PRESSIA

Tattoos

Und dann überschlagen sich die Ereignisse.

»Wir haben nicht viel Zeit«, sagt Partridge. »Überhaupt nicht viel.«

»Okay«, sagt Aribelle an Pressia gewandt. »Nimm die Blumendecke von dem Stuhl dort. Und du, Partridge, hebst mich bitte heraus und setzt mich in den Stuhl.«

Pressia tut wie geheißen. Unter der Decke ist ein Rohrsessel mit Rollen. Die Rollen bestehen aus gehämmertem, rundem Blech mit Gummirändern. Der Sitz ist mit kleinen Kissen gepolstert. »Ich bin verwanzt«, sagt Pressia. »Meine Augen und meine Ohren.«

»Das Kapitol?«, fragt Aribelle.

Pressia nickt.

»Was wollen sie von dir?«, fragt Aribelle, während Partridge den zerbrechlichen Körper seiner Mutter aus der Kapsel hebt und in den Stuhl setzt. Ihre künstlichen Gelenke klicken und klappern.

»Was hier drin ist«, sagt Partridge.

»Insbesondere alles, was nach Medikamenten oder Drogen aussieht. Wir glauben, dass es ihnen hauptsächlich darum geht«, sagt Pressia.

Aribelle benutzt ihre Zange, um einen Hebel an der Seite des Stuhls umzulegen, und ein kleiner Motor im Heck beginnt zu summen. Freiliegende Kolben setzen sich in Bewegung. »Also stehen sie vor dem Zusammenbruch«, sagt sie. »Die klassischen Zeichen sind ein leichtes Zittern der Hände und des Kopfes. Eine Lähmung. Augen und Gehör lassen nach. Als Nächstes baut die Haut ab und wird dünn und trocken. Schließlich lösen sich Knochen und Muskeln auf, und die Organe versagen. Es nennt sich ›Schnelle Zelldegeneration‹ und ist die Folge exzessiver genetischer Codierung. Wir wussten, dass es irgendwann so weit kommen würde.«

»Mein Vater ist krank«, sagt Partridge, es ist ihm plötzlich klar geworden. »Ich dachte, er wäre nur wütend auf mich und würde deswegen unablässig den Kopf schütteln und beinahe unbewusst seinen Ärger zeigen. Jetzt wird mir klar, warum er diese Medikamente so dringend haben will.«

Aribelle erstarrt. »Also ist er ziemlich lebendig?«, fragt sie steif.

»Ja«, antwortet Partridge.

»Ich hatte meine Gründe anzunehmen, dass er tot ist.«

»Welche Gründe?«

Sie benutzt die Zange, um den Kragen ihrer Bluse herunterzuziehen und die Haut über ihrem Herzen zu entblößen. Dort befinden sich sechs kleine Quadrate, deren Umrisse in der Haut kaum sichtbar sind. Drei der Quadrate pulsieren, drei nicht. »Jeder von uns trägt den Herzschlag des anderen unter der Haut, sodass wir immer wissen, wer lebt und wer nicht.« Sie deutet auf die beiden ersten Quadrate. »Diese hier sind tot. Ivan ist sehr jung gestorben, kurze Zeit, nachdem wir die Pulse implantiert hatten. Der zweite hier starb kurz bevor die Bomben fielen, und der Herzschlag deines Vaters hörte kurz danach auf.«

»Er hat Narben auf der Brust«, sagt Partridge. »Ich habe sie mal gesehen. Eine Reihe von Narben genau wie diese hier.«

Aribelle atmet tief ein und aus. »Er hat gesagt, er wäre fertig mit uns allen. Er würde sich von uns losreißen. Das hat er gemeint. Er hat uns mit dem Messer rausgeschnitten. Das ergibt Sinn – er wollte, dass wir ihn für tot halten und dafür hat er in Kauf genommen, nicht über unser Leben Bescheid zu wissen.«

»Was ist mit den anderen drei?«, fragt Pressia.

Aribelle deutet der Reihe nach auf jedes der pulsierenden Quadrate. »Bartrand Kelly. Avna Ghosh und Hideki Imanaka.«

»Mein Vater?«, fragt Pressia.

Ihre Mutter nickt.

Pressias Augen füllen sich mit Tränen. »Er lebt also noch?«

»Die Tatsache, dass sein Herz noch schlägt, hilft mir, selbst am Leben zu bleiben.«

»Warum diese Pulse?«, fragt Partridge. »Was hat euch alle miteinander verbunden?«

»Idealismus.« Sie rollt zum Tisch und schaltet die Computer ein. Bildschirme leuchten auf. Funkgeräte knacken. »Wir waren von den Besten und Klügsten angeworben worden. Zweiundzwanzig aus der Gruppe wurden für ein Ende-der-Welt-Szenario ausgewählt. Wir waren noch halbe Kinder, keine zwanzig Jahre alt. Aus dieser Gruppe wiederum wählte dein Vater eine Art innere Gruppe aus. Er dachte, wir bräuchten einen inneren Kreis. Er war brillant und verloren. Sein Verstand arbeitete mit rasender Geschwindigkeit, schon vor der Verbesserung. Ich habe erst im Nachhinein begriffen, dass er von Anfang an verrückt war.« Sie betrachtet Pressias Anhänger. »Dein Vater, Emi, hat mir diesen Anhänger gegeben«, sagt sie. »Ich kannte die Inschrift. Der Schwan war von Anfang an ein wichtiges Symbol für uns sieben. Doch dann tötete die Operation Phoenix den Schwan und verwandelte das Symbol in einen Vogel, der aus der Asche auferstehen kann. Es war Ellery Willux’ Idee. Hideki wollte, dass ich der Schwan bin, der zum Phoenix wird und alles überlebt, wovon wir wussten, dass es kommen würde. Er nannte mich seinen Phoenix.« Sie schließt die Augen, und Tränen rollen über ihre Wangen. »Es fing alles so gut gemeint an. Wir wollten die Welt retten, nicht sie vernichten.«

»Warum bist du überhaupt nach Japan gegangen?«, fragt Pressia.

»Imanaka, dein Vater, hat großartige Arbeit geleistet. Die Japaner haben eine sehr geheime Geschichte, was die Bomben und Strahlung angeht. Sie waren allen anderen weit voraus, was Widerstandsfähigkeit und Abwehr angeht. Seine Forschungsergebnisse und mein Fachgebiet, Traumaheilung durch biomedizinische Nanotechnologie, fügten sich nahtlos ineinander, und Ellery, Partridges Vater, wollte, dass ich nach Japan gehe und herausfinde, ob Imanaka Fortschritte machte. Er hatte Angst, eines Tages zu verfallen. Imanakas Informationen waren für ihn wichtiger als alles andere. Ich nehme an, dass sich daran nichts geändert hat, ganz im Gegenteil. Er braucht die Informationen dringender als je zuvor.«

Sie sieht Pressia an, wohl wissend, dass sie verwanzt ist. »Es gibt noch mehr Überlebende hier draußen. Wenn Ghosh und Kelley und Imanaka leben, dann leben auch andere. Ellery will sicher verhindern, dass diese Nachricht im Kapitol zirkuliert, aber ich weiß, dass es so ist. Ich konnte bisher mit niemandem Kontakt aufnehmen, der weiter als hundert Meilen entfernt ist, weder über Radio, Satellit oder was auch immer. Nichts funktioniert. Das Kapitol blockiert alles. Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf.« Pressia denkt an die Heilige Wi und Bradwell, der in der Krypta vor der Statue kniet und betet. Hoffnung.

»Du hast die Resistenz in den Griff bekommen, oder?«, fragt Partridge. »Du hast mich irgendwie resistent gegen die Codierungen gemacht.«

»Ja, aber es ging nicht schnell genug. Wir konnten nichts tun, um die Bomben zu verhindern – nur Abwehr und Reparatur. Wir wussten, dass es nicht viele Leben retten würde. Dass unzählige Menschen sterben würden – aber wir konnten den Überlebenden die Verschmelzungen und die Vergiftungen ersparen. Wir wollten die entscheidenden Substanzen ursprünglich in die Trinkwasserversorgung einspeisen, doch das war zu riskant. Die Dosierungen, die für einen Erwachsenen erforderlich waren, konnten ein Kind töten. Das ist der Grund, warum ich mich mit dir begnügen musste, Partridge. Ich konnte dich nicht ganz resistent machen. Du warst damals erst acht Jahre alt und nicht robust genug für eine vollständige Behandlung.«

»Du hast mich gegen Verhaltenscodierung resistent gemacht.«

»Ich wollte, dass du du selbst bleibst. Ich wollte, dass du das Recht behältst, Nein zu sagen und für das einzustehen, was du für richtig hältst. Ich wollte, dass dein Charakter unversehrt bleibt.«

»Und ich?«, fragt Pressia.

Ihre Mutter schöpft zitternd Atem. »Du warst anderthalb Jahre jünger und klein für dein Alter. Es war zu riskant, dich zu behandeln. Du bist in Japan geblieben, bei deinem Vater und seiner Schwester. Ich konnte nicht mit einem Baby nach Hause zurückkehren. Ich wäre sofort in ein Therapiezentrum gesteckt worden und dort gestorben.

Ich fand heraus, was mein Ehemann vorhatte – die vollständige Vernichtung – und als ich erfuhr, dass er kurz vor seinem Ziel stand, ließ ich dich kommen. Ich musste es meinem Mann sagen – ich hatte keine andere Wahl. Er war wütend, aber das war noch nicht alles. Ich kann das jetzt nicht alles erklären. Es sind Dinge, die in der Vergangenheit liegen. Dunkle Machenschaften, von denen ich wusste, dass sie wahr sind, von denen er nicht wollte, dass ich sie weiß. Ich konnte nicht im Kapitol leben. Ich hatte einen Plan, wie ich ihm die Jungen wegnehmen konnte. Ich sah, dass er sich schnell weiterbewegte mit seinem fiebrigen Gehirn, und ich wusste, dass er überstürzte Entscheidungen traf. Er verfügte über unglaubliche Machtfülle und war niemandem Rechenschaft schuldig. Ich musste außerdem meine Tochter hier bei mir haben, im Bunker und in Sicherheit. Es gab Verzögerungen, Probleme mit den Ausweisen. Deine Tante sollte dich mit dem Flugzeug bringen. Das Bombardement lag mutmaßlich noch Wochen in der Zukunft. Doch dann rief mich dein Vater an, Partridge. Er sagte, dass der Tag gekommen wäre. Es war alles schneller gegangen als erwartet. Er wollte, dass ich ins Kapitol gehe. Er bettelte mich förmlich an.

Ich wusste, dass er die Wahrheit sagte. Es gab bereits merkwürdige Verkehrsbewegungen. Leute, die einen Tipp bekommen hatten, hatten sich auf den Weg ins Kapitol gemacht. Endlich war auch das Flugzeug mit meiner Tochter Emi unterwegs. Ich sagte Nein zu Ellery. Ich sagte ihm, er solle den Jungs sagen, dass ich sie liebe. Er sollte es ihnen jeden Tag sagen, sollte es mir versprechen. Er legte auf. Ich fuhr zum Flughafen, so schnell ich konnte, voller Panik. Ich erhielt einen Anruf von deiner Tante, Emi, sobald das Flugzeug gelandet war. Ich dachte immer noch, wir könnten es bis zurück in den Bunker schaffen, bevor die Bomben hochgehen. Ich parkte den Wagen und rannte zur Gepäckausgabe. Ich habe dich gesehen, Emi, neben deiner Tante, durch die Scheibe hindurch. Du warst so klein und so vollkommen – mein Mädchen! Ich rutschte aus und fiel hin, landete der Länge nach auf dem Boden. Als ich aufblickte, gab es einen grellen Lichtblitz, und das Glas der Scheibe zersprang. Ich war mit den Fliesen verschmolzen – an Armen und Beinen. Einige meiner Leute wussten, wo ich hinwollte. Sie spürten mich auf. Sie legten mir vier Abschnürbinden an, und dann benutzten sie die Säge. Ich war gerettet, und entgegen allen Erwartungen überlebte ich.«

»Wusstest du, dass ich auch noch lebte?«, fragt Pressia.

»Du hattest einen Chip. Jeder Ausländer, der dieses Land besuchte, musste sich vorher einen Chip implantieren lassen.

Unsere Ausrüstung nach den Bombardierungen war dürftig. Wir konnten die Bewegungen der Chips auf den Schirmen verfolgen, allerdings nur lückenhaft. Als wir deinen Chip fanden, benutzte ich die Informationen deines Retina-Scans – Daten, die dein Vater mir aus Japan geschickt hatte. Er befand sich in einem der strahlengesicherten Computer und überstand die Bomben mit geringen Problemen. Ich hatte auch Scans von den Jungs. Ich konstruierte kleine geflügelte Boten – unsere Zikaden. Ich sandte sie aus zu deinen Koordinaten. Sie trugen ebenfalls Chips. Die meisten wurden zerstört, bevor sie ihr Ziel erreichten. Ein einziger kam durch.«

»Ich hatte einen Chip«, sagt Pressia. »Du wusstest die ganze Zeit über, wo ich war. Du hättest jemanden schicken können, der mich holt und zu dir bringt!«

»Die Zustände hier im Bunker waren grauenhaft, Emi. Die Enge, Krankheiten, Feindseligkeiten untereinander. Wie hätte ich mich um dich kümmern sollen, in meinem Zustand? Ich hätte dich nicht einmal halten können!« Sie hebt ihre Prothesenarme und deutet auf einen Computerbildschirm. Es ist eine Karte, die Pressia wiedererkennt – der Markt, Trümmerfelder, der Friseurladen von Pressias Großvater. »Der Chip war ein ständiger Blip auf dem Schirm, die Zikade war bei dir, ständig in deiner Nähe. Oft waren eure Blips so nah beieinander, dass es keine andere Erklärung gab – du hast sie in der Hand gehalten. Und dein Chip begann eine Geschichte zu erzählen. Nachts war er ruhig, immer an der gleichen Stelle, zur gleichen Zeit. Dann wurde er wach und aktiv, auch das immer zur gleichen Zeit. Er streifte umher und kehrte schließlich zurück zur alten Stelle – seinem Zuhause. Es war die Geschichte eines Kindes, das umsorgt wurde. Eines Kindes mit einem geregelten Tagesablauf. Eines gesunden Kindes, das besser dran war, wo es war, als hier im Bunker. Dir ging es gut, oder nicht? Jemand hat sich um dich gekümmert, jemand, der dich liebte?«

Pressia nickt. »Ja«, sagt sie, und Tränen rinnen über ihre Wangen. »Jemand hat sich um mich gekümmert. Großvater. Er hat mich geliebt.«

»Und vor ein paar Tagen wanderte dein Chip unvermittelt los und kehrte nicht mehr zurück. Du warst gerade sechzehn Jahre alt geworden, und ich machte mir Sorgen wegen der OSR. Zur gleichen Zeit kamen uns Gerüchte über einen Reinen zu Ohren – und dann kehrte die alte Zikade aus unserem ersten Schwarm zum Bunker zurück. Deine Zikade.« Aribelle öffnet eine Schublade in einem Schrank unter dem Computertisch. Die Schublade leuchtet warm. Es ist ein Brutkasten, und auf einem kleinen Stück Stoff liegt Freedle.

»Sie hatte keine Botschaft. Zuerst dachte ich, es wäre nichts als ein merkwürdiger Zufall, doch wegen all der anderen Dinge, die zur gleichen Zeit passierten, hoffte ich, dass es ein Zeichen war.«

»Freedle«, sagt Pressia. »Geht es ihm gut?«

»Müde von der weiten Reise, aber ansonsten erholt er sich wieder. Er ist alt geworden. Trotzdem, jemand hat sich all die Jahre liebevoll um seine empfindliche Mechanik gekümmert.«

Freedle neigt den Kopf und flattert mit einem einzelnen Flügel. Eine Serie von Klicks ertönt. »Ich habe mein Bestes gegeben«, sagt Pressia und streichelt Freedle behutsam mit einem Finger über den Rücken. »Ich kann kaum glauben, dass er bis hierher gekommen ist. Mein Großvater …«, ihre Stimme versagt. »Er ist tot«, fährt sie schließlich fort. »Aber vorher muss er Freedle freigelassen haben.«

»Du solltest Freedle hierlassen«, sagt Partridge. »Er ist sicherer hier.«

Pressia ist nicht sicher, warum, doch die kleine, unbedeutende Tatsache, dass Freedle noch am Leben ist, erfüllt sie mit einer wilden, unbändigen Hoffnung.

»Emi«, sagt Aribelle. »Ich denke, ich muss jetzt ein paar Dinge sagen, die das Kapitol nicht hören darf.«

»Ich gehe nach draußen und warte.« Pressia sieht Partridge an und berührt seinen Arm. »Du musst sie warnen«, flüstert sie. »Sedge. Er ist nicht mehr der Junge, den sie in Erinnerung hat.«

»Ich weiß.«

Pressia geht zu ihrer Mutter und gibt ihr einen Kuss auf die Wange.

»Wir beeilen uns«, sagt Aribelle.