PRESSIA
Versammlung
Der Raum ist klein und eng. Lediglich ein Dutzend Leute sind da. Alle stehen, und als Pressia die Leiter hinunterkommt, rücken sie zusammen und seufzen, verärgert, weil sie Platz in Anspruch nimmt. Vermutlich sind sie auch sauer, dass sie das Essen mit einem mehr teilen müssen. Der Raum riecht nach Essig. Pressia hat noch nie Sauerkraut gegessen, doch ihr Großvater hat es beschrieben, und sie fragt sich, ob es das ist, was man auftischen wird. Von ihrem Großvater weiß sie außerdem, dass es ein deutsches Essen ist.
Der Junge, der die Falltür geöffnet hat, geht zur Rückseite des Raums. Pressia muss sich um die Gruppe herumschieben, um ihn sehen zu können. Er ist breitschultrig und muskulös. Sein blaues Hemd ist verschlissen. Die Ellbogen sind durchgewetzt. Wo Knöpfe fehlen, hat er Löcher in den Stoff gebohrt und das Gewebe mit Schnüren zugebunden.
Sie erinnert sich an ihre erste Begegnung mit ihm. Sie war auf dem Nachhauseweg vom Herumstreunen und Plündern, als sie durch das Fenster des Friseurladens Stimmen hörte. Sie blieb stehen und sah hinein, und dort lag dieser Junge – zwei Jahre jünger als heute, doch schon damals muskulös und drahtig. Er lag auf dem Tisch, auf der Seite, und ihr Großvater arbeitete an seinem Gesicht. Das Bild war undeutlich, verschwommen vom zersplitterten Fenster, doch Pressia war sicher, kleine schnelle Vogelflügel zu sehen, zerknitterte Federn, kleine orangefarbene Krallen unter einem daunigen Bauch, verschmolzen mit seinem Rücken. Der Junge setzte sich auf, zog sein Hemd an. Pressia ging zur Tür und hielt inne, außer Sicht. Der Junge hatte kein Geld. Er sagte, er könnte ihrem Großvater als Bezahlung eine Waffe geben. Ihr Großvater erwiderte, er könne die Waffe behalten. »Du brauchst sie, um dich selbst zu schützen«, sagte er. »Außerdem wirst du eines Tages groß und stark sein und ich werde immer nur älter und schwächer. Besser, du schuldest mir einen Gefallen.«
»Ich mag es nicht, anderen Gefallen zu schulden«, hatte der Junge geantwortet.
»Tut mir leid, aber so ist es nun mal«, hatte Pressias Großvater gesagt.
Der Junge war eilig aufgebrochen und prompt mit Pressia zusammengestoßen, als er um die Ecke bog. Sie war rückwärtsgestolpert, und er hatte ihren Arm gepackt und sie festgehalten, damit sie nicht fiel. Den Arm mit dem Puppenkopf. Er hatte einen Blick auf den Puppenkopf geworfen und »Tut mir leid« gesagt – ob wegen des Zusammenstoßes oder ihrer Verformung hatte er offengelassen. Sie hatte sich losgerissen. »Schon okay«, hatte sie gesagt, doch sie war verlegen gewesen, weil er wahrscheinlich wusste, dass sie ihn heimlich beobachtet hatte.
Und jetzt ist er hier, der Junge, der es nicht mag, anderen einen Gefallen zu schulden und der ihrem Großvater dennoch verpflichtet ist. Der Junge mit den Vögeln im Rücken.
Er eröffnet die Versammlung. »Wir haben einen neuen Gast«, sagt er und deutet auf Pressia. Alle drehen sich zu ihr um. Wie jeder andere auch haben sie Narben, Verbrennungen, Wucherungen wie dicke Seile. Eines der Gesichter hat an der Kinnlinie eine so stark strukturierte Haut, dass sie aussieht wie Baumrinde. Pressia erkennt ein Gesicht – das von Gorse, der vor einigen Jahren zusammen mit seiner kleinen Schwester Fandra verschwunden ist. Pressia blickt sich suchend nach Fandra um, die feines goldenes Haar hatte und einen verschrumpelten linken Arm. Sie haben immer gewitzelt, dass sie wie geschaffen waren füreinander: Fandra mit ihrer gesunden rechten und Pressia mit ihrer gesunden linken Hand. Doch sie kann Fandra nirgends entdecken. Gorse bemerkt ihren Blick und sieht weg. Pressia wird schwindelig vor Aufregung. Das Untergrund-Netzwerk – vielleicht existiert es nicht nur, sondern funktioniert sogar! Sie weiß jetzt, dass mindestens einer überlebt hat, und alle Leute im Raum sehen älter aus als sie. Ist das hier vielleicht schon der Untergrund? Ist der Junge mit den Vögeln im Rücken der Anführer?
Und was sehen die anderen, wenn sie Pressia mustern? Sie senkt den Kopf, sodass die halbmondförmige Narbe nicht mehr zu erkennen ist, und zieht den Pulloverärmel über den Puppenkopf. Sie nickt der Gruppe zu, hofft, dass sie schnell wieder wegsehen.
»Wie heißt du?«, will der Junge mit den Vögeln im Rücken wissen.
»Pressia«, antwortet sie und bereut es sofort. Sie hätte einen falschen Namen nennen sollen, schließlich weiß sie nicht, wer die Leute sind. Es ist ein Fehler, zu offen zu sein, das wird ihr schmerzhaft bewusst. Sie will abhauen, fühlt sich aber gefangen.
»Pressia«, murmelt er, als würde er den Namen üben. »Okay«, sagt er zur Gruppe gewandt. »Fangen wir an.«
Ein anderer Junge in der Gruppe hebt die Hand. Sein Gesicht ist teilweise von Entzündungen zerfallen, dort, wo das Metall auf seiner Wange, früher einmal Chrom, inzwischen rostübersät, die pickelige Haut berührt. Ein Rand aus verfaulter Haut. Ohne Antibiotika kann er daran sterben. Sie hat schon Leute an so einfachen Entzündungen wie dieser sterben sehen. Manchmal wird an bestimmten Marktständen Medizin angeboten, aber sie ist teuer. »Wann dürfen wir endlich einen Blick in die Truhe werfen?«, fragt er.
»Wenn ich fertig bin, wie immer, Halpern. Das weißt du.«
Halpern blickt sich verlegen um und kratzt an einem Stück Schorf im Gesicht.
Jetzt sieht Pressia zum ersten Mal die Truhe. Sie steht an einer Wand. Sie fragt sich, ob darin das Essen aufbewahrt wird.
Pressia mustert die Mädchen in der Gruppe. Eines hat blanke Drähte im Hals. Ein anderes hat eine Hand, die mit einem Fahrradlenker verschmolzen ist. Das Metall ist abgesägt, und der Griff ragt aus ihrer Faust wie ein Knochen. Pressia ist überrascht, dass sie nicht versuchen, diese Dinge zu verbergen, durch einen Schal um den Hals oder eine Socke über der Hand, wie Pressia es macht. Doch die Mädchen sehen stolz aus, selbstbewusst, beinahe herablassend.
»Für die unter euch, die zum ersten Mal hier sind …«, fährt der Junge mit den Vögeln im Rücken mit einem Blick auf Pressia fort, »… Ich bin ein Toter.« Was bedeutet, dass sein Name auf einer der Listen mit den Opfern stand. Die OSR sucht nicht nach ihm. Was gut ist, alles in allem. »Meine Eltern waren Professoren und starben, bevor die Bomben fielen. Sie hatten ›gefährliche Ideen‹. Ich bin im Besitz der Überreste eines Buches, an dem sie gemeinsam arbeiteten, und aus diesem Buch habe ich einen großen Teil meiner Informationen. Nach dem Tod meiner Eltern wurde ich zu einem Onkel und einer Tante geschickt. Dort war ich, als die Bomben fielen. Onkel und Tante überlebten nicht. Ich war damals neun Jahre alt und habe mich seitdem allein durchgeschlagen. Mein Name ist Bradwell, und das ist Schattengeschichte.«
Bradwell. Jetzt erinnert sie sich wieder. Sie hat von ihm gehört. Er soll ein Verschwörungstheoretiker sein, der draußen in den Trümmerfeldern predigt. Sie hat gehört, dass er die Geschichte über die Explosionen und das Kapitol anzweifelt und ganz besonders diejenigen verspottet, die das Kapitol für eine Gottheit halten, einen gütigen, fernen Gott, den sie verehren. Obwohl sie nicht zu den Kapitol-Verehrern gehört, hat sie sofort Hass gegen ihn verspürt. Wozu Verschwörungstheorien? Es ist vorbei. Aus und vorbei, ein für alle Mal. Hier sind wir – warum darüber nachdenken?
Als er weiterredet und dabei mit den Händen in den Taschen auf und ab geht, steigt dieses Hassgefühl erneut in ihr auf. Er ist paranoid und großspurig. Er erzählt langatmig von den Funktionären des Kapitols und behauptet, Beweise zu haben, dass sie verantwortlich sind für die totale Zerstörung; dass sie den größten Teil der Weltbevölkerung ausgelöscht haben, während sie in ihrem Kuppelbau geschützt waren, und dass das Kapitol einzig zu diesem Zweck gebaut wurde – nicht als Prototyp zum Schutz vor einer Virusepidemie, einer Umweltkatastrophe oder dem Angriff einer anderen Nation. Sie wollten, dass nur die Elite im Kuppelbau überlebt, während sich die Erde von selbst regeneriert. Dann würden sie zurückkehren. Ein Neuanfang. »Habt ihr euch je gefragt, warum wir keinen ausgewachsenen nuklearen Winter hatten?«, fragt Bradwell. »Nun, die Bomben waren darauf ausgelegt, genau das zu vermeiden. Sie benutzten einen Cocktail – Neutronenwaffen aus niedrigem Orbit, genannt LoFERNS, und aus dem hohen Orbit mit erweiterter Strahlung, die HiFERNS, mit elektromagnetischen Pulsen, genannt EMP.« Er spricht über den Unterschied zwischen atomaren und nuklearen Bomben, die ebenfalls zum Einsatz kamen, und den elektromagnetischen Pulsen, die jegliche Kommunikation unterbinden sollten. »Und wie entstanden die Dusts? Die Bomben zerstörten die molekularen Strukturen. Die Cocktails enthielten als Streugut Nanotechnologie, die die Regeneration der Erde beschleunigen soll – Nanotechnologie, die die spontane Bildung von Molekülen unterstützt. Dies, zusammen mit der Selbstregeneration unserer DNS, die die Baupläne unserer Zellen enthält, verstärkte unsere Verschmelzungen. Nanotechnologie, die auf in den Trümmern gefangene oder auf verbranntem Land sitzende Menschen traf und ihnen bei der Regeneration half. Obwohl sie sich nicht ganz befreien konnten, erstarkten die menschlichen Zellen der Dusts und lernten zu überleben.«
Er erklärt eine Verschwörung nach der anderen, verbindet sie so schnell miteinander, dass Pressia ihm kaum folgen kann. Sie ist nicht einmal sicher, ob er will, dass sie seine Theorien versteht. Seine Ansprache ist nicht für die Neuankömmlinge gedacht. Dies hier ist eine Gruppe überzeugter Anhänger. Sie nicken immer wieder im Verlauf seines Vortrags, als wäre es eine Gutenachtgeschichte, als hätten sie sie längst auswendig gelernt und könnten sie anderen weitererzählen.
Pressia rezitiert in Gedanken die Botschaft: Wir wissen, dass ihr hier seid, Brüder und Schwestern. Eines Tages werden wir aus dem Kapitol treten, um uns in Frieden mit euch zu vereinen. Bis dahin jedoch beobachten wir euch aus der Ferne, voller Gnade.
Und sie denkt an das Kreuz darunter, das ihr Großvater Irisches Kreuz nannte. Es mag ja sein, dass es nicht das gütige Auge eines Gottes ist, wie so viele glauben, aber es ist mit Sicherheit auch nicht die Botschaft einer bösen Macht. Ihre Sünde besteht darin, überlebt zu haben. Sie kann es ihnen nicht verdenken. Sie hat sich schließlich der gleichen Sünde schuldig gemacht.
Allmählich dämmert ihr, dass die OSR von Bradwells Existenz wissen muss, wenn selbst ihr Gerüchte zu Ohren gekommen sind. Panik steigt in ihr auf. Es ist gefährlich für sie, überhaupt hier zu sein. Bradwell ist fast achtzehn, und obwohl er offiziell als tot gelistet ist, ist er mit Sicherheit eine ideale Zielscheibe für die OSR. Während er redet, werden ein paar Dinge klar: Er hasst die OSR, die in seinen Augen unfähig ist, geschwächt von der eigenen Gier und Bosheit, außerstande, das Kapitol zu entmachten oder einen echten Wechsel herbeizuführen. »Nichts als eine weitere korrupte Tyrannei«, sagt er. Insbesondere ist ihm zuwider, dass niemand etwas Genaues weiß. Die Namen der Führer der OSR sind unbekannt. Sie lassen ihre Schergen die Drecksarbeit auf der Straße erledigen.
Würde ihn irgendjemand so reden hören, er würde erschossen, vielleicht sogar in aller Öffentlichkeit. Sie alle würden als Feinde der OSR betrachtet und mit dem Tod bestraft werden. Pressia will weg, aber wie? Die Leiter zur Falltür ist zusammengeklappt. Sie müsste eine Szene machen. Sie müsste es erklären. Aber was wäre schlimmer? Was, wenn es eine Razzia gibt, und sie sitzt hier unten mit diesen Leuten in der Falle?
Gleichzeitig will sie unbedingt wissen, was in der Truhe versteckt ist. Der Junge namens Halpern ist offensichtlich genauso neugierig wie sie. Es muss also etwas Wertvolles sein. Und wo ist das Essen? Hauptsächlich möchte sie, dass Bradwell endlich aufhört zu reden. Er redet über das, worüber niemals jemand spricht – die Luftströmungen, die ganze Häuserfundamente freilegen, die Feuerzyklone, die Reptilienhaut der Sterbenden, Leichen, die zu Kohle geworden sind, den öligen schwarzen Regen, die Scheiterhaufen für die, die Tage später gestorben sind; die zuerst nur Nasenbluten hatten und dann von innen verwesten. Sie wünscht sich sehnlichst, dass er endlich den Mund hält. Hör auf! Jetzt! Sofort!
Er sieht sie immer wieder an, während er redet, kommt ihr näher und näher. Er zwinkert, tut, als wäre er hart. Er berichtet von der politischen Bewegung namens Rückkehr des Anstands, die von der nationalen militärischen Fraktion überwacht wurde, die Rote Welle der Gerechtigkeit hieß und in Wirklichkeit Teil der Verschwörung war, die zu dem Bombardement führte. Er erzählt von dem Regiment der Angst, den riesigen Gefängnissen, den Heimen für die Kranken, den Asylen für Widerständler, den sterblichen Überresten, die in alle Richtungen verstreut herumlagen, gleich hinter den Toren der Vorstädte. Während er über all das redet, treten ihm Tränen in die Augen. Er würde niemals weinen, das sieht sie ihm an, doch er ist kompliziert. An einem Punkt sagt er: »Es war krank, alles. Vollkommen krank.« Und dann zeigt er auf ein sarkastisches Grübchen in seiner Wange und sagt: »Du weißt, dass Gott dich liebt, weil du reich bist!«
War es wirklich so, damals? Pressias Vater war Buchhalter. Ihre Mutter war mit ihr nach Disney Land gefahren. Sie hatten in der Vorstadt gelebt. Sie hatten einen kleinen Garten. Pressias Großvater hat Bilder von alldem gemalt. Ihre Eltern waren keine gebildeten Leute mit gefährlichen Ideen gewesen. Auf welcher Seite also hatten sie gestanden? Sie weicht einen Schritt zurück in Richtung der Leiter.
»Wir müssen uns daran erinnern, was wir nicht wollen«, sagt Bradwell zu seinen Zuhörern. »Wir müssen unsere Geschichten weitergeben. Meine Eltern waren bereits tot, schon vor den Bomben. In ihren Betten erschossen. Mir haben sie erzählt, es wären Einbrecher gewesen, aber ich wusste es besser, schon damals.«
Und jetzt redet Bradwell, als wäre er mit ihr allein im Raum. Seine Augen sind unverwandt auf sie gerichtet, sein Blick bohrt sich in ihren. Es fühlt sich seltsam an, als wäre sie an die Erde gebunden. Er erzählt seine Geschichte. Sein Ich-erinnere-mich.
Nachdem seine Eltern erschossen worden waren, wurde er zu seiner Tante und seinem Onkel gebracht, die in der Vorstadt lebten. Man hatte seinem Onkel drei Plätze im Kapitol versprochen, ihm einen sicheren Weg dorthin gezeigt, den er nehmen sollte, sobald der Alarm erklang. Es war ein geheimer Weg, der sich zwischen den Barrikaden hindurchwand. Er hatte sogar Eintrittskarten, für die er viel Geld bezahlt hatte. Sie beluden den Wagen mit Wasserflaschen und Bargeld.
Es passierte an einem Sonntagnachmittag. Bradwell hatte sich weit von zu Hause entfernt. Er war viel durch die Gegend gestreift in jenen Tagen. Er erinnert sich nicht an viele Details – nur an den hellen Blitz, die Hitze, die durch seinen Körper jagte, als würde sein Blut in Flammen stehen. Der Schatten der Vögel, die sich hinter ihm aufschwangen … das ist also wirklich das, was sie vor zwei Jahren gesehen hat, als er auf dem Tisch ihres Großvaters lag. Das Rascheln unter seinem Hemd, es sind Flügel.
Bradwells Körper war verbrannt, die Haut versengt, roh. Die Schnäbel der Vögel haben sich angefühlt wie Dolche.
Irgendwie hat er es zurück zum Haus geschafft, inmitten schwelender Feuer, die Luft schwer von Asche, Menschen, die in den Trümmern weinten. Andere wanderten blutüberströmt umher, die Haut weggeschmolzen. Sein Onkel hatte am Wagen gearbeitet, um sicher zu sein, dass er in Schuss war für die spezielle Route zwischen den Barrikaden hindurch. Er hatte unter dem Wagen gelegen, als die Bomben hochgingen, war mit dem Motor verschmolzen. Der Motor saß in seiner Brust. Seine Tante war verbrannt, litt unter Schmerzen und hatte Angst vor Bradwells Körper, den Vögeln. Sie sagte trotzdem: »Geh nicht weg.« Der Geruch nach Tod, nach verbranntem Haar und verbrannter Haut war überall. Der Himmel war grau und schwer von Asche. »Die Sonne schien, aber es war so viel Staub in der Luft, dass es immer dämmrig war«, sagt Bradwell. Erinnert sich Pressia daran? Sie will. Nach Sonne auf Sonne auf Sonne herrschte Dämmerung auf Dämmerung, Tag um Tag.
Bradwell blieb bei seiner Tante in der Garage, die zwar versengt und baufällig war, doch ansonsten merkwürdig unversehrt – die Wände gesäumt mit verkohlten Kisten, dem Plastik-Weihnachtsbaum, den Schaufeln und Werkzeugen. Sein Onkel war schon fast tot, trotzdem versuchte er seiner Frau zu erklären, wie sie ihn unter dem Wagen hervorholen sollte. Er sagte etwas von Bolzenschneider und einem Hebezug, den sie an der Decke befestigen konnten – doch wo sollte die Tante Hilfe holen? Jeder in der Nachbarschaft war entweder tot, lag im Sterben oder war verschüttet oder verschwunden. Sie versuchte ihren Mann zu füttern, doch er weigerte sich zu essen.
Bradwell fand eine tote Katze auf der verbrannten Wiese, legte sie in eine Schachtel, versuchte sie wiederzubeleben – vergebens. Seine Tante war völlig erschöpft und heiser, wahrscheinlich inzwischen ein wenig durchgedreht. Sie war benommen und schwach und sah ihrem Mann beim Sterben zu, während sie sich notdürftig um die eigenen Verletzungen kümmerte.
Bradwell unterbricht seine Erzählung für einen Moment, blickt zu Boden, dann sieht er Pressia wieder an. »Und dann eines Tages flehte er sie an. Flüsterte bettelnd, dass sie den Motor startete. Einfach startete.«
Im Raum wird es still.
Bradwell fährt fort. »Sie hielt die Schlüssel in der Hand und schrie mich an, ich solle aus der Garage verschwinden. Ich gehorchte.«
Pressia fühlt sich benommen. Sie legt die Hand an die Betonwand, um das Gleichgewicht zu halten. Sie blickt zu Bradwell auf. Warum erzählt er diese Geschichte? Sie ist widerlich. Erinnerungen sollen Freude machen. Sie sind kleine Geschenke, schöne Geschichten von der Sorte, die Pressia sammelt, die sie braucht, an die sie glaubt. Warum so eine? Zu was ist sie nütze? Sie blickt sich um, sieht die anderen an. Sie scheinen nicht wütend oder aufgebracht wie sie selbst. Ihre Gesichter sind gelassen. Einige haben die Augen geschlossen, als versuchten sie, sich das Gehörte in Gedanken vorzustellen. Das ist das Letzte, was Pressia will, und trotzdem sieht sie alles ganz deutlich vor sich, die Vögel, die tote Katze, den Mann, der unter dem Wagen gefangen ist.
»Sie drehte den Schlüssel um«, fährt Bradwell fort. »Ein paar Sekunden lang hörte ich den Motor stottern. Als sie nicht rauskam, ging ich rein. Ich sah das Blut und das wächserne blaue Gesicht meines Onkels, und meine Tante zusammengerollt in einer Ecke der Garage. Ich nahm die Wasserflaschen und steckte Bargeld in einen Beutel, den ich mir an den Bauch klebte. Dann ging ich zurück nach Hause, zu meinem Elternhaus, das bis auf das Fundament heruntergebrannt war. Ich fand die Truhe, die in einem geschützten Raum versteckt gewesen war. Ich schleifte die Truhe mit in die dunkle Welt und lernte zu überleben.«
Seine dunklen Augen huschen über die Menge. »Jeder von uns hat eine Geschichte«, sagt er. »Sie haben uns das angetan. Es gab keinen Angreifer von außen. Sie wollten eine Apokalypse. Sie wollten das Ende. Und sie ließen es geschehen. Alles war genau geplant – wer reinkam, wer nicht. Es gab eine Liste. Wir standen nicht drauf. Wir wurden zum Sterben zurückgelassen. Sie wollen uns vernichten, die Vergangenheit, und das dürfen wir nicht zulassen!«
Das ist alles. Er ist fertig. Niemand klatscht. Er dreht sich einfach um und löst das Schloss der Truhe.
Schweigend bilden sie eine Reihe, und einer nach dem anderen tritt ehrfürchtig vor und wirft einen Blick hinein. Einige nehmen Papiere heraus, manche farbig, andere schwarz-weiß. Pressia kann nicht erkennen, was es für Papiere sind. Sie will wissen, was in der Truhe ist, doch das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sie muss hier raus. Sie sieht Gorse mit anderen Leuten in einer Ecke reden. Sie freut sich, dass er lebt, aber sie will nicht wissen, was mit Fandra passiert ist. Sie muss hier raus. Sie geht zu der klapprigen Leiter und zieht daran. Die Leiter entfaltet sich von der Decke. Pressia steigt die ersten Stufen nach oben, dann ist Bradwell unten am Fuß. »Du bist nicht wegen der Versammlung hergekommen, stimmt’s?«
»Doch, natürlich.«
»Du hattest keine Ahnung, um was es geht.«
»Ich muss los«, sagt Pressia. »Es ist später, als ich dachte. Ich habe versprochen …«
»Wenn du von der Versammlung wusstest – was ist in der Truhe?«
»Papiere«, sagt sie. »Du weißt schon.«
Er zupft an dem ausgefransten Saum ihrer Hose. »Komm und wirf einen Blick hinein.«
Sie sieht nach oben zur Falltür.
»Die verriegelt sich automatisch, sobald sie ins Schloss fällt«, sagt Bradwell. »Du musst warten, bis Halpern sie wieder aufmacht, ob du willst oder nicht. Er hat den einzigen Schlüssel.« Er streckt die Hand aus, bietet ihr seine Hilfe an, doch sie ignoriert die Geste und steigt allein die Stufen hinunter.
»Ich hab nicht viel Zeit«, sagt sie.
»Das ist schon okay.«
Die Leute stehen nicht mehr Schlange vor der Truhe. Sie stehen in kleinen Gruppen herum, halten Papiere in den Händen und reden leise. Gorse ist irgendwo mitten unter ihnen. Er sieht Pressia an. Sie nickt ihm zu, und er nickt zurück. Sie muss mit ihm reden. Er steht neben der Truhe. Sie will sehen, was drin ist. Sie geht zu ihm hin.
»Hey, Pressia«, sagt er.
Bradwell ist dicht hinter ihr. »Ihr kennt euch?«, fragt er.
»Von früher«, sagt Gorse.
»Du bist verschwunden, und du bist noch am Leben«, sagt Pressia. Sie kann ihr Staunen nicht verbergen.
»Pressia, erzähl niemandem von mir, okay? Niemandem!«
»Versprochen«, sagt sie. »Was ist mit …«
Er schneidet ihr das Wort ab. »Nein«, sagt er, und sie begreift, dass Fandra nicht überlebt hat. Sie hat von Anfang an geglaubt, dass Fandra tot ist, seit dem Tag, an dem die beiden verschwunden sind, doch ihr war nicht klar, wie groß ihre Hoffnung geworden ist, seit sie Gorse gesehen hat. Ihre Hoffnung, dass Fandra vielleicht noch am Leben ist, dass sie sich wiedersehen würden.
»Es tut mir leid«, sagt sie.
Er schüttelt den Kopf und wechselt das Thema. »Die Truhe«, sagt er. »Na los, sieh rein.«
Sie tritt zur Truhe. Zu beiden Seiten von ihr sind Leute, Schulter an Schulter. Sie ist aufgewühlt. Sie späht hinein. Die Truhe ist voll mit Ordnern, ascheverschmierten Ordnern. Einer trägt die Aufschrift KARTEN. Ein weiterer MANUSKRIPT. Der oberste Ordner ist geöffnet, und darin sind Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften. Pressia greift nicht hinein. Sie kann sie nicht berühren, nicht jetzt gleich, im ersten Moment. Sie kniet nieder und hält sich am Rand der Truhe fest. Sie sieht Bilder, Fotos von Menschen, die so unglaublich glücklich darüber sind, Gewicht verloren zu haben, dass sie Maßbänder um ihre Taillen geschlungen haben. Fotos von Hunden mit Sonnenbrillen und Partyhütchen. Wagen mit riesigen roten Schildern auf dem Dach. Lachende Hummeln, Geld-zurück-Garantien, kleine Samtschachteln mit Schmuck darin. Die Bilder sind sehr abgegriffen. Einige haben Brandlöcher, schwarze Ränder. Andere sind grau und unter der Ascheschicht kaum noch zu erkennen. Trotzdem, alle sind wunderschön. So war es im Davor, denkt Pressia. Nicht all das, was Bradwell ihnen eben erzählt hat. Sondern das hier. Was diese Bilder zeigen. Das ist der Beweis. Sie sind real.
Sie greift in die Truhe und berührt ein Bild. Ein Bild von Menschen mit farbigen Brillen in einem Filmtheater. Sie starren auf die Leinwand, lachen und essen aus kleinen bunten Papptüten.
»Das nannte sich 3-D«, erklärt Bradwell. »Sie haben sich die Filme mit diesen Brillen angesehen, und die Welt sprang aus der flachen Leinwand, als wäre sie echt.« Er nimmt das Foto aus der Kiste und reicht es ihr.
Sie nimmt es, und ihre Hand fängt an zu zittern. »Ich erinnere mich nicht an diese ganzen Einzelheiten«, sagt sie. »Es ist faszinierend.« Sie sieht ihn an. »Warum erzählst du all das andere Zeug, wenn du diese Bilder hier hast. Ich meine, sieh sie dir doch an!«
»Weil das, was ich erzählt habe, die Wahrheit ist. Die Schattengeschichte. Diese Bilder … das ist nicht die Wahrheit.«
Pressia schüttelt den Kopf. »Du kannst erzählen, was du willst. Ich weiß, wie es war. Ich habe alles im Kopf. Es war mehr wie die Bilder hier. Ich bin mir ganz sicher.«
Bradwell lacht auf.
»Lach mich nicht aus!«
»Ich kenne deine Sorte«, sagt er.
»Was?«, fragt Pressia entrüstet. »Du weißt überhaupt nichts von mir!«
»Du gehörst zu denen, die am liebsten alles wieder so hätten, wie es war. Aber so geht das nicht. Du kannst die Vergangenheit nicht verklären. Wahrscheinlich gefällt dir sogar die Vorstellung vom Leben im Schutz des Kapitols. Süß und kuschlig und komfortabel.«
Es fühlt sich an, als beschimpfe er sie. »Ich verkläre keine Vergangenheit. Du bist doch hier der Geschichtslehrer.«
»Ich blicke nur zurück, damit wir nicht die gleichen Fehler noch mal machen.«
»Als bekämen wir jemals diesen Luxus!«, entgegnet sie. »Oder ist es das, was du mit deinen kleinen Lehrstunden planst? Willst du die OSR infiltrieren, das Kapitol stürzen?« Sie drückt ihm das Blatt auf die Brust und geht zu Halpern. »Mach die Tür auf«, verlangt sie.
Halpern starrt sie an. »Was? Ist sie abgeschlossen?«
Sie dreht sich zu Bradwell um. »Hältst du das etwa für lustig?«
»Ich wollte nicht, dass du gehst«, antwortet Bradwell. »Ist das so schlimm?«
Sie macht ein paar schnelle Schritte zur Leiter, Bradwell folgt ihr.
»Hier, nimm das«, sagt er und hält ihr ein klein zusammengefaltetes Blatt Papier hin.
»Was ist das?«
»Bist du schon sechzehn?«
»Noch nicht.«
»Da findest du mich«, sagt er. »Nimm es. Du könntest es brauchen.«
»Wozu? Für den Fall, dass ich noch ein paar Nachhilfestunden brauche?«, entgegnet sie. »Und wo ist überhaupt das Essen?«
»Halpern!«, ruft Bradwell. »Wo bleibt das Essen?«
»Vergiss es«, sagt Pressia. Sie zieht die Leiter herunter.
Als sie den Fuß auf die erste Stufe setzt, reicht er nach oben und schiebt ihr das zusammengefaltete Stück Papier in die Tasche. »Es kann nicht schaden.«
»Weißt du was? Ich kenne auch deine Sorte«, sagt sie.
»Was für eine Sorte?«
Sie weiß nicht, was sie erwidern soll. Sie ist noch nie jemandem wie ihm begegnet. Die Vögel in seinem Rücken scheinen ruhelos. Ihre Flügel flattern unablässig unter dem Stoff seines Hemds. Seine Augen sind grüblerisch, durchdringend. »Du bist ein schlauer Kerl«, sagt sie. »Das findest du schon selbst raus.«
Während sie die Leiter hochklettert, sagt er: »Du hast gerade was Nettes zu mir gesagt, ist dir das eigentlich klar? Das war ein Kompliment. Du schmeichelst mir, hab ich recht?«
Das macht sie nur noch wütender. »Ich hoffe, dass ich dich nie wiedersehe!«, zischt sie. »Ist das geschmeichelt genug für dich?« Sie klettert hoch genug, um der Falltür einen Stoß zu versetzen. Die Tür fliegt auf und kracht gegen das Holz. Alle im Raum unten halten inne und starren zu ihr nach oben.
Aus irgendeinem unerklärlichen Grund erwartet sie, einen Raum vorzufinden mit einem blumenbestickten Sofa, hellen Fenstern, windgeblähten Vorhängen. Darin eine Familie mit Gürteln aus Maßbändern beim Essen eines fetten Truthahns, ein grinsender Hund mit Sonnenbrille und draußen auf der Straße einen Wagen mit einer Reklametafel auf dem Dach – und vielleicht sogar Fandra, lebendig und gesund, die sich ihr feines goldenes Haar kämmt.
Sie weiß, dass sie die Bilder niemals vergessen wird. Sie haben sich für alle Ewigkeit in ihr Hirn eingebrannt, genau wie Bradwell mit seinem wirren Haar, seiner Narbe und alldem, was aus seinem Mund kam. Sie soll ihm geschmeichelt haben? Bildet er sich das allen Ernstes ein?
Und selbst wenn – spielt es eine Rolle, nachdem sie erfahren hat, dass die Explosionen Absicht waren und dass man die Menschen draußen zum Sterben zurückgelassen hat?
Es gibt kein Sofa, keine Vorhänge, keine Familie, keinen Hund, kein Auto, keine Reklametafel.
Es gibt nur den Raum mit den verstaubten Paletten und der verbarrikadierten Tür.