PRESSIA

Plündern

Schon von Weitem kann Pressia den Markt riechen. Verdorbenes Fleisch, verdorbener Fisch, verrottete Früchte, Rauch, Verbranntes. Sie sieht die sich bewegenden Schemen der Straßenhändler, und sie erkennt sie an ihrem Husten. Der Husten ist typisch, und er ist ein Maß für das Stadium des Sterbens. Der eine ist kurz und trocken. Ein anderer beginnt und endet mit einem Schnaufen. Ein dritter beginnt und hört überhaupt nicht mehr auf. Einer würgt Schleim hoch. Einer endet in einem Grunzen. Das Grunzen ist der schlimmste Husten von allen, hat der Großvater ihr verraten. Es bedeutet, dass die Lungen bereits voll Wasser sind – Tod durch Infektion, Ertrinken von innen heraus. Großvater rasselt tagsüber, doch nachts, wenn er schläft, gibt er dieses grunzende Geräusch von sich.

Sie hält sich in der Mitte der Gasse. Auf dem Weg zwischen den Hütten hindurch hört sie eine Familie streiten, einen Mann laut husten, Metall gegen eine Wand schlagen, eine Frau kreischen und ein Kind, das anfängt zu weinen.

Als sie den Markt erreicht, sieht sie, dass die Händler bereits zusammenpacken. Sie haben Metallschilder vom Highway hergeschleift und daraus Dächer und Stände gebaut. Sie schließen die Läden mit durchnässten Spanplatten, laden ihre Waren auf klapprige Schubkarren, hüllen die Stände in zerfetzte Planen.

Pressia passiert eine Tuschelgruppe – einen Kreis zusammengekauerter Rücken, leises Murmeln, gelegentlich ein Ausruf, weiteres Flüstern. Sie erhascht Blicke auf Gesichter, gesprenkelt mit Metall, Glas, welligen Narben. Der Arm einer Frau sieht aus wie in Leder eingewachsen, mit einer Manschette am unteren Ende, wo die Hand zum Vorschein kommt.

Sie erblickt eine Gruppe von Kindern, nicht viel jünger als sie selbst. Zwei von ihnen – Zwillinge, beide mit zerschundenen, rostigen Beinen, die unter ihren Röcken hervorlugen – schwingen ein Seil für ein drittes Kind mit einem fehlenden Arm, das zwischen ihnen hüpft. Sie singen dazu:

Verbrenn einen Reinen und atme die Asche,

Nimm seine Därme und mach eine Tasche,

Spinn seine Haare und mach einen Strick,

Und koch seine Knochen zu Seife dick.

Wischi-waschi, wischi-waschi, eins, zwei, drei

Ein Reiner zu sein, ist keine Zauberei.

Reine – so werden die im Kapitol genannt. Die Kinder sind besessen von den Reinen. Sie tauchen in all ihren Kinderliedern auf, meistens tot. Pressia kennt das Lied auswendig. Sie ist selbst dazu im Seil gehüpft, als sie klein war. Sie hat sich diese Seife gewünscht, dumm, wie sie war. Sie fragt sich, ob es diesen Kindern ähnlich geht. Eine Reine zu sein – wie würde es aussehen, sich anfühlen? Die Narben auszuradieren, wieder eine Hand zu haben statt einer Puppe?

Dort sitzt ein kleiner Junge mit Augen, die viel zu weit auseinanderstehen, fast an den Seiten des Kopfes sitzen wie bei einem Pferd. Er hütet ein Feuer in einem Metallfass. Zwei Spieße mit verkohltem Fleisch liegen auf den Rändern. Die Tiere auf den Spießen sind klein, Nagergröße. Diese Kinder waren noch Babys, als die Bomben fielen. Sie sind abgehärtet. Kinder, die vor den Explosionen geboren wurden, heißen Präs. Die danach geborenen Posts. Posts müssten eigentlich unversehrt sein, aber so einfach ist es nicht. Die von den Bomben verursachten Mutationen haben sich tief in den Genen der Überlebenden eingenistet. Babys werden nicht als Reine geboren. Sie sind mutiert, geboren mit Spuren der Verformungen ihrer Eltern. Tiere genauso. Anstatt von vorn anzufangen, scheinen die Nachkommen nur noch mehr ineinander verwoben. Eine Mischung aus Mensch, Tier, Erde und Gegenständen.

Doch es gibt eine wichtige Unterscheidung, die die Leute in ihrem Alter machen – jene, die sich an das Leben vor den Bomben erinnern und jene, die es nicht tun. Manchmal spielen die Jugendlichen in ihrem Alter, nachdem sie sich kennengelernt haben, Ich-erinnere-mich. Sie tauschen Erinnerungen wie Geld. Das Maß an Intimität dieser Erinnerung zeigt, wie weit man sich der anderen Person gegenüber öffnen will – eine Währung des Vertrauens sozusagen. Diejenigen, die zu jung waren, um sich zu erinnern, werden zugleich beneidet und bedauert – eine abscheuliche Mischung. Pressia ertappt sich immer wieder dabei, dass sie vorgibt, sich an mehr zu erinnern, als der Wahrheit entspricht. Sie leiht sich die Erinnerungen anderer Leute und vermischt sie mit ihren eigenen. Aber sie macht sich Sorgen deswegen, befürchtet, sie könnte so sehr auf die Erinnerungen anderer bauen, dass ihre eigenen nicht mehr vertrauenswürdig sind. Sie muss die paar eigenen, die sie hat, unbedingt festhalten.

Sie mustert ein Gesicht nach dem anderen. Das Feuer wirft seltsame Schatten, glitzert auf Splittern von Metall und Glas, flackert auf hellen Narben, Verbrennungen und Knoten. Ein Mädchen sieht zu ihr hoch, eins, das Pressia kennt, aber den Namen vergessen hat.

»Willst du ein Stück von einem Reinen?«, fragt es. »Schön knusprig gebraten?«

»Nein«, erwidert Pressia lauter als beabsichtigt.

Die Kinder lachen – mit Ausnahme des Jungen, der auf das Feuer aufpasst. Er dreht mit kleinen, zerbrechlichen Fingern einen Spieß, ganz behutsam, als würde er ein Instrument oder eine Maschine bedienen, irgendetwas, das man aufziehen kann. Sein Name ist Mikel. Er ist nicht wie die anderen Kinder. Er hat etwas Stählernes an sich, etwas Unbeugsames. Sie sieht ihm an, dass er viele Tote gesehen hat, seine Eltern schon lange weg sind.

»Bist du sicher, Pressia?«, fragt er ernst. »Nur einen kleinen Bissen, bevor sie dich holen kommen?« Mikel hat eine fiese Ader, auch wenn sie sich normalerweise nicht gegen Pressia richtet, weil sie älter ist. Deshalb überrascht sie der Kommentar umso mehr.

»Nettes Angebot«, sagt sie, »aber danke, ich passe.«

Mikel sieht sie enttäuscht an. Vielleicht hat er gehofft, sie würde schreien, dass sie sie niemals holen würden. Wie dem auch sei, er tut ihr leid. Seine Grausamkeit lässt ihn klein und verwundbar wirken – das genaue Gegenteil von dem, was er eigentlich erreichen will.

Ein Stück voraus entdeckt sie Kepperness, den Mann, den ihr Großvater erwähnt hat. Sie ist ihm schon eine Weile nicht mehr über den Weg gelaufen. Er ist etwa in dem Alter, in dem ihr Vater sein müsste. Er wirft mit aufgekrempelten Armen leere Körbe auf die Pritsche eines Handkarrens. Seine Unterarme sind übersät von Glassplittern, dünn und sehnig und muskulös. Er sieht sie an und wendet den Blick ab. Er hat noch ein paar dunkle Knollen in einem Korb. Sie neigt den Kopf, um die Narben auf der einen Seite ihres Gesichts zu verbergen.

»Wie geht’s deinem Sohn?«, fragt sie in der Hoffnung, dass er glaubt, ihr noch etwas schuldig zu sein. »Ist sein Hals verheilt?«

Er richtet sich mit einer Grimasse auf und streckt sich. Eines seiner Augen ist von einem orange-golden leuchtenden Film überzogen, einer Trübung durch Strahlungsverbrennungen. Nichts Ungewöhnliches. »Du bist das Kind vom Fleisch-Schneider, richtig? Die Enkeltochter, wenn ich mich nicht irre. Was machst du noch hier? Du dürftest eigentlich gar nicht mehr hier sein. Zu alt, würde ich meinen.«

»Nein«, sagt sie abwehrend. »Ich bin erst fünfzehn.« Sie zieht die Schultern nach vorn, vorgeblich gegen den Wind, doch in Wirklichkeit versucht sie, kleiner und jünger auszusehen.

»Tatsächlich?« Er hält inne und starrt sie an. Sie begegnet seinem Blick aus dem gesunden Auge – dem einzigen, mit dem er sehen kann. »Ich hab mein Leben riskiert für diese Knollen. Hab sie gleich neben dem Wald der OSR ausgegraben. Ein paar sind noch übrig.«

»Na ja, was ich hier habe, ist quasi eine einmalige Gelegenheit. Das kann sich nur jemand leisten, der reich ist. Nichts für jedermann, weißt du?«

»Was ist es?«

»Ein Schmetterling«, sagt sie.

»Ein Schmetterling?«, schnaubt er. »Es gibt nicht mehr viele Schmetterlinge.« Da hat er recht. Sie sind sehr selten. Im vergangenen Jahr hat Pressia ein paar mehr gesehen – kleine Zeichen von Regeneration.

»Es ist ein Spielzeug.«

»Ein Spielzeug?« Kinder haben keine richtigen Spielzeuge mehr. Sie spielen mit Schweinsblasen und aus Lumpen geknoteten Stoffpuppen. »Lass mich sehen.«

Sie schüttelt den Kopf. »Warum? Du kannst es nicht bezahlen.«

»Lass mich einfach sehen, okay?«

Sie seufzt und tut zögerlich. Schließlich zieht sie den Schmetterling hervor und hält ihn hoch.

»Näher«, sagt der Mann. Ihr wird klar, dass nicht nur eins, sondern beide Augen von den Bomben versengt wurden, das eine sehr viel stärker als das andere.

»Jede Wette, dass du als Kind richtige Spielsachen gehabt hast«, sagt Pressia.

Er nickt. »Was kann er?«

Sie zieht den Schmetterling auf und setzt ihn auf die Pritsche seines Karrens. Der Schmetterling flattert mit den Flügeln. »Ich frage mich, wie es gewesen sein muss, in deiner Zeit aufzuwachsen. Weihnachten und Geburtstage und alles«, sagt sie.

»Ich habe als Kind an Zauberei geglaubt. Soll man es für möglich halten?« Er neigt den Kopf und starrt den Schmetterling an. »Wie viel?«

»Normalerweise nehme ich eine Menge. Es ist eine Erinnerung an Vergangenes. Aber für dich? Die restlichen Knollen, schätze ich. Die noch übrig sind«, sagt sie. »Mehr brauchen wir nicht.«

Er reicht ihr den Korb, und sie rollt die Knollen in ihren Sack. Dann gibt sie ihm den Schmetterling.

»Ich gebe ihn meinem Sohn«, sagt Kepperness. »Er hat nicht mehr lange.«

Pressia hat sich bereits zum Gehen gewandt. Sie hört das Ticken des Aufziehmechanismus und das Flattern der Flügel.

»Das wird ihn ein bisschen aufmuntern.«

Nein, denkt sie. Geh weiter. Frag nicht. Doch sie erinnert sich an seinen Sohn. Er war ein süßes Kind. Und zäh. Er hat nicht geweint, als ihr Großvater seinen Hals genäht hat, und das, obwohl es nichts gegen die Schmerzen gab. »Ist denn noch was mit ihm passiert?«

»Ein Dust hat ihn angegriffen. Er war draußen, hinter den Feldern, in der Nähe der Wüste, jagen. Er sah das Auge im Boden, dann zog ihn die Bestie nach unten in den Sand. Seine Mutter war bei ihm und konnte ihn retten, aber er wurde irgendwie gebissen. Sein Blut ist infiziert.«

Dusts sind diejenigen, die irgendwie mit der Erde verschmolzen sind – in den Städten verschmolzen sie mit den Gebäuden. Die meisten von ihnen starben, kurz nachdem die Bomben fielen – nichts, keine Münder oder Münder ohne Verdauungsorgane. Ein paar haben überlebt, weil sie mehr Stein als Mensch wurden, und andere, weil sie beweisen konnten, dass sie nützlich waren, dass sie mit den Bestien zusammenarbeiten konnten – das sind diejenigen, die mit Tieren verschmolzen sind. Wann immer Pressia in den Trümmern nach Verwertbarem sucht, achtet sie auf Dusts, die nach oben greifen, sie am Bein packen und runterzerren könnten. Sie ist noch nie so weit außerhalb der Stadt gewesen wie der Junge. Dort sind einige mit der Erde verschmolzen. Sie hat gehört, dass sie draußen in den Deadlands aus dem aschenen Sand blinzeln. Sie hat auch gehört, dass viele von den Überlebenskünstlern, die das Ende kommen sahen und vor den Explosionen in die Wälder gezogen waren, von den Bäumen verschluckt wurden.

Sie hat gehört, dass ein Biss einen grausamen Tod bedeutet. Die Gebissenen haben Schaum vor dem Mund und Anfälle. Pressia greift in den Sack und holt die Knollen heraus. »Das wusste ich nicht«, sagt sie. »Hör mal, behalt die Knollen und den Schmetterling.«

»Nein«, sagt Kepperness und steckt den Schmetterling in eine Innentasche seines Mantels. »Ich habe deinen Großvater vor Kurzem gesehen. Ihm geht es auch nicht gut, oder? Wir alle haben jemanden. Geschäft ist Geschäft.«

Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Er hat recht. Jeder hat jemanden, der gestorben ist oder im Sterben liegt. Sie nickt. »Okay«, sagt sie. »Es tut mir wirklich leid.«

Er hat seine Arbeit wieder aufgenommen und schüttelt den Kopf. »Uns allen tut es leid.« Er entfaltet eine schwere Plane und schlägt sie über seine Waren. Als er nicht hinsieht, kippt sie ihren Sack um, und ein paar Knollen rollen zurück in den Korb.

Sie wendet sich ab und geht rasch davon. Sie hätte nicht alle Knollen essen können, nicht in dem Wissen, dass Kepperness’ Sohn stirbt. Außerdem hat sie mehr verlangt, als sie sonst für ihre Arbeit nimmt.

Trotzdem muss sie jetzt noch weiter, Trümmer fleddern. Kepperness hat recht. Ihr Großvater ist krank. Er wird nicht mehr lange durchhalten. Was, wenn sie aufgegriffen wird oder zu früh flüchten muss? Sie muss so viele Spielzeuge machen wie möglich, damit er etwas zum Handeln hat und überleben kann. Sie eilt weiter.

Als sie ans Ende des Markts kommt, bleibt sie stehen. Dort, an einer niedrigen Ziegelmauer, hängt eine neue Liste der OSR. Sie flattert im kalten Wind. Ein paar Straßenhändler schieben ihre Karren die Straße hinunter, ein lautes, klapperndes Echo. Sie wartet, bis sie weg sind, dann geht sie hin und betrachtet die Liste. Drückt das Papier glatt. Die Schrift ist klein. Sie muss nah heran. Ihre Augen huschen über die Seite.

Und dann sieht sie es.

Den Namen PRESSIA BELZE und ihr Geburtsdatum.

Sie streicht mit der Fingerspitze über die Buchstaben.

Es gibt keinen Zweifel mehr. Es gibt keine verlorene Akte mit ihren Daten darin. Dort steht ihr Name. Es ist Wirklichkeit geworden.

Sie weicht zurück, stolpert über herumliegende Steine, rennt in die erste Seitenstraße, die sie findet.

Sie friert jetzt. Die Luft ist feucht. Sie zieht ihren unteren Pullover hoch, um den Hals zu wärmen, dann den zweiten, ausgeleierten über die Puppenkopf-Faust, die noch immer in einer Socke steckt, dann kreuzt sie die Arme vor der Brust und steckt die Hand unter die Achselhöhle. Es ist eine Angewohnheit. Das macht sie immer, wenn sie draußen ist, in der Öffentlichkeit, und nervös. Es gibt ihr so etwas wie Geborgenheit, beinahe.

Mitten zwischen den Ruinen zu beiden Seiten gibt es auch Gebäude, die noch immer wie Skelette in den Himmel ragen. Menschen haben sich notdürftig darin eingerichtet. Dann kommt sie an einem Haus vorbei, das vollständig zusammengestürzt ist. Das sind die besten, um zu plündern. Sie hat schon oft wunderschöne Dinge in den Trümmern gefunden – Draht, Münzen, Metallklammern, Schlüssel – doch die Trümmer sind auch gefährlich. Die hauptsächlich menschlichen Dusts und manche der menschenähnlicheren Bestien haben sich Wohnhöhlen in die Trümmer gegraben und wärmen sich an Feuern, auf denen sie ihre Beute braten und von denen kleine Rauchsäulen aufsteigen. Pressia stellt sich Kepperness’ Sohn draußen in den Deadlands vor, ein Auge im Sand zu seinen Füßen, dann eine Hand, die wie aus dem Nichts nach oben schießt, ihn hinabzerrt. Pressia ist allein. Wenn sie gepackt und hinuntergezogen wird, werden sie sie mit Haut und Haaren verschlingen.

Sie sieht keinen Rauch, also betritt sie einen Haufen wackelnder Steine, bahnt sich vorsichtig einen Weg, sucht nach dem Glitzern von Metall, kleinen Stücken Draht. Sie weiß, dass die Ruinen mehr oder weniger ausgeplündert sind, doch sie findet etwas, das aussieht wie eine Gitarrensaite, ein paar Stücke geschmolzenes Plastik, die aussehen wie Teile von einem Brettspiel, und ein dünnes Metallrohr.

Vielleicht kann sie daraus etwas Besonderes basteln, für ihren Großvater. Ein Geschenk, das es wert ist, in Ehren gehalten zu werden. Sie will es nicht Memento, Andenken, nennen, weil es sie daran erinnert, dass sie vielleicht bald nicht mehr da ist, doch schon ist es in ihrem Kopf. Memento.

Als sie sich über die Marktstraße auf den Weg nach Hause macht, sind alle Stände geschlossen. Sie ist spät dran. Sie sollte sich lieber beeilen. Großvater wird anfangen sich Sorgen zu machen. Am anderen Ende der Straße sieht sie den Jungen mit den weit auseinanderstehenden Augen, Mikel. Er grillt ein neues Tier auf dem Fassgrill. Es ist winzig, kaum größer als eine Maus, fast ohne Fleisch.

Neben ihm steht ein kleinerer Junge. Er greift nach oben, will das Fleisch anfassen. »Nicht!«, sagt Mikel warnend. »Du verbrennst dich.«

Er versetzt dem Jungen einen Stoß, dass er hinfällt. Der kleine Junge ist barfuß. Seine Zehen sind nur Stummel. Er schrammt sich das Knie auf, schreit beim Anblick seines Blutes und rennt in Richtung eines dunklen Hauseingangs davon. Drei Frauen treten nach draußen – alle miteinander verschmolzen, ein Gewirr aus Kleidung, das ihre geschwollene Mitte verbirgt. Teile eines jeden Gesichts scheinen zu glänzen und sind regungslos, als wären sie aus Plastik. »Mehrlinge« werden diese Zusammengeschmolzenen von allen genannt. Eine der Frauen hat Hängeschultern und einen krummen Rücken. Sie fuchteln mit den Armen, ein Paar blass und sommersprossig, die anderen beiden dunkel. Die Frau in der Mitte packt den Jungen. »Sei still!«, sagt sie. »Halt den Mund, hörst du?«

Die Frau mit den Hängeschultern und dem krummen Rücken, die anscheinend am wenigsten mit den anderen verschmolzen ist, brüllt Pressia an: »Warst du das? Hast du dem Jungen wehgetan?«

»Ich habe ihn nicht angerührt!«, sagt Pressia und zupft an ihrem Ärmel.

»Du kommst jetzt rein, es ist Zeit«, sagt die Frau zu dem Jungen. Sie blickt sich um, als könnte sie spüren, dass etwas in der Luft liegt. »Sofort.«

Der Junge windet sich aus ihrem Griff und rennt noch lauter weinend die Straße hinunter in Richtung des verlassenen Marktes.

Die mit dem krummen Rücken sieht über die Schulter nach hinten, hebt eine knochige, knotige Faust und schüttelt sie drohend in Pressias Richtung. »Siehst du, was du angerichtet hast?«

Hinter sich hört Pressia Mikel schreien: »Eine Bestie! Eine Bestie!«

Sie dreht sich um, und tatsächlich, dort ist eine wolfsartige Bestie, mehr Tier als Mensch. Sie ist pelzig, aber mit Glas entlang der Rippen. Sie rennt humpelnd auf allen vieren, dann hält sie inne, stellt sich auf die Hinterbeine – sie ist fast so groß wie ein erwachsener Mann. Sie hat Klauenfüße, aber kein Maul, sondern ein rosiges, menschliches, beinahe haarloses Gesicht mit langem, schmalem Kiefer und langen Zähnen. Ihre Rippen heben und senken sich in rascher Folge. Quer über die Brust ist eine Kette in das Fleisch eingebettet.

Mikel klettert hastig auf sein Ölfass und von dort auf ein Wellblechdach. Die Mehrlinge im Eingang weichen zurück und verschließen die Tür mit einer Holzplatte. Sie rufen nicht einmal mehr nach dem Jungen, der ganz allein die Straße hinunterrennt.

Pressia weiß, dass die Bestie zuerst den Jungen holen wird. Er ist kleiner als Pressia, wie geschaffen als Beute. Andererseits könnte die Bestie auch sie beide angreifen. Groß genug dazu ist sie.

Pressia hält ihren Sack fest gepackt und rennt los, mit wedelnden Armen und flinken Beinen. Sie ist eine schnelle Läuferin, war schon immer leichtfüßig. Vielleicht war ihr Vater, der Quarterback, ebenfalls schnell. Ihre Schuhe sind durchgewetzt, und sie spürt den Untergrund durch die dünnen Socken.

Die Straße sieht fremd aus, nachdem der Markt geschlossen hat. Die Bestie springt hinter ihr her. Pressia und der kleine Junge sind die Einzigen, die jetzt noch draußen sind. Der Junge spürt, dass sich etwas verändert hat, dass Gefahr in der Luft liegt. Er dreht sich um, und seine Augen weiten sich vor Angst. Er fällt und schafft es in seiner Panik nicht aufzustehen. Aus der Nähe kann Pressia jetzt erkennen, dass sein Gesicht um ein Auge herum verbrüht ist. Das Auge selbst ist blau-weiß wie eine Murmel.

Pressia erreicht ihn. »Los, weiter!«, ruft sie, packt ihn unter den Armen und reißt ihn hoch. Mit nur einer funktionierenden Hand braucht sie die Hilfe des Jungen. »Festhalten!«, befiehlt sie.

Sie starrt mit wildem Blick in jede Richtung, sucht nach etwas, worauf sie klettern kann. Die Bestie kommt näher und näher. Zu beiden Seiten gibt es nur Trümmer, doch ein Stück voraus steht ein Haus, das nur zum Teil eingestürzt ist, mit einer Metalltür und einem Gitter vor einem nicht mehr vorhandenen Schaufenster. Es ist ein ehemaliger Laden, ähnlich dem Friseurladen. Sie erinnert sich, dass ihr Großvater erzählt hat, es wäre ein Pfandleihhaus gewesen und dass die Leute den Laden mit als Erstes geplündert hätten, weil es dort Waffen und Gold gab, auch wenn Gold letzten Endes seinen Wert verlor.

Die Tür steht leicht offen.

Der Junge schreit jetzt, laut und schrill, und er ist schwerer, als sie erwartet hat. Er hat die Arme um ihren Hals geschlungen und klammert sich fest, droht ihr die Luft abzudrücken.

Die Bestie ist so nah, dass sie ihr Hecheln hören kann.

Pressia rennt zu dem Metallgitter, reißt es auf, springt hindurch, wirbelt herum und schiebt es zu, während sich das Kind an sie klammert. Die Tür verriegelt automatisch.

Sie befinden sich in einem kleinen leeren Raum, nicht mehr als ein paar Paletten auf dem Fußboden. Sie hält dem schreienden Jungen den Mund zu. »Still!«, sagt sie. »Sei still, hörst du?« Sie weicht zur gegenüberliegenden Wand zurück. Sie setzt sich in eine dunkle Ecke, mit dem Jungen auf dem Schoß.

Eine Sekunde später ist die Bestie an der Tür. Sie ist wütend, bellt und langt durch die Gitter. Sie hat keine Sprache, keine Hände, trotz des menschlichen Gesichts und der menschlichen Augen. Die Tür klappert laut. Frustriert hockt die Bestie sich hin und knurrt. Dann dreht sie den Kopf, saugt schnüffelnd die Luft ein. Um einen Moment später, abgelenkt, davonzurennen.

Der Junge beißt in Pressias Hand, so fest er kann.

»Aua!« Pressia reibt sich die Hand an der Hose. »Wofür war das?«

Der Junge starrt sie mit aufgerissenen Augen an, als wäre er selbst überrascht.

»Ich hätte eigentlich ein Dankeschön erwartet«, sagt sie.

Auf der anderen Seite des Raums ertönt ein lauter Knall.

Pressia zuckt zusammen und dreht sich um. Der kleine Junge hebt den Kopf.

Eine Falltür ist aufgestoßen worden, und aus dem Raum darunter sind der Kopf und die Schultern eines Jugendlichen aufgetaucht. Er hat struppiges Haar und dunkle, ernste Augen. Er ist ein wenig älter als Pressia.

»Bist du wegen der Versammlung hier, oder was?«, fragt er.

Der kleine Junge schreit wieder los, als wäre es das Einzige, wozu er imstande ist. Kein Wunder, dass die Frau ihm befohlen hat, den Mund zu halten, denkt Pressia. Er ist ein Schreihals. Plötzlich springt er auf und rennt zu der verschlossenen Tür.

»Geh nicht da raus!«, ruft Pressia ihm hinterher.

Doch der kleine Junge ist zu flink. Er entriegelt die Tür, schiebt sich hindurch und flitzt davon.

»Wer war das?«, will der Typ wissen.

»Das weiß ich auch nicht«, sagt Pressia und steht auf. Jetzt sieht sie, dass er auf einer klapprigen Faltleiter steht, die runter in den Keller führt. Der Keller ist offensichtlich voller Leute.

»Ich kenne dich«, sagt der Junge jetzt. »Du bist die Enkelin vom Fleisch-Schneider.«

Sie bemerkt zwei Narben auf seiner Wange – vielleicht Nähte, die ihr Großvater gemacht hat. Die Narben sind nicht sehr alt, höchstens ein Jahr oder zwei. »Ich wüsste nicht, dass wir uns schon mal getroffen hätten.«

»Haben wir auch nicht«, erwidert er. »Außerdem war ich ziemlich angeschlagen.« Er zeigt auf sein Gesicht. »Du erkennst mich vielleicht nicht, aber ich erinnere mich, ich habe dich dort gesehen.« Er sieht sie auf eine Weise an, die sie erröten lässt. In seinen dunklen Augen ist tatsächlich etwas, das ihr vertraut scheint. Sie mag sein Gesicht. Es ist das Gesicht von jemandem, der sich nicht unterkriegen lässt. Das Gesicht eines Überlebenden. Scharfe Gesichtszüge und die beiden langen, gezackten Narben. Seine Augen – es ist etwas in ihnen, das ihn zugleich wütend und süß aussehen lässt.

»Bist du wegen der Versammlung hier? Wir fangen nämlich jetzt an. Es gibt Essen.«

Es ist ihr letztes Mal draußen, bevor sie sechzehn wird. Ihr Name steht auf der Liste. Ihr Herz hämmert immer noch wie wild. Sie hat den kleinen Jungen gerettet. Sie fühlt sich mutig. Und fast verhungert. Der Gedanke an Essen gefällt ihr. Vielleicht ist genug da, dass sie etwas stehlen kann, für ihren Großvater. Unbemerkt.

Ein Heulen ertönt, in nicht allzu großer Entfernung. Die Bestie treibt sich immer noch in der Gegend herum.

»Ja«, sagt Pressia. »Ich bin wegen der Versammlung hier.«

Er lächelt, beinahe, doch dann hält er inne. Er gehört nicht zu der Sorte, die schnell lächelt. Er dreht sich um. »Noch eine mehr!«, ruft er nach unten. »Macht Platz!« In diesem Moment bemerkt Pressia ein Flattern unter seinem blauen Hemd, auf dem Rücken. Wie sich kräuselndes Wasser.

Und dann erinnert sie sich. An den Jungen mit den Vögeln im Rücken.