PRESSIA
Bleiche
Es ist nicht so, wie Pressia es sich vorgestellt hat. Es wirkt eher wie ein altes Hospital als eine Militärbasis. Die Luft riecht antiseptisch und viel zu sauber. Wie gebleicht. Im Zimmer stehen fünf Pritschen, und die Jugendlichen, die daraufliegen, rühren sich nicht. Sie schlafen allerdings auch nicht. Sie liegen einfach nur da in ihren gestärkten grünen Uniformen und warten. Einer von ihnen hat eine steife Hand, bedeckt mit rotem Aluminium. Ein anderer hat einen Kopf, der mit Steinen verschmolzen ist. Ein dritter versteckt sich unter einer Decke. Pressia weiß, dass sie ebenfalls keinen schönen Anblick bietet – ihr vernarbtes Gesicht, die mit dem Puppenkopf verschmolzene Hand. Sie hat immer noch das Klebeband über dem Mund, und ihre Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. Sie trägt ihre gewöhnliche Kleidung, sodass jeder gleich sehen kann, dass sie neu ist. Wenn sie könnte, würde sie die anderen fragen, worauf sie warten – aber will sie das wirklich wissen?
Sie versucht still zu liegen wie sie. Sie versucht sich vorzustellen, was passiert ist, nachdem Bradwell und Partridge herausgefunden haben, dass sie weg ist. Sie würde gerne glauben, dass die beiden sich zusammengetan haben, um nach ihr zu suchen und sie zu befreien. Doch sie weiß, dass das Wunschdenken ist. Keiner der beiden kennt sie näher. Partridge ist ihr rein zufällig über den Weg gelaufen, und er hat seine eigene Mission. Sie fragt sich, ob Bradwell sie mag oder ob er sie in eine Schublade gesteckt hat. Es spielt keine Rolle. Es war völlig unnötig von ihm zu sagen, dass er nur überlebt hat, weil er sich nicht in die Probleme von anderen hat reinziehen lassen. Würde sie versuchen, ihn zu retten, wenn ihre Rollen vertauscht wären? Sie muss nicht lange überlegen – sie würde es versuchen. Die Welt, so grausam sie auch ist, scheint ihr mit Bradwell ein besserer Ort zu sein. Er leuchtet von innen, er ist voller Energie, er ist bereit zu kämpfen, und selbst wenn er nicht für sie kämpfen will, er hat die Kraft, die sie alle brauchen hier draußen außerhalb des Kapitols.
Sie denkt an seine doppelte Narbe und das ärgerliche Flattern der Flügel in seinem Rücken. Sie vermisst ihn. Es ist ein plötzlicher, scharfer Schmerz in ihrer Brust. Sie kann es nicht verleugnen – sie wünscht sich, dass er sie auch vermisst und dass er nach ihr sucht. Sie hasst dieses Gefühl, wünscht, es würde vergehen, doch es lässt nicht nach. Sie muss diesen Schmerz wohl oder übel mit sich herumschleppen, eine unangenehme Erkenntnis. Die Wahrheit ist, dass er sie nicht suchen wird und dass Bradwell und Partridge sich viel zu sehr hassen, um sich irgendwie zusammenzutun. Ohne sie, Pressia, sagen sie sich wahrscheinlich sehr schnell Lebewohl und gehen getrennte Wege. Sie ist auf sich allein gestellt.
Die harte Pritsche ist ordentlich bezogen, was Pressia vermuten lässt, dass es irgendwo eine Pflegerin geben muss. Pressia hat immer wieder von Krankenhäusern geträumt wie dem, in dem sie geboren wurde, Krankenhäusern, in denen man ihrem Großvater den Ventilator aus dem Hals entfernen kann oder ihre Hand operieren. Sie stellt sich vor, wie sie und ihr Großvater in einem Zweibettzimmer in Betten mit weißen Bezügen und dicken Kopfkissen liegen.
Auf der Seite liegend kann sie mit der hinter dem Rücken gefesselten Hand an der Wolldecke zupfen, doch das ist mehr oder weniger alles. Manchmal denkt sie an Gott und versucht, zur Heiligen Wi zu beten, aber es funktioniert nicht. Das Gebet entgleitet ihr immer wieder.
Die Beleuchtung flackert.
Draußen fallen Schüsse.
Die Wache kommt zur Tür und wirft einen Blick herein. Sie hält ein Gewehr in den Armen, wiegt es wie ein Baby, das nicht schlafen kann, als wäre irgendwo eine Entbindungsstation. Sie trägt die reguläre grüne Uniform der OSR, komplett mit Armbinde und aufgestickter Klaue.
Pressia wird sich irgendwann rechtfertigen müssen. Sie weiß, dass die OSR nicht zimperlich mit denen umspringt, die sich nicht freiwillig stellen. Doch Pressias Widerstand hat zumindest eines bewiesen: dass sie zäh ist und sich durchzuschlagen weiß. Pressia ist sich ziemlich sicher, dass sie glaubhaft machen kann, dass sie sich beizeiten gemeldet hätte, doch sie muss sich um ihren Großvater kümmern. Das ist ein Zeichen von Solidarität. Die OSR schätzt Solidarität. Sie wird ihnen erzählen, was immer nötig ist, um am Leben zu bleiben.
Doch sie hat auch gesehen, wie die OSR Leute aus ihren Häusern gezerrt und vor den Augen ihrer Kinder in Trucks verfrachtet hat. Sie hat gesehen, wie die OSR Leute auf der Straße erschossen hat. Sie fragt sich, wie Fandra gestorben sein mag, doch sie verdrängt den Gedanken wieder. Sie muss das vergessen.
Die Wache kommt rein. Alle Gesichter wenden sich ihr zu. Niedergeschlagen. Benommen. Haben sie darauf gewartet? Die Wache trägt das Gewehr nicht mehr in der Armbeuge. Sie hat es auf Pressia gerichtet.
»Pressia Belze?«, fragt sie.
Pressia würde sich gerne aufsetzen und Ja sagen, doch sie kann nicht. Klebeband über dem Mund, zusammengerollt auf der Seite liegend wie eine Krabbe kann sie nur nicken.
Die Wache kommt herbei und reißt Pressia am Oberarm auf die Beine. Pressia folgt ihr aus dem Zimmer, wirft dabei noch einen Blick zu den anderen Jugendlichen. Keiner sieht ihr in die Augen, bis auf einen Jungen. Pressia sieht jetzt, dass er ein richtiger Krüppel ist – eines seiner Hosenbeine ist leer. Es ist nichts drin, und sie weiß, dass er es nicht schaffen wird. Nicht als Soldat und vielleicht nicht einmal als lebendes Ziel.
Selbst wenn das hier ein ehemaliges Krankenhaus ist, heute ist es längst keines mehr, und vielleicht haben sie die Bleiche benutzt, um den Gestank nach Tod zu überdecken. Pressia versucht dem Jungen ein Lächeln zuzuwerfen, ein kleines Zeichen von Freundlichkeit, doch mit dem zugeklebten Mund kann er beim besten Willen nichts davon erkennen.
Die Wache ist breit und gedrungen. Sie ist gezeichnet von Brandnarben, ein heller rosiger Farbton im Gesicht, am Hals und an den Händen. Pressia fragt sich, ob die Narben ihren gesamten Körper bedecken. Sie hat ein Loch in der Wange mit einer alten Münze verschlossen. Sie geht neben Pressia her, und aus keinem erkennbaren Grund rammt sie Pressia den Kolben ihrer Waffe in die Rippen. Als Pressia vornüberkippt, sagt die Wache noch mal: »Pressia Belze, pah!« Hasserfüllt, als wäre es ein Fluch, eine Verwünschung.
Die Türen entlang dem Gang stehen fast ausnahmslos offen, und in jedem Raum stehen Pritschen, auf denen uniformierte Kids liegen und warten. Es ist still, bis auf das leise Murmeln der Kids, die quietschenden Federn der Liegen und das Scharren von Stiefeln.
Pressia erkennt jetzt auch, dass dieses Gebäude sehr alt ist – die gefliesten Korridore, der Stuck, die alten Türen, die hohen luftigen Decken. Sie passieren eine Art Lobby mit einem fadenscheinigen Teppichläufer und einer Reihe hoher Fenster. Das Glas ist lange verschwunden, und der Wind wirbelt durch die dünnen, ausgefransten Vorhänge, die grau sind von Asche. Es ist die Sorte Raum, in der Leute gewartet haben, dass jemand zu ihnen gebracht wurde – ein Verwandter im Rollstuhl, jemand, der gestützt werden musste, vielleicht jemand, der geisteskrank war. Anstalten, Sanatorien, Therapiezentren – sie hatten eine Menge Namen.
Und dann waren da noch die Gefängnisse.
Draußen vor den Fenstern sieht Pressia zusammengenagelte Holzplanken, eine Steinmauer mit Stacheldraht auf dem Sims und ein Stück weiter weiße Säulen, die im Nichts stehen. Wie weiße Stängel.
Die Wache bleibt vor einer Tür stehen und klopft.
»Herein!«, ruft eine Männerstimme unwirsch und träge.
Die Wache öffnet die Tür und versetzt Pressia einen weiteren Stoß mit dem Gewehrkolben. »Pressia Belze«, sagt sie, und weil es das Einzige ist, was Pressia bis jetzt aus ihrem Mund gehört hat, fragt sie sich, ob es vielleicht das Einzige ist, was sie sagen kann.
Hinter der Tür steht ein Schreibtisch, hinter dem ein Mann sitzt. Oder besser gesagt, zwei Männer. Einer von ihnen ist groß und massig. Er sieht sehr viel älter aus als Pressia, doch es fällt ihr schwer, sein genaues Alter zu schätzen angesichts der vielen Brandnarben. Vielleicht ist er gar nicht so sehr viel älter als sie. Der andere Mann scheint in ihrem Alter zu sein, doch auch er ist merkwürdig alterslos wegen seines leeren Blicks. Der größere Mann trägt eine graue Uniform, er ist Offizier, und er isst ein gebratenes Huhn von einem Blechteller. Der Kopf des Huhns ist noch dran.
Der Mann in seinem Rücken, mit dem leeren Blick, ist viel kleiner. Er ist dort mit dem großen Mann verschmolzen. Seine dürren Arme hängen über den Hals des großen Mannes, ein schmächtiger Brustkasten in einem breiten Rücken. Pressia fällt der Fahrer des Trucks wieder ein und der zweite Mann, der ständig hinter ihm zu schweben schien. Vielleicht ist das hier dieser Fahrer mit seinem Begleiter.
»Nimm ihr den Knebel ab«, befiehlt er der Wache. »Sie muss reden.« Die Finger des Mannes glänzen vom Hähnchenfett. Seine Nägel sind schmutzig.
Die Wache reißt Pressia brutal das Klebeband vom Mund. Pressia leckt sich über die Lippen und schmeckt Blut.
»Du kannst gehen«, sagt er zu der Wache.
Die Wache zieht sich zurück. Sie schließt die Tür behutsamer, als Pressia es für möglich gehalten hätte. Leise klickend rastet das Schloss ein.
»So«, sagt der große Mann. »Ich bin El Capitán. Das hier ist das Hauptquartier. Ich habe hier das Sagen.«
»Habe hier das Sagen«, sagt der schmächtige Kopf hinter seinem Rücken.
El Capitán ignoriert ihn. Er pickt am Hähnchenfleisch, schiebt sich mehr davon in den fetten Mund. Pressia wird bewusst, dass sie am Verhungern ist. »Wo haben sie dich gefunden?«, fragt El Capitán, während er ein kleineres Stück Fleisch über die Schulter hält und den kleineren Mann auf seinem Rücken füttert, direkt in den Mund, fast wie einen jungen Vogel.
»Ich war unterwegs«, sagt Pressia.
Er sieht sie an. »Das ist alles?«
Sie nickt. »Warum hast du dich nicht von allein gemeldet?«, fragt El Capitán. »Wirst du gerne gejagt?«
»Mein Großvater ist krank.«
»Weißt du, wie viele Leute sich damit rausreden wollen, dass jemand aus ihrer Familie krank ist?«
»Ich schätze, es gibt ziemlich viele Leute, die Kranke in der Familie haben … wenn sie überhaupt eine Familie haben, heißt das.«
Er neigt den Kopf, und sie ist nicht sicher, wie sie seinen Gesichtsausdruck deuten soll. Er wendet sich wieder seinem Hähnchen zu. »Die Revolution kommt, und so lautet meine Frage: Kannst du töten?«, fragt er, ohne eine Miene zu verziehen. Es ist, als würde er aus einer Rekrutierungsbroschüre vorlesen. Er ist nicht mit dem Herzen bei der Sache.
Die Wahrheit ist, Hunger hat etwas an sich, das in Pressia den Wunsch weckt, jemanden umzubringen. Es blitzt in ihr auf, dieses hässliche Verlangen. »Ich kann lernen, wie man tötet.« Sie ist erleichtert, dass ihre Hände noch hinter ihrem Rücken zusammengebunden sind. So kann er die Puppenkopffaust nicht sehen.
»Eines Tages werden wir sie niederwerfen«, sagt er. Seine Stimme klingt weich. »Das ist alles, was ich mir wünsche, wirklich. Ich würde zu gerne selbst einen Reinen erledigen, bevor ich sterbe. Nur einen einzigen.« Er seufzt, trommelt mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Und dein Großvater?«, fragt er.
»Es gibt nichts mehr, das ich noch für ihn tun könnte«, sagt Pressia. Ihr dämmert, dass es die Wahrheit ist, und sie fühlt sich merkwürdig erleichtert. Zugleich steigen Schuldgefühle in ihr auf. Er hat die Fleischkonserve und die rote Orange von der Frau, die er genäht hat, außerdem eine letzte Reihe selbst gemachter Metalltierchen, die er zum Tauschen benutzen kann.
»Ich verstehe wie das ist mit Familienangelegenheiten«, sagt El Capitán. »Helmud hier …«, er deutet auf den kleinen Mann hinter sich, »… mein Bruder. Ich würde ihn töten, aber er ist Familie.«
»Ich würde ihn töten, aber er ist Familie«, sagt Helmud und verschränkt die dürren Ärmchen unter dem Kinn wie ein Insekt. El Capitán reißt einen Schenkel aus dem Hähnchen und hält ihn hoch, damit Helmud daran nagen kann – allerdings nur einen kleinen Bissen, dann zerrt er ihn wieder zurück. »Andererseits«, sagt er, »du bist klein. Als hättest du noch nie eine anständige Mahlzeit gegessen. Du würdest es nicht schaffen. Wenn es nach mir ginge, meinem Gefühl, würde ich sagen, dass du nützlich bist, aber nur als Zielscheibe.«
Pressias Magen zieht sich zusammen. Sie denkt an den einbeinigen Jungen. Vielleicht ist der Unterschied zwischen ihm und ihr gar nicht so groß.
El Capitán beugt sich vor, rutscht mit den Ellbogen über den Tisch. »Es ist mein Job, diese Entscheidungen zu treffen, verstehst du? Glaubst du, mir gefällt das?«
Sie ist sich nicht sicher, ob es ihm gefällt oder nicht.
Er dreht sich um und brüllt Helmud an. »Hör endlich auf damit, kapiert?«
Helmud starrt ihn aus aufgerissenen Augen erschrocken an.
»Er ist ständig am Fummeln! Nervöse Finger! Ständig am Fummeln! Du treibst mich noch in den Wahnsinn, Helmud, mit deinem nervösen Tick! Verstehst du, was ich sage?«
»Verstehst du, was ich sage?«, wiederholt Helmud.
El Capitán zieht eine Akte vom Stapel. »Es ist eigenartig, weißt du? Hier in deiner Akte steht, dass du Offizier wirst. Auf höheren Befehl. Hier steht, wir sollen dich nicht brechen, und ich soll dich direkt in die Ausbildung stecken.«
»Tatsächlich?«, fragt Pressia. Es kommt ihr wie ein schlechtes Omen vor. Weiß die OSR etwa von ihrer Verbindung zu dem Reinen? Warum sonst sollte man sie bevorzugen? »Offiziersausbildung?«
»Die meisten Leute würden sich mehr darüber freuen«, sagt El Capitán. Er reibt sich die fettigen Lippen, dann öffnet er eine Zigarrenkiste auf seinem Schreibtisch. »Offen gestanden, ich würde sagen, du hast ein Scheiß-Glück.« Er steckt sich die Zigarre an und bläst eine Rauchwolke gegen die Decke. »Ein richtiges Scheiß-Glück.«
Das Gesicht seines Bruders ist hinter El Capitáns Rücken verborgen, doch Pressia kann seine Stimme trotzdem hören. »Ein richtiges Scheiß-Glück«, flüstert er. »Ein richtiges Scheiß-Glück.«