irgendwas stimmt nicht«, sagt sie. Sie ist benommen. Sie kann nicht anders, sie muss an den Jungen im Wald denken. Es ist nicht logisch, doch sie fragt sich, ob sie diese Vergeltung verdient hat, weil sie tatenlos zugesehen hat, wie er gestorben ist. Ist es das, was sie mit jemandem anstellen, der einen Mord beobachtet und nichts unternimmt?

»Spürst du es?«, fragt Ingership. »Spürst du es in deinem ganzen Körper?«

Pressia starrt Ingership an. Sein Gesicht ist verschwommen.

»Ich wollte dir diese Freude machen, bevor deine richtige Mission beginnt. Ein kleines Geschenk. Eine Opfergabe.«

Bereitet Ingerships Frau den Ether vor, um Pressia zu betäuben? Sie hat diese seltsame Karte in der Tasche – weiß mit einem roten Streifen von etwas, das aussieht wie frisches Blut. »Das Essen?«, fragt Pressia. Sie ist nicht sicher, was Ingership mit »Geschenk« meint.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit, Pressia Belze. Ich spüre es ebenfalls.« Er reibt sich die Arme, eine schnelle, raue Bewegung. »Ein Bild noch.« Diesmal greift er in eine Außentasche seiner Jacke, gleich über der Hüfte. Er schiebt das Foto Pressia hin.

Sie muss blinzeln, damit sie etwas erkennen kann. Es ist ihr Großvater. Er liegt in einem Bett mit einer weißen Decke. Er hat eine Art Maske über dem Gesicht, die an einen Schlauch angeschlossen ist. Sie kann den Ventilator in seinem Hals sehen, ein verschwommenes Gebilde im Zentrum eines Lochs im Schatten seines Halses. Er lächelt in die Kamera. Sein Gesicht ist friedvoll, und er sieht jünger aus, als sie ihn je erlebt hat.

»Sie kümmern sich sehr gut um ihn.«

»Wo ist er?«

»Im Kapitol selbstverständlich.«

»Im Kapitol?« Ist das möglich? In einer Vase auf dem Nachttisch steht ein Strauß Blumen. Echte Blumen? Duftende Blumen? Ihre Stimmung hebt sich augenblicklich. Ihrem Großvater geht es gut. Der Ventilator in seinem Hals saugt endlich saubere Luft ein.

»Er ist, wie du dir sicher denken kannst, eine Versicherung, die dafür sorgen soll, dass du deinen Auftrag erfüllst. Verstehst du das?«

»Mein Großvater«, sagt Pressia. Wenn sie nicht tut, was man ihr sagt, wird er sterben. Sie streicht mit der gesunden Hand über die unter dem Tisch verborgene Puppenfaust. Eine weitere Welle der Benommenheit überkommt sie. Sie denkt an ihr Zuhause. Freedle. Wenn ihr Großvater nicht mehr da ist – wo steckt Freedle?

»Selbstverständlich wirst du während deiner Mission beschützt. Spezialkräfte werden ständig in deiner Nähe sein. Unsichtbar, aber nicht weit entfernt.«

»Spezialkräfte?«

»Du hast sie schon gesehen. Oder etwa nicht? Sie haben dem Kapitol gemeldet, dass du und El Capitán sie gesehen habt. Es sind unglaubliche Wesen. Mehr Tier als Mensch und perfekt kontrolliert.«

»Diese übermenschlichen Geschöpfe im Wald … sie sind aus dem Kapitol? Spezialkräfte …?« Das Essen, das sie verschlungen hat, sind die Altertümlichkeiten, an denen er herumbastelt, und jetzt ist Pressia auch klar, was er damit gemeint hat, als er gesagt hat, sie wären noch nicht perfekt. Dicht dran, hat Ingership gesagt. Ganz dicht dran. Ingership und seine Frau haben Pressia vergiftet.

Pressia schiebt die Hand unter den Tellerrand und packt den Griff ihres Messers. Sie muss hier raus. Sie steht auf, versteckt das Messer hinter ihrem Bein. Alles dreht sich und sie schwankt. Sie versucht die Buchstaben ihres Namens auf dem braunen Umschlag zu entziffern. Wahrscheinlich enthält er ihre Befehle.

»Liebling!«, ruft Ingership nach seiner Frau. »Wir spüren die Auswirkungen! Unser Gast …«

Pressias Magen rebelliert. Sie blickt sich im Zimmer um und fixiert dann Ingership. Das echte Fleisch in seinem Gesicht wirkt plötzlich eingefallen. Seine Frau erscheint, glänzend in ihrer zweiten Haut, bis auf die Tatsache, dass ihr Mund mit einer grünen Maske bedeckt ist. Außerdem trägt sie über ihren bestrumpften Händen jetzt blassgrüne Latexhandschuhe. Und dann scheint sich der Boden unter Pressias Füßen zu bewegen.

Ingership streckt die Hand nach ihr aus. Sie reißt das Messer hoch, zielt damit auf seinen Bauch. »Lass mich hier raus!«, fordert sie. Vielleicht kann sie ihn so schwer verwunden, dass sie es bis zur Tür schafft.

»Das ist kein höfliches Benehmen, Pressia Belze«, sagt Ingership. »Das ist überhaupt kein höfliches Benehmen.«

Sie stößt zu, doch sie verliert das Gleichgewicht, und als er nach ihr greifen will, erwischt sie ihn am Arm. Blut quillt hervor, ein roter Fleck auf seinem Hemd.

Sie rennt zur Tür, lässt das Messer fallen, um mit der einen gesunden Hand den Griff zu packen, doch es klickt nur. Er dreht sich nicht. Ihr ist übel und schwindlig. Sie fällt auf die Knie und übergibt sich. Sie rollt auf die Seite, presst die Puppenkopffaust an ihre Brust. Ingership taucht über ihr auf, und sie starrt in sein Gesicht, erhellt vom Schein des Lampendingsbums an der Decke mit den geschliffenen Glasscherben. Wie hieß dieses Ding noch mal? Wie?

»Ich hatte dich eingeladen, alles zu probieren«, sagt Ingership. »Ich hatte nicht versprochen, dass du es bei dir behalten würdest. Sag mir, dass es die Sache nicht wert war! Los, sag es!«

Seine Uniformmütze ist verschwunden, und jetzt sieht Pressia auch die eigenartige Wulst an der Stelle, wo Haut und Metall zusammentreffen. Er taumelt, sein Arm blutet, er stolpert, und für einen Moment befürchtet sie, er könnte mit voller Wucht auf sie fallen. Doch er streckt die Hände nach seiner Frau aus, klammert sich an ihre dürren, bestrumpften Oberarme. »Bring mich zum Eimer! Ich brenne, Darling! Ich spüre es in meinen Gliedern. Ich brenne! Ich brenne lichterloh!«

In diesem Moment fällt Pressia das Wort wieder ein. »Kronleuchter«, sagt sie. Ein wunderschönes Wort. Wie konnte sie es nur vergessen? Wenn sie ihren Großvater wiedersieht, wird sie ihm dieses Wort ins Ohr flüstern.

Kronleuchter, Kronleuchter, Kronleuchter.