PARTRIDGE
Gesänge
Bradwell führt sie mit schnellen, langen Schritten durch die Straßen. Pressia folgt als Nächste, dann Partridge. Bradwell sieht sich nicht ein einziges Mal nach Partridge um, doch Pressia tut es unablässig, und Partridge fragt sich, was sie wohl von ihm denkt. Ist er nur ein Pfand für sie? Will sie ihn benutzen, um von der OSR-Liste gestrichen zu werden, was immer das sein mag, und Hilfe für ihren Großvater zu organisieren, wie sie es gesagt hat? Wenn ja, kann er damit leben. Sie hilft ihm, und er hilft ihr, wenn er kann. Außerdem hat sie schon bewiesen, dass sie ein gutes Herz hat. Sie hat ihm das Leben gerettet, bevor sie wissen konnte, wer oder was er war und ob er ihr nützlich sein könnte. Kurz gesagt: Partridge vertraut ihr.
Er weiß auch, dass Bradwell ihn für sein privilegiertes Kapitol-Leben hasst. Wer kann es ihm verdenken? Hoffentlich hasst Bradwell ihn nicht so sehr, dass er zulassen würde, dass Mehrlinge ihm den Schädel einschlagen, wie er es angedroht hat. Es klingt fast lustig, wäre es nicht so erschreckend wahrscheinlich.
Bradwell hält inne. Er späht um die Ecke in eine Gasse, um zu sehen, ob die Luft rein ist.
Der Wind ist unterdessen kälter geworden. Partridge zieht den Mantel eng um sich. »So fühlt sich also der Winter an, ja?«, sagt er zu Pressia.
»Nein«, antwortet sie. »Der Winter ist kalt.«
»Aber es ist kalt«, sagt Partridge.
»Nicht so kalt wie im Winter.«
»Ich würde gerne sehen, wie das alles mit Schnee bedeckt aussieht.«
»Der Schnee ist grau, bevor er auf dem Boden aufkommt«, sagt Pressia.
Bradwell kommt zurück. »Sie sind zu nah«, sagt er. Partridge weiß nicht, wovon er redet. »Wir müssen unterirdisch weiter. Hier lang.«
»Unterirdisch?«, fragt Partridge.
Er geht nicht gerne unter die Erde. Selbst im Keller der Akademie hat er sich immer wieder verlaufen.
»Wenn er sagt, unterirdisch ist der beste Weg, dann ist es so«, sagt Pressia.
Bradwell deutet auf ein rechteckiges Loch im Rinnstein. Der Metalldeckel ist längst verschwunden, wahrscheinlich gestohlen. Er lässt sich mit den Beinen zuerst in das Loch sinken, dann springt er. Pressia folgt ihm. Ihre Holzschuhe klappern laut über den Beton. Partridge bildet den Abschluss. Unten ist es dunkel und feucht. Es gibt so viele Pfützen, dass sie keine Chance haben, allen auszuweichen. Sie müssen mitten hindurch, ob sie wollen oder nicht. In unregelmäßigen Abständen hören sie Tiere, leises Quieken und Gurren. Schatten huschen vorbei.
»Jetzt sag mal, warum sind wir hier unten?«, will Partridge wissen.
»Du hast den Sprechgesang gehört, oder?«, fragt Bradwell.
»Ja.« Er kann ihn immer noch hören. »Was ist so verkehrt an einer Hochzeit?«
Bradwell bleibt stehen, dreht sich um und starrt ihn verblüfft an. »Eine Hochzeit?«
Partridge sieht zu Pressia. »Du hast gesagt …«
»Kann sein, dass ich ihm erzählt habe, es wären Gesänge von einer Hochzeit«, räumt Pressia gegenüber Bradwell ein.
»Warum hast du wegen so einem Mist gelogen?«, fragt Bradwell verwirrt.
»Ich weiß nicht. Vielleicht wollte ich, dass es die Wahrheit ist. Vielleicht bin ich ja eine von der Sorte.« Sie wendet sich an Partridge. »Es ist keine Hochzeit«, sagt sie. »Es ist eine Art Spiel. Was die OSR unter Sport versteht.«
»Oh«, sagt Partridge. »Das ist doch nicht schlimm. Wir machen im Kapitol auch Sport. Ich war Läufer bei so was Ähnlichem wie Football.«
»Das hier ist ein Jagdsport. Ein Kesseltreiben. Die OSR betreibt ihn unter dem Vorwand, die Schwachen der Gesellschaft auslöschen zu müssen. Es ist die einzige Sportart, die es hier bei uns gibt. Wenn man es Sport nennen kann«, sagt Bradwell und geht wieder los. »Sie kriegen Punkte für das Töten von Menschen.«
»Es ist besser, wir gehen ihnen aus dem Weg«, sagt Pressia zu Partridge, um dann – sie weiß nicht warum, vielleicht nur wegen des Eindrucks – hinzuzufügen: »Du wärst volle zehn Punkte wert.«
»Nur zehn?«, fragt Partridge.
»Genau genommen sind zehn Punkte ein Kompliment«, sagt Bradwell über die Schulter nach hinten.
»In diesem Fall – danke«, sagt Partridge. »Vielen herzlichen Dank.«
»Wer weiß, was sie mit dir anstellen würden, wenn sie rausfinden, dass du ein Reiner bist«, sagt Pressia.
Eine Weile gehen sie schweigend weiter. Partridge denkt an das, was Bradwell im Kühlhaus gesagt hat. Und weg bist du. Einfach so. Niemand in eurem Kapitol schert sich darum? Niemand macht sich auf die Suche nach dir? Sie suchen nach ihm, keine Frage. Sie werden die Jungs verhören, mit denen er sich in letzter Zeit unterhalten hat, einschließlich der Lehrer, jeden, dem er sich möglicherweise anvertraut haben könnte. Lyda. Er fragt sich, was sie mit ihr gemacht haben.
Es ist feucht hier unten. Die Pfützen stinken. Die Luft ist abgestanden und steht. Partridge beschwert sich nicht, doch er ist überrascht, wie sehr der unterirdische Marsch an seinen Nerven zerrt und wie erleichtert er ist, als Bradwell endlich stehen bleibt und sagt: »Lombard Street. Müsste gleich hier über uns sein. Bist du bereit?«
»Absolut«, sagt Partridge.
»Warte«, warnt ihn Pressia. »Erwarte nicht zu viel.«
Sieht er so naiv aus? »Keine Sorge, okay?«
»Ich will nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst.« Sie sieht ihn auf eine Weise an, die er nicht zu entziffern vermag. Hat sie etwa Mitleid mit ihm? Ist sie am Ende sauer? Oder gar fürsorglich?
»Ich mache mir keine falschen Hoffnungen«, sagt er. Das ist eine Lüge – er will etwas finden, wenn nicht seine Mutter, dann irgendetwas, das ihn zu ihr führt. Sollte er nichts finden, weiß er nicht, wie er von hier aus weitermachen soll. Dann wäre seine Flucht aus dem Kapitol völlig sinnlos gewesen, und es gibt keinen Weg zurück. Bradwell hat gesagt, er soll zurückgehen ins Kapitol und zu seinem Vater. Aber das ist vermutlich unmöglich. Könnte er zurückkehren zu Glassings und seinen Vorlesungen über Weltgeschichte? Könnte er sich mit Lyda treffen, mit dem Laserstift auf dem Gras zwischen den Schlafgebäuden Dates ausmachen? Oder würden sie unter Narkose seine Persönlichkeit grundlegend verändern? Würde er – wieder mal – Nadelkissen spielen? Würden sie ihn verwanzen? Oder ihm sogar einen Ticker einpflanzen?
Der Ausstieg hat zwar eine alte rostige Leiter, doch Partridge springt hoch und packt die Umrandung, um sich nach draußen zu ziehen wie bei seiner Flucht durch die Tunnel des Kapitols. Es kommt ihm vor, als sei das Jahre her.
Oben hat es einmal eine Reihe Häuser gegeben, die alle eingestürzt sind. Eine Straßenlaterne liegt herum wie ein vom Blitz gefällter Baum, gleich neben den Skeletten zweier vollkommen ausgeschlachteter Autowracks. An der Ecke entdeckt er die Kirchturmspitze, von der Bradwell gesprochen hat. Die Kirche ist eingestürzt und die Turmspitze in die Trümmer gekracht. Sie ragt jetzt hinaus, zur Seite geneigt, deutet nicht mehr gen Himmel wie das Kreuz auf dem Kapitol.
»Da wären wir«, sagt Bradwell gleichmütig. »Lombard Street.« Partridge ist ziemlich sicher, dass er etwas wie Freude oder gar Selbstgefälligkeit heraushört.
Eine Brise wirbelt Asche und Staub auf, doch Partridge verzichtet darauf, sein Gesicht zu bedecken. Er geht ein paar Schritte die Straße hinunter. Lässt den Blick über die Trümmer schweifen. Was hofft er zu finden? Irgendwelche Überreste aus der Vergangenheit? Den Staubsauger? Das Telefon? Irgendeinen Hinweis auf Häuslichkeit? Seine Mutter auf einem Liegestuhl beim Lesen eines Buches, mit frischer Limonade für ihn?
Pressia berührt seinen Arm. »Tut mir leid.«
Er sieht sie an. »Ich suche die zehn-vierundfünfzig Lombard Street«, sagt er und wiederholt wie ein Roboter: »Zehn-vierundfünfzig.«
»Machst du Witze?« Bradwell lacht. »Es gibt keine zehn-vierundfünfzig Lombard Street! Es gibt überhaupt keine Lombard Street mehr. Sie ist weg, siehst du das nicht?«
»Ich suche die zehn-vierundfünfzig Lombard Street«, beharrt Partridge. »Du verstehst das nicht!«
»Ich verstehe das sehr gut«, widerspricht Bradwell. »Du kommst hierher, in diese ausgebombte Stadt, mischst dich unter alle die Unglückseligen und meinst, du hättest ein Recht darauf, deine Mutter zu finden, einfach so. Du glaubst, es wäre dein Recht und stünde dir zu, weil du gelitten hast für wie lange? Eine Viertelstunde?«
Partridge hält seinem Blick stand, doch sein Atem geht schwer. »Ich werde weitersuchen«, sagt er. »Bis ich zehn-vierundfünfzig Lombard Street gefunden habe. Deswegen bin ich schließlich hergekommen.« Er geht die dunkle Straße hinunter.
»Bradwell«, hört er Pressia hinter sich sagen.
»Hörst du das?«, entgegnet Bradwell. Die Gesänge des Kesseltreibens sind immer noch zu hören. Partridge weiß nicht, wie weit weg oder wie nah sie sind. Die Stimmen scheinen durch die gesamte Stadt zu hallen. »Du hast nicht viel Zeit.« Es muss kurz vor Anbruch der Morgendämmerung sein.
Pressia holt Partridge ein.
Er bleibt stehen. Er hat ein Haus entdeckt, von dem das Erdgeschoss noch steht. Planen wurden über die alten Fenster gespannt. Er hört leises Singen.
»Wir müssen uns beeilen«, sagt Pressia zu ihm.
»Da ist jemand drin«, sagt er.
»Ehrlich – wir haben nicht viel Zeit.«
Er nimmt den Rucksack von den Schultern, öffnet ihn und zieht einen Plastikbeutel mit einem Foto hervor.
»Was ist das?«, will Pressia wissen.
»Ein Bild von meiner Mutter«, antwortet Partridge. »Ich will wissen, ob die Leute in dem Haus sich an sie erinnern.« Er geht zur Tür, die nicht länger eine Tür ist, sondern ein Loch mit einer großen Platte aus Schalholz, die von innen dagegengesetzt wurde.
»Lass es«, sagt Pressia. »Du weißt doch überhaupt nicht, was das für Leute sind dadrin!«
»Ich muss«, sagt er.
Sie schüttelt den Kopf. »Dann wickle dich wenigstens in deinen Schal.«
Er tut wie geheißen und zieht die Kapuze über, bis nur noch die Augen zu sehen sind.
Das Singen ist unterdessen lauter geworden, eine schrille, hohe Stimme, die eine schräge Melodie mehr flötet oder trällert als singt.
Partridge klopft gegen die Schalholzplatte.
Das Singen verstummt. Ein Klappern ist zu hören, wie von Pfannen. Dann Stille.
»Hallo?«, ruft Partridge laut. »Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich habe eine Frage.«
Keine Antwort.
»Ich hatte gehofft, hier vielleicht Hilfe zu finden«, sagt er.
»Komm schon«, drängt Pressia. »Lass uns verschwinden!«
»Nein!«, widerspricht er, obwohl der Sprechgesang des Kesseltreibens von Minute zu Minute näher kommt. »Geh du, wenn du willst. Das hier ist alles, was ich habe. Meine einzige Chance.«
»Na schön«, sagt Pressia. »Aber beeil dich.«
»Ich suche jemanden«, ruft er gegen die Schalholzplatte. Wieder Stille. Partridge sieht zu Bradwell, der mit den Fingern schnippt und ihnen bedeutet, sich zu beeilen. Partridge versucht es noch mal. »Ich brauche wirklich Hilfe!«, sagt er. »Es ist wichtig. Ich suche meine Mutter.«
Aus dem Innern ertönt ein weiteres Klappern, dann antwortet eine sehr alte Stimme: »Nenn deinen Namen!«
»Partridge«, sagt er und beugt sich in Richtung des verhangenen Fensters. »Partridge Willux.«
»Willux?«, fragt die Stimme überrascht. Anscheinend ruft der Name bei jedem eine Reaktion hervor.
»Wir haben zehn-vierundfünfzig Lombard Street gewohnt«, sagt er drängend. »Ich habe ein Foto dabei.«
Hinter der Plane kommt eine alte, klauenartige Hand hervor. Sie ist metallisch und rostig.
Partridge will das Foto nicht hergeben. Es ist das einzige, das er hat. Aber er tut es.
Es wird mit spitzen Fingern gepackt, dann verschwindet die Hand.
Der Morgen dämmert, wird ihm bewusst. Die Sonne schiebt sich über den Horizont.
In diesem Moment wird die Plane angehoben, sehr langsam, und gibt den Blick auf das Gesicht einer alten Frau frei – blass und bedeckt von Glasscherben. Sie gibt Partridge das Foto wortlos zurück, doch ihre Augen wirken fern, seltsam. Sie sieht aus wie von Erinnerungen geplagt.
»Haben Sie sie gekannt?«, fragt Partridge.
Die alte Frau sieht die Straße hoch und runter. Sie bemerkt Bradwell in den Schatten und tritt zurück. Sie senkt die Plane ein wenig, dann sieht sie Partridge tief in die Augen. »Ich will dein Gesicht sehen«, sagt sie.
Partridge blickt Pressia fragend an. Sie schüttelt den Kopf.
»Ich kann dir helfen«, sagt die alte Frau. »Aber zuerst muss ich dein Gesicht sehen.«
»Warum?«, fragt Pressia und tritt näher. »Sag einfach, was du weißt. Die Informationen sind wichtig für ihn.«
Die Alte schüttelt den Kopf. »Ich muss sein Gesicht sehen.«
Partridge zieht den Schal herunter.
Die Alte mustert ihn und nickt. »Genau, wie ich’s mir dachte.«
»Was soll das heißen?«, fragt Partridge.
Die Frau schüttelt den Kopf.
»Sie haben gesagt, Sie würden mir die Informationen geben, wenn ich Ihnen mein Gesicht zeige. Das habe ich getan.«
»Du siehst aus wie sie«, sagt die alte Frau.
»Wie meine Mutter?«, fragt Partridge.
Die Alte nickt. Der Sprechgesang wird immer lauter. Pressia zupft an Partridges Ärmel. »Wir müssen los!«
»Lebt sie noch?«, fragt Partridge.
Die alte Frau zuckt die Schultern.
Bradwell pfeift. Sie haben keine Zeit mehr. Partridge kann die Schritte der Miliz hören, das Geräusch zahlreicher schwerer Stiefel, die Stimmen, die sich im Gleichklang heben und senken. Die Luft scheint zu vibrieren.
»Haben Sie sie nach den Explosionen gesehen?«, fragt Partridge.
Die alte Frau schließt die Augen und flüstert etwas kaum Verständliches.
Pressia zieht an Partridges Ärmel. »Wir müssen los! Sofort!«
»Was haben Sie gesagt?«, ruft Partridge der alten Frau zu. »Haben Sie sie gesehen oder nicht? Hat sie die Bomben überlebt?«
Endlich hebt die alte Frau den Kopf. »Er hat ihr das Herz gebrochen«, sagt sie. Und dann schließt sie die Augen und fängt laut an zu singen – eine schrille, gequälte Melodie, als wollte sie auf diese Weise alles andere um sich herum ausblenden.