PRESSIA

Licht

Pressia hat die Orientierung verloren. Der Wagen ist in eine Staubwolke gehüllt. Vor ihnen erstreckt sich die kahle, öde Landschaft. Osten. Wo früher einmal ein Nationalpark war. Das ist alles, was sie haben. Und vielleicht ist es nicht einmal eine richtige Fährte. Vielleicht ist es völlig ohne Bedeutung. »Rauchsignale würden helfen«, sagt sie.

Bradwell blickt überrascht auf. »Du hast recht«, sagt er, als hätte er die gleichen Gedanken gehabt. »Das Kapitol würde die Signale sehen, aber irgendwas in der Art könnten wir brauchen.«

»Sag den Text noch mal«, fordert Pressia Partridge auf. »Von der Geburtstagskarte. Von Anfang an. El Capitán hat ihn noch nicht gehört.«

»Es ist zwecklos«, sagt Partridge. »Hier draußen ist nichts. Noch weiter im Osten gibt es nichts außer einem Hügel und dahinter noch mehr totes Nichts. Was machen wir überhaupt hier draußen, außer unser Leben riskieren?«

»Sag den Text auf«, verlangt Bradwell.

Partridge seufzt. »Also schön. Bleib immer im Licht. Folge deiner Seele. Möge sie Flügel haben. Du bist mein Leitstern, wie der, der im Osten aufging und die Weisen aus dem Morgenland führte. Einen glücklichen neunten Geburtstag, Partridge! In Liebe, deine Mom. Jetzt zufrieden?«

»Bleib immer im Licht«, wiederholt El Capitán.

»Im Licht«, sagt Helmud.

»Sagt mir nichts«, sagt El Capitán.

»Mir nichts«, sagt Helmud.

Pressia öffnet den Verschluss der Halskette. Schmerz schießt durch die Wunde in ihrem Nacken. Sie starrt auf den Anhänger in ihrer Hand, den blauen Augenstein. Sie hebt den Anhänger und sieht mit zusammengekniffenem Auge hindurch. Die elende Landschaft sieht blau aus. »Wie haben diese 3-D-Brillen funktioniert?«, fragt sie. »Du weißt schon, die Dinger, die die Leute im Kino aufgesetzt haben?«

»Es gab verschiedene«, sagt Bradwell. »Einige funktionierten mit zwei unterschiedlich gefärbten Gläsern, einem roten und einem blauen, während auf der Leinwand zwei Filme gleichzeitig abgespielt wurden. Andere Brillen hatten polarisierte Gläser, mit denen horizontale und vertikale Bilder aussortiert wurden.«

»Wäre es möglich, dass jemand ein Lichtsignal aussendet, das man nur mit einer bestimmten Linse sehen kann?«, fragt Pressia nachdenklich.

»Im Kapitol gab es diesen Jungen, Arvin Weed. Er hat mit seinem Laser Botschaften auf den Rasen vor dem Mädchenwohnheim geschrieben«, sagt Partridge, während er mit dem Knöchel gegen die Scheibe klopft und nach draußen starrt, als versuche er, sich den Rasen vorzustellen. »Einige meinten, er würde versuchen, einen Laser zu entwickeln, den nur seine Freundin sehen kann.«

»Okay. Wenn man gefunden werden möchte und keine Rauchsignale benutzen kann«, sagt Pressia, »dann könnte man doch vielleicht eine bestimmte Form von Licht verwenden, die man nur durch eine spezielle Linse sehen kann.«

»Was weißt du über Licht, Partridge?«, fragt Bradwell. »Infrarot und UV? Lernt ihr viel über Naturwissenschaften im Kapitol?«

»Ich war nicht gerade ein guter Schüler«, antwortet Partridge. »Wir haben Möglichkeiten, derartige Lichtquellen zu finden. Das ist nicht weiter schwierig. Aber Weed hatte recht. Es gibt verschiedene Arten von Licht. Er könnte einen Strahl zum Fenster seiner Freundin schicken, direkt von seinem eigenen Fenster aus, und sie könnte seine Botschaft mit einer speziellen Linse empfangen, die andere Frequenzen als unser sichtbares Licht einfängt. Ihr wisst schon – zweihundertzweiundsechzig, dreihundertneunundvierzig, dreihundertfünfundsiebzig und so weiter.«

Pressia und Bradwell sehen sich an. Nein, keiner von ihnen weiß etwas darüber. Pressia entdeckt eine Falte auf Bradwells Stirn. Er ist frustriert, weil er so was nicht weiß. Sie beide wurden um eine Ausbildung betrogen, die Partridge als selbstverständlich erachtet. Partridge bemerkt nichts von alldem. »Die Strahlen müssten genau auf die empfangende Person gerichtet sein, weil Laserlicht nicht streut«, fährt Partridge fort. »Und sie würde eine Linse brauchen, um das Licht zu entdecken.«

»So ähnlich wie Hunde, die einen Pfeifton jenseits unseres Hörbereichs wahrnehmen«, sagt Bradwell.

»Vermutlich, ja«, sagt Partridge. »Ich hatte nie einen Hund.«

»Licht kann also in einem Spektrum existieren, das man nur mit einem speziellen Filter wahrnehmen kann, ist das richtig?«, fragt Pressia.

»Ganz genau«, sagt Partridge.

Sie spürt, wie ein Schauer über ihren Rücken läuft. Sie hebt den blauen Stein des Schwanenauges ein weiteres Mal an das eigene Auge und sieht hindurch. Die Landschaft vor ihr versinkt in blau. »Was, wenn das hier nicht einfach ein blaues Auge ist«, sagt sie. »Was, wenn es unser Filter ist, unsere Linse?«

»Bleib immer im Licht«, sagt Partridge.

Pressia sieht zu den Hügeln und schwenkt den Blick hin und her. Sie passiert ein kleines glitzernd helles Licht, hält inne und kehrt zu der Stelle zurück. Das Licht leuchtet wie ein Signal, wie ein Stern auf einem Weihnachtsbaum im Davor.

»Was ist denn?«, fragt Bradwell.

»Ich weiß nicht«, sagt sie. »Ein kleiner weißer Lichtpunkt.« Pressia justiert ihren Blickwinkel und entdeckt ein weiteres weißes Licht ein Stück weiter entfernt in den Hügeln. »Kann es sie sein?«, fragt sie. Wenn es das Werk ihrer Mutter ist, dann ist es das Erste, was sie jemals von ihr erfahren hat – eigenständig, ohne Geschichten oder Fotos und ohne verschwommene Vergangenheit. Ihre Mutter ist ein kleiner weißer Lichtpunkt am Horizont.

»Aribelle Cording Willux«, sagt Bradwell einmal mehr, genau wie beim letzten Mal, ein wenig ehrfürchtig und verblüfft zugleich.

»Kann ich mal sehen?«, bittet Partridge.

Pressia gibt ihm den Anhänger.

Partridge hebt ihn ans Auge und starrt durch die Seitenscheibe nach draußen. »Nichts«, sagt er. »Nur ein verschwommener blauer Dunst.«

»Such weiter«, sagt Pressia. Sie ist nicht verrückt. Sie hat das Licht gesehen. Es war da, eindeutig.

Und dann sieht er es auch. Pressia spürt es sofort. »Warte«, sagt er. »Es ist direkt vor uns.«

»Wenn ihr recht habt, dann verschwindet es aus unserer Sicht, sobald wir näher dran sind«, gibt Bradwell zu bedenken. »Wir müssen einen Fixpunkt finden, der uns auf der richtigen Spur hält.«

»Wir sind bis hierher gekommen«, sagt Partridge.

»Vielleicht haben wir ja Glück«, sagt El Capitán.

Helmuds Hände fummeln nervös hinter dem Rücken seines Bruders. In seinen Augen glänzt etwas, das in Pressia den Verdacht weckt, er könnte klüger sein, als es scheint. »Ja, Glück«, murmelt er.