PRESSIA
Kolben
Partridge ist der Erste, der einschläft. Er legt sich auf den Rücken, die verletzte Hand auf der Brust. Pressia liegt auf der anderen Palette und Bradwell auf dem Boden. Er hat darauf bestanden, doch jetzt hört Pressia, wie er sich herumwälzt und versucht, es sich bequem zu machen.
»Das reicht jetzt«, sagt sie. »Ich kann nicht schlafen, wenn du dich ständig hin- und herwälzt. Ich mache dir Platz.«
»Nein danke. Es geht schon.«
»Oh, damit du dich hinterher als Märtyrer hinstellen kannst, oder wie? Ist es das?«
»Ich habe nicht nach dir gesucht, weil ich deinem Großvater etwas schuldig war. Das habe ich dir schon mal gesagt, aber du wolltest ja nicht zuhören.«
»Und jetzt höre ich nur, dass du auf dem Boden schlafen willst und ich mich hinterher deswegen schuldig fühlen soll!«
»Also schön«, sagt er. Er steht vom Boden auf und legt sich neben sie auf die Palette.
Sie liegt auf dem Rücken, doch Bradwell kann das nicht, wegen der Vögel. Sie machen ebenfalls Anstalten zu schlafen. Er rollt sich zusammen, Pressia zugewandt, und für einen Moment kann sie sich beinahe vorstellen, dass sie draußen liegen unter einem Himmel voller Sterne in einer klaren Nacht.
Alles ist still. Sie kann nicht schlafen. »Bradwell«, flüstert sie schließlich. »Lass uns Ich-erinnere-mich spielen.«
»Du kennst meine Geschichte. Ich habe sie bei der Versammlung erzählt.«
»Denk an irgendwas anderes. Irgendwas. Rede. Ich möchte eine Stimme hören.« Sie will seine Stimme hören. So wütend er sie auch machen kann, seine Stimme wirkt eigenartig beruhigend. Ihr wird bewusst, dass sie ihn auch deswegen reden hören möchte, weil er immer aufrichtig ist, gleichgültig, ob sie seiner Meinung ist oder nicht, und dass sie auf das vertrauen kann, was er sagt.
Und sie ist völlig überrascht von seinen nächsten Worten. »Nun ja … ich habe dich mal belogen.«
»Hast du?«
»In der Krypta«, sagt er. »Ich habe die Krypta entdeckt, als ich ein kleiner Junge war, kurz bevor ich den Metzgerladen entdeckt habe. Ich schlief tagelang dort, während draußen überall Leute starben. Ich betete zu der Heiligen Wi, und ich überlebte. Also bin ich immer wieder dorthin zurückgekehrt.«
»Du bist einer von denen, die um Hoffnung beten?«, fragt Pressia.
»Ich bin einer von denen.«
»Das ist keine schlimme Lüge«, sagt sie.
»Nein. Keine schlimme.«
»Haben deine Gebete gefruchtet? Hast du wieder Hoffnung?«
Er reibt sich das Kinn. »Wie soll ich das sagen? Seit ich dir begegnet bin, scheint es, als hätte ich mehr Grund zur Hoffnung.«
Sie spürt, wie sie errötet, doch sie ist nicht sicher, was er meint. Sagt er, dass er auf etwas hofft, das mit ihr zu tun hat? Ist es ein Eingeständnis, dass er sie mag, jetzt, nachdem er schon seine Lüge gestanden hat? Oder meint er etwas ganz anderes? Meint er, dass sie ihn dazu gebracht hat, die Welt mit anderen Augen zu sehen?
»Aber das ist nicht, was du wolltest«, sagt er. »Du wolltest eine Erinnerung.«
»Das ist auch okay.«
»Kannst du denn jetzt schlafen?«
»Nein.«
»Also gut. Eine Erinnerung. Muss es eine glückliche Erinnerung sein?«
»Nein«, antwortet sie. »Ich ziehe inzwischen eine wahre Geschichte einer glücklichen vor.«
»Okay.« Er überlegt ein paar Sekunden. »Als meine Tante mir sagte, ich solle aus der Garage verschwinden, da gehorchte ich. Ich packte die tote Katze in die Schachtel. Und dann hörte ich den Anlasser – und einen Schrei. Es klang genauso wie mein Vater, wenn er sich den Knöchel aufgeschrammte oder den Rücken verrenkt hatte. Ich redete mir ein, dass es seine Stimme war. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie mein Vater unter dem Wagen hervorkam mit einem Motor, der als Herz mit seiner Brust verschmolzen war. Wie ein echter Superheld. Ich stellte mir vor, dass er wieder lebendig wurde.« Pressia kann Bradwell vor ihrem geistigen Auge als kleinen Jungen sehen, mit den Vögeln im Rücken, wie er auf dem verbrannten Rasen steht, die tote Katze in der Schachtel zu seinen Füßen. Bradwell schweigt sekundenlang. »Es ist dumm. Ich habe noch nie jemandem diese Geschichte erzählt.«
Pressia schüttelt den Kopf. »Es ist eine wunderschöne Geschichte. Du hast versucht, dir etwas Großartiges vorzustellen, etwas Neues, etwas aus einer anderen Welt. Du warst noch ein kleiner Junge.«
»Vermutlich«, sagt er. »Jetzt erzähl du mir eine Geschichte.«
»Ich erinnere mich nicht an viel aus dem Davor.«
»Es muss keine Geschichte aus dem Davor sein.«
»Also schön«, sagt sie. »Nun, da ist etwas, das ich auch noch nie jemandem anvertraut habe. Mein Großvater weiß es, aber er weiß nicht warum.«
»Was denn?«
»Ich habe versucht, mir den Puppenkopf abzuschneiden. Als ich dreizehn war. Zumindest habe ich das meinem Großvater erzählt. Er hat mich schnell wieder zusammengenäht. Aber er hat mich nie gefragt, warum ich das gemacht habe.«
»Hast du eine Narbe?«
Pressia zeigt ihm die kleine Narbe auf der Innenseite ihres Handgelenks, wo die Puppe in den Arm übergeht. Die Haut dort ist durchzogen von zarten blauen Adern und fühlt sich gummiartig an.
»Hast du versucht, ihn abzutrennen, oder …«
»Oder«, sagt Pressia. »Vielleicht war ich müde. Ich wollte nicht mehr verloren sein. Ich vermisste meinen Vater und meine Mutter und die Vergangenheit – vielleicht auch, weil ich nicht genug Erinnerungen hatte, die mir hätten Gesellschaft leisten können. Ich fühlte mich so allein.«
»Aber du hast es nicht getan.«
»Ich wollte weiterleben. Das fand ich heraus, sobald ich das Blut sah.«
Bradwell richtet sich auf und streicht mit den Fingerspitzen über die Narbe. Er sieht sie an, als wollte er sich ihr Gesicht einprägen, ihre Augen, ihre Wangen, ihre Lippen. Normalerweise hätte sie den Blick abgewendet, doch sie kann nicht. »Die Narbe ist wunderschön«, sagt er.
Ihr Herz rast. Sie zieht die Puppenfaust an ihre Brust. »Wunderschön? Es ist eine Narbe«, sagt sie.
»Ein Zeichen des Überlebens.«
Bradwell ist der einzige Mensch, der so etwas sagen würde. Sie fühlt sich ein bisschen kurzatmig. Sie kann nur flüstern. »Hast du niemals Angst?« Sie meint nicht all das, vor dem sie Angst haben sollten – die Rückkehr in die Deadlands am nächsten Tag, die Dusts, die dort hausen. Sie meint seine Furchtlosigkeit jetzt und hier, seinen Mut, die kleine Narbe wunderschön zu nennen. Hätte sie nicht Angst, würde sie ihm gestehen, dass sie froh ist zu leben, allein, weil sie diesen Augenblick mit ihm teilen kann.
»Ich?«, sagt Bradwell. »Ich habe so viel Schiss, dass ich mich fühle wie mein Onkel unter dem Wagen, mit den Kolben in der Brust. Ich fühle zu viel. Es ist, als würde ich von innen heraus zerstampft. Verstehst du?«
Sie nickt. Für einen Moment schweigen beide. Sie hören Partridge im Schlaf murmeln.
»Also …«, sagt Pressia.
»Also?«
»Also warum hast du nach mir gesucht, wenn nicht wegen meinem Großvater?«
»Du weißt warum.«
»Nein, ich weiß es nicht. Sag du es mir.« Sie sind sich so nah, dass sie die Hitze seines Körpers spürt.
Er schüttelt den Kopf. »Ich habe etwas für dich«, sagt er und greift nach seiner Jacke. »Wir waren bei dir zu Hause. Dein Großvater war nicht mehr da.«
»Ich weiß«, sagt Pressia. »Ich weiß. Er ist im Kapitol.«
»Sie haben ihn?«
»Es ist okay. Er ist in einem Krankenhaus …«
»Trotzdem«, sagt Bradwell. »Ich bin nicht sicher …«
Sie will jetzt nicht über ihren Großvater sprechen. »Was hast du für mich?«, fragt sie.
»Ich habe das hier gefunden.«
Er zieht etwas aus seiner Jacke und legt es ihr auf den Bauch, auf die Stelle, wo ihre Rippen zusammentreffen.
Es ist einer ihrer Schmetterlinge.
»Er brachte mich zum Nachdenken«, sagt er. »Wie kann es etwas so Kleines und Schönes in dieser Welt noch geben?«
Pressia spürt, dass sie noch mehr errötet. Sie nimmt den Schmetterling in die Hand und hält ihn hoch, sodass das Licht durch die zerbrechlich dünnen Flügel schimmert.
»All die Verluste summieren sich«, sagt er. »Du kannst nicht den einen spüren ohne die anderen, die vorher waren. Aber das dort – es fühlt sich an wie ein Gegengift. Ich kann es nicht erklären, aber es ist, als würde sich jemand dagegen wehren.«
»Sie waren reine Zeitverschwendung, wenn du mich fragst. Sie fliegen nicht mal. Man kann sie aufziehen, und sie flattern mit den Flügeln, aber das ist alles.«
»Vielleicht hatten sie bis jetzt nur keinen Ort, zu dem es sich zu fliegen gelohnt hätte.«