PRESSIA
Klopf, klopf
Pressia arbeitet bis spät in die Nacht an ihren kleinen Tieren. Ihr Großvater schläft neben der Hintertür, aufrecht in seinem Sessel, den Ziegelstein auf dem Oberschenkel. Er hat die Tauschgeschäfte übernommen, und seitdem das so ist, brauchen sie mehr und mehr der gebastelten Tierchen für weniger und weniger Gegenleistung. Manchmal ist er zu krank, um es überhaupt bis zum Markt zu schaffen, und dann fühlen sich beide nutzlos, was beide hassen. Sie merkt inzwischen am Hunger, wie die Zeit vergeht. Während der letzten Nächte ist ihr allmählich klar geworden, dass sie hier langsam sterben könnte, vor sich hin dämmern in einem dreckigen Schrank in einem beengten Raum. Sie betrachtet ihren Großvater, den Stumpf mit den Drähten, die geschlossenen Augen, das Leuchten seiner Verbrennungen, das mühsame Heben und Senken seiner Brust, das leise Schnaufen von der Asche in seinen Lungen, den surrenden kleinen Ventilator in seiner Kehle. Sein Gesicht ist verkniffen, sogar im Traum.
Bradwells Geschenk verwahrt sie auf dem Tisch, das Bild aus der Zeitschrift. Manchmal hasst sie die Menschen mit ihren 3-D-Brillen – eine gemeine Erinnerung an etwas, das sie niemals haben wird –, doch sie schafft es irgendwie trotzdem nicht, das Bild wegzutun.
Seit sie das Geschenk aufgemacht hat, sind mehr Erinnerungen in ihr aufgestiegen, kurze Blitze: ein kleines Aquarium mit hin und her schwimmenden Fischen, wie sich die wollene Quaste an der Handtasche ihrer Mutter anfühlte, das weiche Garn in ihrer Hand, ein Heizapparat unter einem Tisch, der leise surrte. Sie auf den Schultern ihres Vaters, während er unter blühenden Bäumen hindurchwandert. Sie eingewickelt in seinen Mantel, während sie schlafend aus dem Wagen ins Bett getragen wird. Sie erinnert sich, wie sie die Haare ihrer Mutter gebürstet hat. Aus einem kleinen Computer ein Kinderlied, gesungen von einer Frau – das Bild von einem Mädchen auf der Veranda, und jemand bittet sie, ihre Hand zu nehmen und mit ihm ins Gelobte Land zu reiten. Nur die Stimme, keine Instrumente. Es muss das Lieblingslied ihrer Mutter gewesen sein. Sie hat es jeden Abend für Pressia zum Einschlafen angemacht. Damals war Pressia das Lied bald leid, doch jetzt würde sie nahezu alles opfern, um es noch einmal zu hören. Ihre Mutter … sie roch wie Seife und Gras. Sauber. Süß. Ihr Vater roch stärker, mehr wie Kaffee. Das Bild der Leute im Kino befeuert ihre Erinnerung irgendwie, und sie vermisst ihre Eltern so sehr, dass sie manchmal nicht mehr atmen kann. Es sind nur bruchstückhafte Erinnerungen, aber sie fühlt sich von ihrer Mutter umhüllt – der Weichheit ihres Körpers, dem seidigen Haar, der Süße ihres Geruchs, der Wärme. Als ihr Vater sie in den Mantel wickelte, fühlte sie sich wie in einem Kokon.
Darüber denkt sie nach, während sie mit geschickten Fingern Flügel an den Skelettrahmen eines Schmetterlings befestigt. Plötzlich klopft es an der Tür. Es ist ein scharfes Geräusch, ein einzelnes Klopfen mit dem Knöchel. Kein Motorengeräusch von einem Truck der OSR. Wer kann das sein?
Pressias Großvater schläft tief und fest. Er schnarcht. Sie steht auf und schleicht auf Zehenspitzen zum Tisch, was gar nicht so einfach ist in holländischen Clogs – hatten die Holländer etwa nie einen Grund, auf Zehenspitzen zu schleichen? Sie packt ihren Großvater an den Schultern und schüttelt ihn. »Jemand ist an der Tür!«, flüstert sie drängend.
Er schreckt genau in dem Moment hoch, als ein zweites Klopfen durch den kleinen Raum hallt.
»Los, in den Schrank!«, sagt er. Sie haben ausgemacht, dass sie sich dort versteckt, wenn jemand kommt. Wenn er mit seinem Stock klopft und ein Codewort sagt, Rasieren und Haareschneiden, bitte, was wohl irgendwas mit Friseurläden zu tun hat, soll sie durch das getarnte Paneel auf der Rückseite flüchten.
Sie geht hastig zum Schrank und klettert hinein. Sie lässt die Tür einen winzigen Spaltbreit offen, sodass sie sehen kann, was im Zimmer passiert.
Ihr Großvater humpelt zur Tür und späht durch ein kleines Loch, das er in das Holz gebohrt hat. »Wer ist da?«, fragt er.
Pressia hört eine Stimme auf der anderen Seite, eine Frauenstimme. Sie kann nicht verstehen, was sie sagt, doch es scheint ihren Großvater irgendwie zu beschwichtigen. Er öffnet die Tür, und die Frau kommt rasch herein, atemlos. Er schließt hinter ihr die Tür.
Pressia sieht die Frau in kleinen Häppchen – den Rost auf den Zahnrädern in ihrer Wange, ein Stück glänzendes Blech über einem ihrer Augen. Sie ist dünn und klein und hat eckige Schultern. Sie hält einen blutigen Lappen gegen ihren Ellbogen. »Kesseltreiben!«, berichtet sie Pressias Großvater. »Unangekündigt! Wir hatten erst vor einem Monat eins! Fast hätten sie mich erwischt!«
Ein Kesseltreiben? Das ergibt keinen Sinn. Die OSR kündigt so was vorher an. Sie lässt ihre Soldaten vierundzwanzig Stunden lang Stämme bilden, damit sie Menschen jagen und töten und zu einem markierten Feld im Gebiet des Gegners tragen können. Jeder Tote gibt Punkte, und wer die meisten Punkte hat, gewinnt. Die OSR sieht es als Methode, um die Schwachen aus der Bevölkerung auszusondern. Sie veranstalten etwa zweimal im Jahr ihr vorher angekündigtes Kesseltreiben, doch das letzte ist gerade erst vorbei. Es war zu der Zeit, als Pressias Großvater beschloss, die Schränke auszuschlachten und das falsche Paneel einzusetzen – denn die Geräusche seiner Arbeit waren in dem allgemeinen wilden, stampfenden Durcheinander nicht zu hören. Es hat noch nie zwei Kesseltreiben so dicht nacheinander gegeben, und vor allem noch niemals ohne Vorankündigung. Vermutlich ist die Frau übergeschnappt, denkt Pressia, oder sie hat einen Schock.
»Bist du sicher? Ein Kesseltreiben?«, fragt Pressias Großvater in diesem Moment. »Ich hab überhaupt keine Sprechgesänge gehört.«
»Woher sonst habe ich diese Wunde hier? Es war draußen, hinter den Trümmerfeldern, Richtung Westen und in vollem Gang. Ich bin hierhergerannt statt nach Hause.« Die Frau ist gekommen, um sich nähen zu lassen, aber es ist so lange her, dass Pressias Großvater jemanden genäht hat, dass er erst mal sein Besteck am Ende des Schranks suchen und es abstauben muss.
»Mein Gott, was für ein Tag«, sagt die Frau. »Zuerst all die Gerüchte, dann das Kesseltreiben!« Sie setzt sich an den Tisch und betrachtet Pressias Tierchen. Ihr Blick fällt auf das Bild, und sie streicht behutsam mit einem Finger darüber. Pressia ärgert sich, dass sie es dort liegen gelassen hat. »Du hast die neuesten Gerüchte sicher schon gehört, oder?«
»Nicht dass ich wüsste. Ich war heute noch nicht draußen.« Großvater setzt sich der Frau gegenüber und untersucht die klaffende Wunde.
»Du weißt noch gar nichts?«
Pressias Großvater schüttelt den Kopf und macht sich daran, seine Instrumente mit Alkohol abzureiben. Das Zimmer füllt sich mit dem antiseptischen Geruch.
»Ein Reiner«, sagt sie mit gesenkter Stimme. »Ein Junge ohne Narben, ohne Verschmelzungen, ohne Wunden. Es heißt, er wäre ausgewachsen, dieser Junge – groß und schlank und mit kurz geschorenen Haaren.«
»Unmöglich«, sagt Pressias Großvater. Pressia denkt das Gleiche. Die Leute lassen sich immer wieder was Neues über die Reinen einfallen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ein Gerücht wie dieses gehört hat. Und nicht eines davon hat sich als wahr herausgestellt.
»Er wurde in den Drylands gesehen«, sagt die Frau. »Und dann war er wieder verschwunden.«
Pressias Großvater lacht, und das Lachen verwandelt sich in ein Husten. Er dreht den Kopf zur Seite und hustet, bis er keine Luft mehr bekommt.
»Kannst du das überhaupt noch?«, fragt die Frau. »Hast du nässende Lungen, oder was?«
»Mir geht’s gut. Es ist der Ventilator in meinem Hals, weißt du? Ich atme zu viel Staub ein und muss ihn irgendwie nach draußen schaffen.«
»Ist außerdem nicht höflich zu lachen«, sagt die Frau.
Pressias Großvater beginnt mit dem Nähen der Wunde. Die Frau verzieht das Gesicht.
»Wie oft haben wir so was schon gehört?«, fragt er.
»Diesmal ist es anders«, beharrt die Frau. »Diesmal sind es keine betrunkenen Mehrlinge. Diesmal waren es drei verschiedene Leute, die ihn gesehen haben. Jeder hat ihn gesehen und es berichtet. Sie sagen alle, er hätte sie nicht bemerkt, und sie haben ihn nicht angesprochen, sich nicht genähert, weil sie gespürt haben, dass er heilig ist.«
»Gerüchte. Nichts als Gerüchte.«
Sie verstummen vorübergehend, während Pressias Großvater die Wunde der Frau näht. Das Gesicht der Frau ist starr geworden, die Zahnräder ineinander verschränkt. Pressias Großvater tupft das Blut weg. Er arbeitet schnell und zielstrebig, betupft die Wunde mit Alkohol, verbindet sie.
»Fertig«, sagt er schließlich, und die Frau krempelt ihren Ärmel runter, über die Bandage. Sie gibt ihm eine kleine Dose Fleisch, dann nimmt sie ein Stück Obst aus ihrem Sack. Es ist hellrot mit einer dicken Haut, ähnlich einer Orange. »Eine Schönheit, nicht wahr?« Sie reicht ihm das Obst als Bezahlung.
»War nett, Geschäfte mit dir zu machen«, entgegnet ihr Großvater und nimmt die Frucht.
Die Frau zögert. »Glaub mir, was ich dir erzählt habe, oder lass es sein. Aber wenn es einen Reinen gibt, der aus dem Kapitol gekommen ist, dann weißt du, was das bedeutet.«
»Nein«, sagt Pressias Großvater. »Was bedeutet es? Sag du es mir!«
»Wenn es einen Weg nach draußen gibt, dann gibt es auch einen Weg nach drinnen.« Pressia fröstelt plötzlich. Dann hebt die Frau den Finger ans Ohr. »Hörst du das?«, fragt sie.
Und jetzt hört Pressia in der Tat etwas – den weit entfernten Singsang eines Kesseltreibens. Was, wenn die Frau am Ende doch nicht verrückt ist? Pressia wünscht sich, dass die Gerüchte über den Reinen wahr sind. Sie weiß, dass Gerüchte nützlich sein können. Manchmal enthalten sie echte Informationen. Meistens sind es jedoch Lügen oder Märchen. Dieses ist die schlimmste Sorte – die Sorte von Gerücht, die einen in Bann schlägt, einem Hoffnung macht.
»Wenn es einen Weg nach draußen gibt«, sagt die Frau erneut, sehr langsam und gelassen diesmal, »dann heißt das, es gibt auch einen Weg hinein.«
»Wir kommen niemals da rein«, sagt Pressias Großvater ungeduldig.
»Ein Reiner!«, sagt die Frau. »Ein Reiner, hier, mitten unter uns!«
In diesem Moment hören alle das Rumpeln eines Trucks in der Gasse. Sie verstummen erschrocken.
Ein Hund bellt wütend, ein Schuss fällt, und das Bellen ist verstummt. Pressia weiß, welcher Hund es war – sie hat ihn an seinem Bellen erkannt. Ein Hund, der zu oft geschlagen wurde, der nur Angriff oder Ducken kennt. Er hat ihr immer leidgetan, und manchmal hat sie ihm kleine Happen zu fressen gegeben – nicht von der Hand, sie war nicht so dumm, dem Tier völlig zu vertrauen.
Sie hält die Luft an. Alles verstummt, mit Ausnahme des leisen Leerlaufrumpelns draußen in der Gasse. Morgen früh wird jemand verschwunden sein.
Ihr Großvater klopft mit dem Stock auf den Boden, Rasieren und Haareschneiden, bitte, doch Pressia ist noch nicht bereit zu gehen. Sie will ihren Großvater nicht verlassen. Er geht rasch zu seinem Sessel. Nimmt den Ziegelstein und wiegt ihn in einer Hand.
Die Frau hält ihre Wunde und späht vorsichtig aus dem Fenster. »OSR!«, flüstert sie verängstigt.
Pressias Großvater starrt zu Pressia, und ihre Blicke begegnen sich in dem kleinen offenen Spalt der Schranktür. Sein Atem geht schnell, und seine Augen sind geweitet. Verloren. Er sieht verloren aus.
Gelähmt vor Angst überlegt Pressia, was wohl aus ihm werden wird ohne sie. Vielleicht ist die OSR wegen jemand anderem gekommen, vielleicht wegen des Jungen namens Arturo oder wegen der beiden Zwillingsmädchen, die im Anbau wohnen. Nicht dass sie sich wünschte, es wären die Mädchen oder der Junge. Wie kann sie irgendjemandem die OSR an den Hals wünschen?
Sie kann sich nicht rühren.
Draußen in der Gasse hört sie einen gedämpften Schrei, Stiefel, die über das Pflaster scharren. Nicht hierher, flüstert sie zu sich selbst. Bitte, nicht hierher! Sie wartet auf das Hochdrehen des Motors, das Einrücken der Kupplung, doch der Truck rührt sich nicht, ein konstantes leises Rumpeln in der Gasse.
Ihr Großvater tappt erneut mit dem Gehstock auf den Boden, fester diesmal – Rasieren und Haareschneiden, bitte!
Sie muss los. Doch bevor sie geht, malt sie mit dem Finger einen Kreis mit zwei Augen und einem lächelnden Mund in die Asche auf der Schranktür. Ich komme zurück, soll das heißen. Wird er es sehen? Wird er es verstehen? Was, wenn sie nicht bald wieder nach Hause kommt? Was, wenn sie es nicht schafft und nie wieder zurückkehren wird?
Pressia atmet tief durch, dann boxt sie mit der Puppenkopffaust gegen das rückwärtige Paneel. Es gibt ein wenig nach, dann fällt es heraus und landet klappernd auf dem staubigen Boden des Friseurladens. Licht strömt in den Schrank.
Pressias Herz schlägt bis zum Hals. Sie blickt sich in der schattigen, leeren Hülle des Ladens um. Der größte Teil des Dachs wurde weggerissen und gibt den Blick auf den düsteren Nachthimmel frei. Sie fühlt sich schutzlos in dem freien Raum nach der Enge des Schranks.
Es gibt nur noch einen einzigen Stuhl im Friseurladen, einen Drehstuhl mit Fußpumpe, die den Stuhl hebt oder senkt. Der Tresen vor dem Stuhl ist ebenfalls vollkommen intakt geblieben. Drei Kämme schweben in einem staubbedeckten Glasbehälter in einer trüben blauen Flüssigkeit, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Rasch schlüpft sie in den Schatten der Mauer und gleitet an der Wand entlang, vorbei an der Reihe zerschmetterter Spiegel. Sie hört das Rumpeln eines zweiten Trucks. Es ist seltsam, dass mehr als einer gekommen sind. Sie hockt sich hin und hält den Atem an. Rührt sich nicht. Sie hört ein Radio im Truck spielen, die blecherne Version eines alten Lieds mit einer kreischenden E-Gitarre und einem pumpenden Bass. Sie kennt das Lied nicht. Wenn die OSR Leute holt, hat sie gehört, dann werden ihnen die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und der Mund zugeklebt. Aber drehen sie das Radio laut, wenn sie durch die Gegend fahren? Irgendwie macht das alles noch schlimmer.
Sie duckt sich, so tief sie kann. Sie versucht nicht zu atmen. Sind sie nur wegen ihr gekommen? Ein Truck blockiert die Gasse, ein anderer die Hauptstraße, die parallel dazu verläuft. Alle Spiegel sind zerbrochen, bis auf einen Handspiegel, der auf der Theke liegt. Sie hat ihren Großvater mal gefragt, wozu diese Handspiegel gut waren. Er hat ihr erklärt, dass sie benutzt wurden, um den Kunden ihren Kopf von hinten zu zeigen. Sie versteht nicht, warum jemand seinen Kopf von hinten sehen will – wozu wäre das gut?
Von ihrem Platz aus kann sie das Kapitol sehen, genau im Norden, hoch oben auf dem Berg. Es sieht fast aus wie eine Kugel, hell und leuchtend, starrend vor dunklen, bedrohlichen Waffen, eine glitzernde Festung, gekrönt von einem mächtigen Kreuz, das sogar durch die aschegesättigte Luft hindurchstrahlt. Sie denkt an den Reinen, der angeblich in den Drylands gesehen wurde, groß und schlank mit kurzen Haaren. Es ist ein Gerücht, muss ein Gerücht sein, weiter nichts – es kann nicht wahr sein. Wer würde das Kapitol verlassen, um hierherzukommen und gejagt zu werden?
Der Truck schiebt sich langsam vor. Ein Suchscheinwerfer leuchtet in den Raum. Sie rührt sich nicht.
Der Lichtstrahl trifft eine dreieckige Scherbe, und für eine Sekunde starrt sie in ihre eigenen Augen, mandelförmig wie die ihrer japanischen Mutter, so wunderschön, so jung. Und die Sommersprossen ihres Vaters auf dem Nasenrücken. Und dann die sichelförmige Brandnarbe um ihr linkes Auge herum.
Was wird aus Freedle, wenn sie geht? Eines Tages wird er den Geist aufgeben.
Der Lichtkegel des Suchscheinwerfers gleitet weiter, und der Truck rumpelt vorbei. Auf der Seite steht OSR in fetten Lettern, zusammen mit einer schwarzen Klaue. Pressia ist mucksmäuschenstill, bis der brummende Motor und das Lied aus dem Radio in der Nacht verklungen sind. Der andere Truck ist immer noch in der Gasse. Sie hört lautes Geschrei, doch es ist nicht die Stimme ihres Großvaters.
Sie späht durch die großen Löcher, in denen früher einmal Fensterscheiben waren. Es ist dunkel und kalt. Niemand ist auf der Straße. Sie gleitet im Schatten der Wand zum geborstenen Rahmen der Vordertür. Dort gibt es ein eigenartiges verrostetes Rohr, bemalt mit schrägen roten und blauen Streifen. Es ist verbogen und geborsten. Ihr Großvater hat ihr erzählt, dass alle Friseurläden so ein Zeichen hatten, ein Symbol, das früher einmal etwas bedeutet hat. Sie tritt über die Schwelle nach draußen, hält sich dicht an der verwitterten Hauswand.
Was war der Plan? Verstecken. Das riesige alte Bewässerungsrohr, das ihr Großvater ihr einmal gezeigt hat, ist drei Blocks entfernt. Er glaubt, dass sie dort sicher ist. Aber ist sie jetzt überhaupt noch irgendwo sicher?
Bradwell, denkt sie. Der Untergrund. Sie hat immer noch die gefaltete Karte zu seinem Versteck, die er ihr in die Tasche geschoben hat. Vielleicht ist er zu Hause, bereitet sich auf seinen nächsten Vortrag in Schattengeschichte vor. Was, wenn sie zu ihm geht und sich für das Geschenk bedankt, so tut, als wäre es nicht fies, sondern nett gemeint gewesen? Würde er sie aufnehmen? Er schuldet ihrem Großvater noch einen Gefallen, weil der ihn genäht hat, aber sie würde niemals zu ihm gehen und diesen Gefallen einfordern. Niemals. Trotzdem beschließt sie, sich bis zu ihm durchzuschlagen. Fandra hat nicht überlebt, aber ihr Bruder.
Auf dem Fußboden neben der Tür entdeckt sie eine kleine Metallglocke mit verkohltem Stiel. Sie hebt sie auf. Die Glocke macht kein Geräusch – der Klöppel ist verschwunden. Vielleicht kann sie irgendetwas daraus machen, eines Tages.
Sie hält die Glocke so fest gepackt, dass der Rand in ihre Haut schneidet.