LYDA
Streifen
Von ihrem Zimmer aus kann Lyda die Gesichter der anderen Mädchen sehen, wenn sie aus den kleinen rechteckigen Fenstern spähen, die oben in die linke Ecke ihrer Türen eingelassen sind. Sie ist am längsten von allen hier. Die anderen Gesichter in diesem Flügel bleiben einen Tag, dann verschwinden sie wieder – wohin? Lyda weiß es nicht. Relokation nennen die Wärter es. Wenn sie Lyda ihr Essen auf den unterteilten Tabletts bringen, reden sie über ihre Relokation. Sie wundern sich, warum es so lange dauert. Sie machen schon fast Witze darüber. »Warum bist du so lange hier?«, wollen sie wissen. Es ist ihnen ein Rätsel, aber sie dürfen keine Fragen stellen. Einige wissen von Lydas Verbindung zu Partridge. Manche senken sogar die Stimme und stellen Fragen über ihn. »Was wollte er mit dem Messer?«, erkundigt sich einer verschwörerisch.
»Was für ein Messer?«, fragt sie zurück.
Die Gesichter der Mädchen schweben scheinbar körperlos in den rechteckigen Fenstern der anderen Zellen. An ihnen kann man die Tage zählen. Ein neues Mädchen kommt. Dann wieder eines, das ihren Platz einnimmt. Manchmal gehen sie zur Therapie, dann kommen sie zurück. Manchmal aber auch nicht. Ihre Köpfe sind rasiert und glänzen. Die Augen und Nasen sind rau und gerötet vom Weinen. Sie gucken Lyda an und sehen etwas anderes. Jemanden, der nicht verloren ist, sondern stecken geblieben. Sie starren sie flehentlich an. Einige der Mädchen versuchen mithilfe von Gesten Fragen zu stellen, doch es ist beinahe unmöglich zu antworten. Wärter beaufsichtigen die Gänge und schlagen mit kleinen Knüppeln gegen die Türen. Die Mädchen verschwinden, bevor sich überhaupt eine Unterhaltung in Gestensprache entwickeln kann.
Heute ist irgendwas anders. Eine der Wärterinnen kommt herein, obwohl es nicht Mittagszeit ist. Sie schließt die Tür auf und sagt: »Du gehst zur Ergo.«
»Ergo?«, fragt Lyda.
»Ergotherapie. Du wirst eine Sitzmatte weben.«
»Okay«, sagt Lyda. »Brauche ich eine Sitzmatte hier drin?«
»Braucht irgendjemand eine Sitzmatte?«, fragt die Wärterin, dann lächelt sie. »Es ist ein gutes Zeichen«, flüstert sie Lyda zu. »Offensichtlich erbarmt sich allmählich jemand.«
Lyda fragt sich, ob ihre Mutter ein paar Fäden gezogen hat. Ist das der Anfang einer echten Wiedereingliederung? Bedeutet das, jemand glaubt, dass sie geheilt werden könnte, auch wenn sie nie krank war?
Der Gang ist wie in eine andere Welt. Sie nimmt die Fliesen auf, den sauberen Fugenmörtel, das Rascheln der Uniform der Wärterin vor ihr, die hüpfende Elektroschockpistole an ihrer Hüfte, die Hausmeisterkammer mit der großen Poliermaschine, deren Stecker gezogen ist.
Ein Gesicht erscheint hinter einem der rechteckigen Fenster, ein Mädchen, dessen Augen weit sind vor Angst, dann ein weiteres, leer und ausdruckslos. Lyda ordnet sie ein – die Erste hat noch keine Medikamente bekommen, die Zweite hingegen schon. Lyda nimmt ihre Medikamente nicht mehr. Sie tut nur so. Sie spuckt sie aus, wenn die Wärterin gegangen ist, und zermahlt sie zu Staub.
Die Wärterin kontrolliert ihr Klemmbrett und bleibt stehen, um eine weitere Tür nicht weit von Lydas Zimmer zu öffnen. Dahinter wartet ein neues Mädchen, ein Gesicht, das Lyda noch nicht gesehen hat. Es hat breite Hüften und eine schmale Taille. Der Kopf ist frisch rasiert. Die Schnitte sind noch frisch. An den Augenbrauen des Mädchens kann Lyda erkennen, dass sie rothaarig ist.
»Hoch mit dir!«, brüllt die Wärterin die Rothaarige an. »Los, Bewegung!«
Das Mädchen sieht zu Lyda und der Wärterin. Dann nimmt es das weiße Kopftuch aus dem Schoß, wickelt es sich um den Kopf und folgt ihnen.
Sie werden in einen Raum mit drei langen Tischen und Bänken geführt. Jetzt sieht Lyda zum ersten Mal andere Mädchen, ganze Körper, nicht nur Gesichter, was sie überrascht. Es ist, als hätte sie vergessen, dass die Gesichter Körper haben. Ein paar der Gesichter von den Fenstern in den vergangenen Tagen erkennt sie wieder. Auch sie tragen Kopftücher wie Lyda. Außerdem identische weiße Overalls. Warum weiß?, fragt sich Lyda. Das wird so schnell schmutzig. Und dann überlegt sie, dass dieser Gedanke wohl nicht mehr relevant ist – Angst vor Flecken gehört in ihr altes Leben. Dieses Leben existiert hier nicht. Es kann nicht. Nicht angesichts der Angst vor lebenslangem Eingesperrtsein.
Die Mädchen weben Sitzmatten, genau wie die Wärterin es gesagt hat. Sie haben Plastikstreifen in verschiedenen Farben, die sie miteinander verflechten und zu karierten Mustern verarbeiten – wie Kinder in einem Ferienlager.
Die Wärterin befiehlt Lyda und der Rothaarigen, sich zu den anderen zu setzen. Lyda setzt sich auf der einen Seite eines langen Tisches neben eines der Mädchen, die Rothaarige nimmt ihr gegenüber Platz. Sie fängt sofort an, Streifen aufzusammeln – ausschließlich rote und weiße – und zu flechten, den Kopf konzentriert über die Arbeit gesenkt.
Das Mädchen neben Lyda blickt kurz auf, mustert sie aus großen dunklen Augen und wendet sich dann wieder ihrer Flechterei zu. Lyda kennt sie nicht. Die ganze Reihe entlang scheinen die Mädchen jetzt eines nach dem anderen den Kopf zu heben, sie kurz zu mustern und dann ihre Nachbarin anzustoßen, die als Nächste gafft. Es ist wie eine Kettenreaktion.
Lyda ist berühmt – allerdings wissen die Mädchen mehr über den Grund ihrer Berühmtheit als sie selbst.
Die Wärterinnen haben sich in eine Ecke zurückgezogen. Sie lehnen sich an die Wand und unterhalten sich leise.
Lyda beobachtet sie verstohlen und sammelt eine Handvoll Plastikstreifen auf. Ihre Finger zucken nervös. Für eine Weile ist alles still, bis das Mädchen neben Lyda flüstert: »Du bist immer noch hier.«
Meint sie die Anstalt oder den Gemeinschaftsraum? Lyda antwortet nicht. Warum sollte sie? Natürlich ist sie noch hier – was für eine Frage.
»Alle denken, sie hätten dich inzwischen längst ausgenommen.«
»Ausgenommen?«
»Dich gezwungen, Informationen preiszugeben.«
»Ich habe keine Informationen.«
Das Mädchen starrt sie ungläubig an.
»Wissen sie, wo er hingegangen ist?«, fragt Lyda. »Was passiert ist?«
»Das solltest du besser wissen als wir.«
»Ich weiß aber nichts.«
Das Mädchen lacht.
Lyda beschließt, ihr Lachen zu ignorieren. Die Rothaarige hat angefangen vor sich hin zu summen, während sie arbeitet, ein Kinderlied, das Lydas Mutter ihrer Tochter immer vorgesungen hat: Morgen kommt der Weihnachtsmann … Es ist ein furchtbares Lied, eines von der Sorte, die sich im Kopf einnistet und einen verfolgt und nicht mehr loslässt, ganz besonders, wenn man in Einzelhaft sitzt. Es kann einen in den Wahnsinn treiben. Die Rothaarige hat den Ohrwurm schon. Hoffentlich kriegt sie ihn nicht auch noch. Die Rothaarige unterbricht kurz ihr Summen und sieht Lyda an, als wollte sie ihr was erzählen, traut sich aber dann doch nicht. Sie summt weiter.
Lyda hasst die Rothaarige inzwischen ein bisschen. Sie dreht sich wieder zu dem Mädchen mit den dunklen Augen, das laut gelacht hat. »Was ist so lustig?«, fragt sie.
»Du weißt es wirklich nicht, oder?«
Lyda schüttelt den Kopf.
»Sie sagen, er ist rausgegangen.«
»Wohin raus?«
»Raus aus dem Kapitol.«
Sie flicht weiter. Nach draußen? Warum sollte er nach draußen gegangen sein? Warum sollte irgendjemand nach draußen gehen? Die Überlebenden da draußen sind bösartig und geisteskrank. Sie sind verformt, gewalttätig, kaum noch menschlich. Sie hat Hunderte gruseliger Geschichten über die Frauen gehört, die überlebt haben – die wenigen, die einen Teil ihrer Menschlichkeit behalten haben, nur um anschließend vergewaltigt oder bei lebendigem Leib gefressen zu werden. Was werden diese Leute mit Partridge machen? Ihn ausweiden, kochen, aufessen?
Sie kann kaum atmen. Sie starrt auf die Gesichter der anderen Mädchen, die angestrengt ihre Matten flechten. Ein Mädchen hebt den Kopf und sieht sie an. Sie ist blass und lächelt verträumt. Lyda fragt sich, ob sie Medikamente nimmt, die sie zum Lächeln bringen. Warum sonst sollte irgendjemand hier drin lächeln?
Die Rothaarige summt unablässig vor sich hin, während sie an ihrer Sitzmatte arbeitet, und starrt dabei Lyda an, als suchte sie ihre Aufmerksamkeit oder möglicherweise sogar ihre Billigung. Es ist eine einfache weiße Sitzmatte mit einem roten Streifen in der Mitte. Die Rothaarige starrt Lyda forschend an, als wollte sie sagen: Siehst du? Siehst du, was ich gemacht habe?
Das Mädchen neben Lyda, mit den dunkelbraunen Augen, flüstert ihr in diesem Moment zu: »Er ist wahrscheinlich längst tot. Wie könnte auch jemand da draußen überleben? Er war schließlich nur ein Schüler der Akademie. Mein Freund sagt, er wäre nicht mal mit den Codierungen fertig gewesen.«
Partridge. Es ist ein Gefühl, als hätte er die Welt verlassen. Aber tot? Sie ist immer noch überzeugt, dass sie spüren würde, wenn er tot wäre. Sie würde sich innerlich tot fühlen. Das tut sie nicht. Sie denkt stattdessen daran, wie er ihre Taille umschlungen hat, als sie getanzt haben, und an den Kuss, und in ihrem Magen tanzen schon wieder Schmetterlinge wie jedes Mal, wenn sie an ihn denkt. Es wäre anders, wenn er tot wäre. Sie würde Trauer spüren, Angst. Stattdessen spürt sie Hoffnung. »Er kann es schaffen«, flüstert sie. »Er kann überleben.«
Das Mädchen lacht erneut.
»Halt die Klappe!«, zischt Lyda böse, dann dreht sie sich zu der Rothaarigen und faucht diese ebenfalls an. »Halt die Klappe, du auch!«
Die Rothaarige verstummt.
Die anderen Mädchen blicken auf.
Die Wärterinnen sehen zum Tisch. »Weitermachen, Mädchen!«, befiehlt eine von ihnen. »Los, das tut euch gut! Weitermachen!«
Lyda starrt auf die bunten Streifen, bis sie undeutlich werden und vor ihren Augen verschwimmen. Sie fängt an zu weinen, doch sie wischt die Tränen verstohlen ab. Sie will nicht, dass es irgendjemand sieht. Weitermachen!, sagt sie sich. Weitermachen!