PARTRIDGE

Ticker

Silas Hastings, Partridges Zimmergenosse, stellt sich vor den Spiegel auf der Rückseite des Kleiderschranks und bespritzt die Wangen mit Aftershave. »Und lern bitte nicht wieder bis kurz vorher, klar? Das ist ein Ball, Mann!«

Hastings ist ein geradliniger Typ. Er ist knochig und viel zu groß, deshalb besteht er eigentlich nur aus Armen und Beinen und wirkt immer seltsam kantig. Partridge mag ihn. Er ist ein guter Mitbewohner – einigermaßen ordentlich und fleißig, auch wenn er dazu neigt, vieles persönlich zu nehmen. Außerdem ist er manchmal eine Nervensäge.

Die Stimmung ist angespannt, weil Partridge ihm in letzter Zeit aus dem Weg gegangen ist mit der Begründung, er müsse mehr lernen, weil sein Vater Druck macht. In Wirklichkeit versucht er, Zeit für sich allein herauszuschinden, wenn Hastings ein paar Körbe werfen geht oder sich in der Lounge herumtreibt – Dinge, die Partridge normalerweise mit ihm zusammen gemacht hat –, um ungestört die Konstruktionszeichnungen auf dem Foto studieren zu können. Dem Foto, das im Büro seines Vaters aufgenommen wurde und das er ihm geschickt hat. Manchmal zieht er dabei die Spieluhr auf und lässt sie laufen. Es ist die Melodie eines Liedes, das seine Mutter immer gesungen hat. Das Lied über die Schwanenfrau, das sie ihm auf der Reise zum Meer beigebracht hat. Kann das Zufall sein? Er hat das Gefühl, dass es mehr bedeuten muss. Er hofft, noch ein paar Minuten Zeit zu finden, um dem Lied zu lauschen und die Konstruktionszeichnungen zu studieren, nachdem Hastings gegangen ist und alle anderen schon auf dem Ball sind.

Im Augenblick verfolgt er eine reine Verzögerungstaktik. Er ist immer noch in ein Handtuch gewickelt, die Haare nass vom Duschen. Er hat seine Kleidung zurechtgelegt. Partridge hat das Bild von sich und seinem Vater so stark vergrößert, dass er sämtliche Details erkennen kann. Er hat ein Luftreinigungssystem gefunden, Ventilatoren, die im Abstand von sechs Metern in Tunnel eingelassen sind. Wenn zur Nachtruhe die Beleuchtung abgeschaltet wird, benutzt er den kleinen Stift mit der LED am Ende, den sein Vater ihm zum Geburtstag geschenkt hat, um die Zeichnungen zu beleuchten. Er hat sich also doch noch als praktisch erwiesen.

Er lässt Hastings auch deswegen abblitzen, weil sein Vater seine Drohungen wahr gemacht hat. Er musste unzählige Tests über sich ergehen lassen, ganze Serien, genau wie sein Vater es angekündigt hat. Partridge fühlt sich wie ein Nadelkissen. Er versteht jetzt auch, was das bedeutet. Er fühlt sich durchbohrt. Sein Blut, seine Zellen, seine DNS. Sein Vater hat sogar einen Organtest angesetzt, für den Partridge eine Narkose brauchen wird – eine weitere Nadel in seinem Arm, verbunden mit einem Schlauch zu einem Beutel mit klarer Flüssigkeit, die ihn einschlafen lässt.

»Ich komme nach, keine Sorge«, sagt Partridge. »Geh schon mal vor.«

»Hast du mal einen Blick nach draußen auf den Gemeinschaftshof geworfen?«, fragt Hastings. Er lehnt an dem Fenster, von dem aus man den Rasen überblicken kann, der das Wohnheim der Mädchen von dem der Jungen trennt. »Weed schickt einem Mädchen mit seinem Laserstift Botschaften. Soll man das für möglich halten? Stell dir das vor, dieser Depp verabredet sich mit einer Deppin per Laserstift!«

Partridge wirft einen Blick nach draußen. Er sieht den kleinen roten Punkt, der sich über das Gras bewegt. Er blickt hinauf zu den erleuchteten Fenstern des Mädchenwohnheims. Irgendjemand dort drüben weiß, was diese Botschaft bedeutet. Es ist schon erstaunlich, wie erfindungsreich sie sein müssen, um mit den Mädchen zu sprechen.

»Ich schätze, jeder braucht eine Perspektive«, sagt Partridge. Hastings hat keine Chance bei Mädchen, deswegen ist er definitiv nicht in der Position, ein Urteil über Weed zu fällen, und das weiß er auch.

»Ehrlich«, sagt Hastings. »Es bricht mir das Herz, dass du nicht mal mit mir runter zum Ball gehen kannst, mir, deinem compadre. Du bringst mich um, Stück für Stück.«

»Was?«, fragt Partridge und versucht, sich dumm zu stellen.

»Warum sagst du nicht einfach die Wahrheit, he?«

»Was für eine Wahrheit?«

»Du schiebst mich ab, weil du mich hasst. Sag es nur. Ich nehme es nicht persönlich.« Hastings ist bekannt dafür, dass er behauptet, persönliche Beleidigungen nicht persönlich zu nehmen, und trotzdem tut er es jedes Mal.

Partridge beschließt, ihm ein kleines Häppchen Wahrheit hinzuwerfen, um ihn zufriedenzustellen, fürs Erste. »Hör mal, ich hab eine Menge um die Ohren. Mein Dad hat eine Spezialsitzung in der Mumienform anberaumt. Unter Narkose.«

Hastings wird ein wenig blass. Er hält sich an der Rücklehne seines Stuhls fest.

»Hey, ich muss in das Ding, nicht du«, sagt Partridge. »Nimm’s nicht so schwer.«

»Nein, nein.« Er schüttelt die Haare mit einer Kopfbewegung aus der Stirn – eine nervöse Angewohnheit. »Es ist nur … du weißt schon. Ich hab Sachen gehört über diese Spezialsitzungen. Einige von den Jungs sagen, dass sie dich da verwanzen.«

»Ich weiß«, sagt Partridge. »Sie können einem Linsen in die Augen und Aufzeichnungsgeräte in die Ohren einsetzen, und dann ist man ein wandelnder und sprechender Spion, ohne es zu wissen.«

»Es geht hier nicht um ein paar dämliche Wanzen, damit irgendwelche wichtigen Eltern immer wissen, was ihr Kind gerade macht. Es geht um Hightech. Was du siehst und hörst wird hochauflösend auf Bildschirme übertragen.«

»Das wird nicht passieren, Hastings. Niemand wird aus Willux’ Sohn einen Spion machen.«

»Was, wenn sie noch was Schlimmeres mit dir anstellen?«, entgegnet Hastings. »Was, wenn sie dir einen Ticker einpflanzen?« Ein Ticker ist angeblich eine winzige Bombe, die jedem in den Kopf eingepflanzt werden kann. Sie ist ferngesteuert. Wenn du plötzlich zu einem Risiko wirst, das deinen Wert übersteigt, legen sie einen Schalter um. Partridge glaubt nicht an diese Gerüchte.

»Es ist nur ein Märchen, Hastings. Es gibt keine Ticker.«

»Und was wollen sie dann von dir?«

»Biologische Infos, weiter nichts.«

»Dafür braucht man keine Narkose. DNS, Blut, Pisse – was wollen sie mehr?«

Partridge weiß sehr genau, was sie wollen. Sie wollen seinen Verhaltenscode ändern, und aus irgendeinem Grund gelingt es ihnen nicht. Es hat mit seiner Mutter zu tun. Er hat Hastings schon mehr anvertraut, als er vorhatte. Er darf niemandem erzählen, dass er abhauen will. Er weiß, wie er aus dem Kapitol rauskommt. Er hat recherchiert, alles berechnet. Er wird durch das Luftreinigungssystem entkommen. Er braucht nur noch ein weiteres Hilfsmittel dazu, ein Messer, und das wird er sich heute Nacht besorgen. »Kein Grund zur Panik, Hastings«, sagt er. »Mir passiert schon nichts. So ist es doch immer, stimmt’s?«

»Lass dir nur keinen Ticker einsetzen, Mann. Um Himmels willen, keinen Ticker.«

»Hey, du bist doch schon fertig angezogen, Hastings. Hör auf, dir Sorgen zu machen. Geh und amüsier dich, okay? Wie du selbst gesagt hast – es ist ein Ball, Mann!«

»Okay, okay.« Hastings wendet sich ab und stakst auf seinen langen Beinen zur Tür. »Lass mich nur nicht ewig da unten warten, okay?«

»Wenn du mir nicht ständig auf den Wecker gehen würdest, wäre ich bestimmt schneller fertig.«

Hastings winkt zum Gruß und schließt hinter sich die Tür.

Partridge lässt sich schwer auf seine Matratze sinken. Hastings, so ein Idiot, sagt er zu sich selbst, doch es hilft nicht. Hastings hat ihm Angst eingejagt mit seinem Gerede von einem Ticker. Warum sollten Funktionäre ihre eigenen Soldaten eliminieren wollen? Er hätte Hastings sagen sollen, dass er sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern und auf sich selbst aufpassen soll. Hastings’ Verhaltenscode wurde wahrscheinlich schon verändert. Vielleicht ist das sogar einer der Gründe, warum er nicht zu spät zu diesem Ball kommen will. Pünktlichkeit ist eine der höchsten Tugenden im Kapitol.

Partridge kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es wäre, sich plötzlich anders zu benehmen, selbst bei den kleinsten Sachen. »Es ist wie Erwachsenwerden. Du wirst reifer, das ist alles.« Das zumindest denken Eltern, wenn sie von Verhaltenscodierung reden. Für Jungs zumindest. Mädchen kriegen keine Codierung – es hat irgendwas mit ihren empfindlichen Fortplanzungsorganen zu tun –, es sei denn, sie sind nicht zur Reproduktion zugelassen. Wenn sie sich nicht fortpflanzen dürfen, werden auch bei ihnen die Verbesserungen vorgenommen. Partridge will sich nicht verändern, überhaupt nicht. Er will wissen, dass das, was er tut, von ihm selbst kommt – auch wenn es falsch ist. Wie dem auch sei, er muss hier raus, bevor sie einen Weg finden, seine Verhaltenscodierung zu manipulieren, sonst wird er es niemals tun. Er würde sich selbst davon abhalten. Vielleicht hätte er nicht mal mehr das Verlangen, abzuhauen. Was erwartet ihn wohl dort draußen? Er weiß nur, dass es ein Land voller Unglückseliger ist, die meisten von ihnen zu dumm oder zu starrköpfig, um sich in den Schutz des Kapitols zu begeben. Oder sie waren krank im Kopf, geradezu kriminell irre, virenverseucht und längst eingewiesen. Es war schlimm damals, die Gesellschaft war krank. Die Welt hat sich für immer verändert. Heute sind die meisten überlebenden Unglückseligen Scheußlichkeiten. Deformiert bis zur Unkenntlichkeit, Perversionen ihrer früheren Lebensform. Sie haben Bilder gesehen im Unterricht, Standbilder aus aschevernebelten Videos. Wird er imstande sein, dort draußen in der tödlichen Umwelt zu überleben, mitten unter den gewalttätigen Unglückseligen? Gut möglich, dass niemand ihn suchen geht, wenn er erst draußen ist. Niemand darf das Kapitol verlassen, ganz egal aus welchem Grund – nicht einmal zur Erkundung. Ist das Selbstmord?

Zu spät. Er hat seine Entscheidung gefällt. Er kann sich keine Ablenkungen leisten, nicht jetzt. Er hört das Ventilationssystem mit einem leisen Klick anlaufen und kontrolliert seine Uhr. Er steht auf und steigt die kurze Leiter zu seiner Koje hinauf. Er zieht ein kleines, zwischen Matratze und Geländer verstecktes Notizbuch hervor. Er klappt es auf, notiert die Zeit, schließt es wieder und legt es zurück an seinen Platz.

Wo immer er sich aufhält, ob er in seiner Mumienform liegt und bestrahlt wird oder ob er darauf wartet, dass ihm eine weitere Probe entnommen wird, ob im Unterricht oder nachts in seinem Zimmer, er studiert das feste Muster der summenden Filtrationsanlage, das dumpfe Surren, das in regelmäßigen Abständen durch das ganze Gebäude hallt. Er schreibt die Zeiten in sein Notizbuch, das eigentlich dazu gedacht ist, seine Codierungssitzungen und Untersuchungen festzuhalten.

Vorher hat er die Geräusche kaum beachtet, doch jetzt, nachdem er angefangen hat, kann er manchmal schon das leise Klicken vorausahnen, unmittelbar bevor die Motoren anspringen. Er weiß, auf welchem Weg die verbrauchte Luft aus dem Kapitol geleitet wird und dass die Ventilatorblätter in bestimmten Intervallen für drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden abgeschaltet werden.

Er will nach draußen, weil seine Mutter vielleicht noch lebt. »Deine Mutter ist schon immer problematisch gewesen«, hat sein Vater gesagt. Und seitdem Partridge die persönlichen Sachen seiner Mutter aus dem Archiv gestohlen hat, fühlt sie sich womöglich noch realer an als vorher. Wenn es eine Chance gibt, dass sie irgendwo da draußen ist, dann muss er versuchen, sie zu finden. Er muss einfach.

Rasch zieht er sich an, schlüpft in Hemd und Hose, wirft die Krawatte um und bindet sie. Seine Haare sind so kurz, dass er auf das Kämmen verzichten kann.

Es gibt nur eine Sache, auf die er sich konzentrieren muss: Lyda Mertz.