PRESSIA

Osten

Pressias Nacken ist bandagiert mit blutdurchtränkter Gaze, gehalten von dem Lederband, das sie ihr um den Hals gebunden haben wie einen Kragen. Sie sitzt auf einer der Matratzen am Boden und lehnt mit dem Rücken gegen die Wand, um noch zusätzlichen Druck auf die Wunde in ihrem Nacken ausüben zu können.

Der Chip, saubergewischt und von Blut befreit, ist weiß. Er liegt auf dem Boden wie ein verlorener Zahn – etwas, das zuvor tief in ihr verwurzelt war und nun nicht mehr. Aus irgendeinem Grund fühlt sie sich nicht befreit, sondern als hätte sie eine weitere Verbindung zu irgendjemandem in der Welt verloren – jemandem, der über sie gewacht hat –, und das fühlt sich an wie etwas, das sie betrauern sollte, selbst wenn sie weiß, dass dieses Überwachen nicht das Geringste mit elterlicher Liebe zu tun hatte.

Bradwell wuselt hektisch um sie herum. Die Vogelschwingen auf seinem Rücken stehen nicht eine Sekunde still. Er zieht einen Rasenmäher aus dem Regal, dann stößt er ihn zurück. Er nimmt eine Pflanzschaufel, dann starrt er den Boden an.

Partridge setzt sich neben Pressia auf die Matratze. »Was macht er da?«

»Er ist in einem Rausch«, sagt sie. »Ich würde ihn in Ruhe lassen.«

»Wie geht es dir? Alles okay?«, fragt er sie.

Die Puppenkopffaust. Sie hebt die Puppenkopffaust. Die Augen öffnen sich klickend. Selbst die Lider sind bedeckt von Asche. Die Wimpern verklebt. Das kleine Loch im Puppenmund ist verstopft. Sie streicht mit der gesunden Hand über den Plastikkopf und spürt ihre verlorene Hand darunter. So kommt ihr jetzt ihre Mutter vor – irgendwie da, dumpf, unter der Oberfläche lauernd. »Solange ich mich nicht bewege …« Sie beendet den Satz nicht. Sie ist wütend auf Partridge. Warum? Ist sie eifersüchtig? Er hat Erinnerungen an ihre gemeinsame Mutter und sie nicht. Er war im Kapitol. Sie nicht.

»Das war also alles«, sagt Partridge mit einem Nicken in Richtung des kleinen weißen Chips auf dem Boden. »So viel Aufwand für etwas so Kleines.« Er stockt. »Ich wusste es nicht«, sagt er dann. »So etwas hätte ich nie verheimlicht. Nicht vor dir, meine ich.«

Sie kann ihm nicht in die Augen sehen.

»Ich wollte nur, dass du das weißt.«

Sie nickt. Die Bewegung erzeugt einen stechenden Schmerz in ihrem Nacken, der sich nach oben bis in ihren Kopf fortpflanzt. »Was denkst du jetzt über sie?«, fragt sie ihn.

»Ich weiß es nicht.«

»Ist sie immer noch eine Heilige? Sie hat deinen Vater betrogen«, sagt Pressia. »Sie hat ein außereheliches Kind geboren, einen Bastard.« Sie hat noch nie von sich als Bastard gedacht, doch aus irgendeinem Grund gefällt ihr die Vorstellung. Bastard. Es vermittelt eine gewisse Härte.

»Ich bin nicht hergekommen, weil ich einfache Antworten erwarte«, sagt Partridge. »Ich bin froh, dass es dich gibt.«

»Danke«, sagt sie und lächelt.

»Merkwürdig finde ich allerdings, dass mein Vater von dir gewusst haben muss. Er hat dich all die Jahre beobachtet, als hätte er es gewusst. Ich frage mich, wie er die Nachricht aufgenommen hat.«

»Nicht besonders gut, könnte ich mir denken.«

Pressia nimmt den Chip in die gesunde Hand. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie denkt die Worte Mutter – Gutenachtlieder – und Vater – warmer Mantel. Pressia ist ein roter Punkt auf einem Schirm, pulsierend wie ein schlagendes Herz. Ja, das Kapitol hat von ihrer Existenz gewusst. Sie stand unter Beobachtung, vielleicht ihr ganzes Leben lang. Aber vielleicht haben auch ihre Eltern sie beobachtet.

Abrupt fragt Bradwell: »Ist deine Mutter in die Kirche gegangen?«

»Wir haben jeden Sonntag die Karte durchgezogen«, antwortet Partridge. »Wie alle anderen auch.«

Pressia erinnert sich an einen Ausdruck, den Bradwell im Verlauf seines Mini-Vortrags benutzt hat. Karten durchziehen. Die Überlagerung von Kirche und Staat. Kirchgänger hatten Karten. Der Besuch der Messe wurde kontrolliert und registriert.

»Nicht alle sind in die Kirche gegangen«, sagt Bradwell. »Beispielsweise alle diejenigen, die sich weigerten, die Kirche weiter zu besuchen, nachdem sie vom Staat übernommen wurde, und die dann in ihren Betten im Schlaf erschossen wurden.«

»Warum fragst du?«, will Partridge wissen.

Bradwell setzt sich wieder. »Weil die Geburtstagskarte eine religiöse Botschaft enthielt. Was stand da noch mal, Partridge?«

»Bleib immer im Licht. Folge deiner Seele. Möge sie Flügel haben. Du bist mein Leitstern, wie der, der im Osten aufging und die Weisen aus dem Morgenland führte.«

»Der Stern im Osten. Die Weisen aus dem Morgenland. Sie kommen in der Bibel vor«, sagt Pressia. Ihr Großvater kann ganze Abschnitte der Bibel auswendig. Er hat sie oft bei Beerdigungen vorgetragen.

»War das typisch für deine Mom?«, fragt Bradwell.

»Ich weiß nicht«, antwortet Partridge. »Sie hat an Gott geglaubt, schätze ich, aber sie sagte auch, dass sie das von der Regierung sanktionierte und überwachte Christentum ablehnte, gerade weil sie Christin war. Die Regierung hätte ihr die Heimat und Gott gestohlen. ›Und dich auch‹, hat sie mal zu meinem Vater gesagt. ›Dich hat sie mir auch gestohlen.‹« Partridge lehnt sich zurück, als würde er sich gerade erst daran erinnern. »Eigenartig, dass diese Worte die ganze Zeit in meinem Unterbewusstsein waren. Ich kann beinahe hören, wie sie es sagt.«

Pressia wünscht, sie hätte Worte von ihrer Mutter, die sie aus ihrer Erinnerung ausgraben kann. Eine Stimme. Wenn ihre Mutter die Frau ist, die das Schlaflied singt, dann hätte sie etwas – den Text, die Worte von jemand anderem.

»Also ist sie vielleicht ehrlich gemeint«, sagt Bradwell.

»Und wenn sie ehrlich gemeint ist?«, fragt Partridge.

»Dann ist sie nutzlos«, sagt Bradwell.

»Wenn sie ehrlich ist, dann ist das gemeint, was draufsteht«, sagt Pressia. »Das ist nicht nutzlos.«

»Für uns im Augenblick schon«, entgegnet Bradwell. »Deine Mutter wollte, dass du dich an bestimmte Dinge erinnerst. Zeichen. Verschlüsselte Botschaften. Die Kette. Ich hatte gehofft, die Karte könnte uns zu ihr führen. Aber vielleicht war es ihre Art, Lebewohl zu sagen. Dir einen Rat mitzugeben für dein ganzes späteres Leben.«

Sie schweigen ein paar Minuten. Pressia lehnt sich wieder gegen die kühle Wand. Wenn es der Ratschlag ihrer Mutter war, was hat sie damit sagen wollen? Folge deiner Seele. Möge sie Flügel haben. Bleib immer im Licht. Sie stellt sich vor, ihre Seele hätte Flügel. Sie stellt sich vor, wie sie dieser Seele folgt. Wohin würde sie sie führen? Es gibt keinen Ort, zu dem sie gehen kann. Sie sind umgeben von Meltlands und Deadlands. Es gibt auch kein reines Licht mehr – alles liegt unter einem dreckigen Ascheschleier. Was, wenn ihre Mutter wirklich noch lebt, irgendwo? Wie legt man Spuren, wenn man weiß, dass die Welt ausradiert wird?

»Du bist mein Leitstern, wie der, der im Osten aufging und die Weisen aus dem Morgenland führte«, wiederholt Partridge. »Ob sie will, dass wir nach Osten gehen?«

Bradwell zieht eine Karte aus der Innentasche seiner Jacke – die gleiche Karte, die sie benutzt haben, um die Lombard Street zu finden. Er breitet sie auf dem Boden aus. Das Kapitol befindet sich im Norden, umgeben von kahlem Land, das in aufkeimende Wälder übergeht, bevor die Stadt anfängt. Die Meltlands sind ehemalige geschlossene Wohnanlagen, die die Stadt im Osten, Süden und Westen umgeben. Hinter diesem Ring erstrecken sich die Deadlands.

»Die Hügel dort im Osten waren ein Nationalpark«, sagt Bradwell.

»Und in dem Märchen gräbt sich die Schwanenfrau in die Erde. Vielleicht ist sie in einem Bunker in diesen Hügeln«, sagt Pressia.

»Okay. Morgen gehen wir nach Osten«, sagt Partridge.

»Aber das könnte genau falsch sein«, entgegnet Pressia.

»Osten ist alles, was wir haben«, sagt Bradwell.

Pressia sieht ihn an. Sie bemerkt helle goldene Flecken in seinen dunkelbraunen Augen. Sie sind ihr vorher noch nie aufgefallen. Es sieht wunderschön aus – wie Honig. »Alles, was wir haben?«, fragt sie ihn. »Du hast deine Schuld bezahlt, klar?«

»Ich bin trotzdem dabei«, sagt Bradwell.

»Nur, wenn du aus freien Stücken dabei bist.«

»Okay, ich bin freiwillig dabei. Ich habe meine eigenen Gründe. Akzeptierst du das?«

Pressia zuckt die Schultern.

Bradwell nimmt ihre Hand und lässt die Halskette hineinfallen. »Die solltest du tragen«, sagt er.

»Nein«, widerspricht sie. »Sie gehört mir nicht.«

»Aber ja«, sagt Partridge. »Sie gehört jetzt dir. Sie würde es so wollen. Du bist ihre Tochter.«

Tochter – das Wort klingt so fremd.

»Möchtest du oder nicht?«, fragt Bradwell.

»Ja.«

Bradwell öffnet den zierlichen Verschluss. Sie dreht sich um, hebt ihre Haare, vorsichtig wegen des Verbands. Er hebt den Anhänger an der offenen Kette mit beiden Händen über ihren Kopf und verschließt die Spange wieder. Dann tritt er zurück. »Sieht hübsch aus«, sagt er dann.

Sie betastet den Anhänger mit einem Finger. »Ich habe noch nie eine richtige Kette gehabt«, sagt sie. »So weit ich mich erinnern kann.«

Der Anhänger ruht auf ihrer Brust unterhalb des Lederwürgers, der den Druckverband in ihrem Nacken hält, in der Vertiefung zwischen ihren Schlüsselbeinen. Der Stein leuchtet in strahlendem Blau. Dieser Anhänger hat früher ihrer Mutter gehört. Er hat ihre Haut berührt. Was, wenn er ein Geschenk von Pressias Vater war? Wird sie jemals irgendetwas über ihn erfahren?

»Ich sehe sie in dir«, sagt Partridge in diesem Moment. »Es ist die Art, wie du den Kopf neigst, wie du gestikulierst.«

»Ehrlich?« Die Möglichkeit, dass sie ihrer Mutter ähnlich sehen könnte, macht sie glücklicher, als sie es je für möglich gehalten hätte.

»Ja. Und in deinem Lächeln«, sagt Partridge.

»Ich wünschte, mein Großvater könnte es sehen«, sagt sie zu ihnen. Sie erinnert sich, wie er zu ihr sagte, als er ihr die Clogs schenkte, er wünschte, sie wären etwas Schöneres, und dass sie etwas Schönes verdient hätte.

Und da ist es. Ein kleines Stück Schönheit.