PRESSIA
Opfer
Pressia wacht auf. Ihre Wange ruht an etwas Hartem. Ihr Schädel pocht. Sie sieht einen Reifen, einen abgefahrenen Reifen. Aber es ist nicht der Reifen der großen schwarzen Limousine. Sie ist in einem Zimmer, und der Reifen ist klein. Er ist mit einem Motor mit Messern verbunden. Ein Rasenmäher? Sie ist nicht sicher, ob sie wach ist oder träumt oder ob sie in einer Art Jenseits angekommen ist. Ein Keller mit Gartengeräten? Das soll ein Jenseits sein?
Sie versucht sich aufzusetzen.
Rings um sie herum sind Stimmen. Flüsternde Stimmen. »Warte«, sagt eine Frau laut zu ihr. »Nimm dir Zeit.«
Sie ruht sich aus, auf der Seite liegend. Die Dusts fallen ihr wieder ein. El Capitán mit seinem Gewehr. Die Mutter und das Kind. Sie schließt die Augen. »El Capitán und Helmud«, murmelt sie.
»Die beiden Männer im Wagen? Freunde von dir?«
»Sind sie tot?«
»Wir sind wegen dir dort gewesen, nicht wegen ihnen. Ihr Leben ist für uns ohne jede Bedeutung.«
»Wo bin ich?« Sie blickt sich um und sieht Gesichter – Frauen, Kinder in einem Wechsel wie in einem der Fahrgeschäfte, von denen ihr Großvater erzählt hat. Die Kinder sind mit ihren Müttern verschmolzen. Sie starrt von einem zum nächsten.
»Du bist bei uns. Bei Unserer Guten Mutter.«
Mutter? Sie hat keine Mutter. Der Raum ist kalt und klamm. Sie zittert. Körper bewegen sich um sie herum, und hinter ihnen erblickt sie gestapelte Kisten, geschmolzene Spielzeuge, eine Reihe verbogener Briefkästen aus Metall, ein halb geschmolzenes Dreirad.
Pressia richtet sich auf. Eine Frau fasst sie am Ellbogen und hilft ihr, sich hinzuknien. Die Frau hält ein blondes Kind von vielleicht zwei oder drei Jahren. Ein Arm ist mit dem Kopf des Kindes verschmolzen, in beschützender Haltung. »Das ist Unsere Gute Mutter«, sagt die Frau und deutet nach vorn. »Verneige dich vor ihr.«
Pressia hebt den Blick und sieht eine Frau, die auf einem einfachen Holzstuhl mit Plastikverstärkungen sitzt. Sie hat ein einfaches Gesicht, klein und zierlich, ein Mosaik aus Glas. Sie wird nur von einer einzigen Lichtquelle getroffen, und die Strahlen lassen das Glas glitzern. Ihre blasse Haut hat die Perlen an ihrem Hals beinahe vollständig überwuchert. Sie sehen aus wie eine Serie perfekt geformter Tumore. Die Frau trägt ein dünnes, beinahe durchscheinendes Hemd. Durch den Stoff hindurch erkennt Pressia die Umrisse eines riesigen Kreuzes, eingebettet in ihrem Magen und der Brust bis hinauf zu ihrem Kehlkopf. Es drückt ihre Schultern zurück und zwingt sie, gerade zu sitzen. Außerdem trägt die Frau einen langen Rock; bewaffnet ist sie mit einem einfachen, schmiedeeisernen Schürhaken, der auf ihren Knien ruht.
Pressia senkt den Kopf, verneigt sich und verharrt in dieser Haltung, während sie darauf wartet, dass die Gute Mutter ihr schon sagen wird, wann es genug ist. Zu den Füßen der Frau liegen Bradwells Waffen fein säuberlich aufgereiht. Das bedeutet, dass er möglicherweise hier ist. Irgendwie hat er mit dieser Sache zu tun, so viel scheint klar. Bedeutet das, dass er nach ihrem Verschwinden nach ihr gesucht hat? Was ist mit Partridge? Ihr Herz fängt heftig an zu schlagen. Für kurze Zeit durchflutet sie Hoffnung, bis ihr klar wird, dass diese Ansammlung von Waffen bedeutet, dass Bradwell zumindest entwaffnet wurde. Vielleicht sogar getötet.
Haben die beiden ihr die Halskette dagelassen, als Hinweis? Sind sie tot?
Die Halskette. Wo ist sie jetzt?
Pressia ist ganz schwindlig. Blut rauscht in ihren Ohren. Trotzdem rührt sie sich nicht. Sie wartet darauf, dass die Frau mit dem Schürhaken etwas sagt, und schließlich tut sie es auch. »Steh auf.«
»Du wirst sicher wie alle anderen auch wissen wollen«, fährt sie fort, »warum ausgerechnet ein Kreuz? War ich eine Nonne? Fromm? Verschmolzen im Gebet? Wie ist es geschehen?«
Pressia schüttelt den Kopf. Ihr Gehirn ist noch längst nicht an diesem Punkt angekommen. Die Frau redet offensichtlich über das Kreuz in ihrer Brust. »Das geht mich nicht das Geringste an«, antwortet sie.
»Unsere Geschichten sind alles, was wir haben«, sagt die Gute Mutter. »Unsere Geschichten bewahren uns. Wir reichen sie untereinander weiter. Unsere Geschichten haben einen Wert. Verstehst du das?«
Das erinnert Pressia an ihre erste Begegnung mit Bradwell, an seinen Vortrag bei der Versammlung im Keller, seine Idee von der Bewahrung der Vergangenheit. Bradwell … sie wagt gar nicht daran zu denken, was sie fühlen wird, sollte sich herausstellen, dass er tot ist. Die Gute Mutter sieht Pressia abwartend an. Sie hat Pressia eine Frage gestellt, und Pressia kann sich nicht erinnern, was sie gefragt hat. Sie nickt. Ist es die richtige Antwort?
»Ich werde dir meine Geschichte zum Geschenk machen. Ich stand an einem Fenster. Metallrahmen«, sagt die Gute Mutter, während sie mit dem Finger über das in das Brustbein geschmolzene Metallkreuz unter dem Stoff ihres Hemdes fährt. »Ich stand dort, das Gesicht der Scheibe zugewandt, eine Hand am Glas, und starrte hinaus auf den erzitternden Himmel.« Sie streckt Pressia die Hand entgegen, übersät mit Glassplittern. »Siehst du meinen nahen Tod in deinen Gedanken?«
Pressia nickt. Ihre eigene Mutter wurde in einem Regen von Glasscherben getötet. »Die Waffen«, sagt sie und deutet auf den Boden vor der Guten Mutter.
»Geschenke«, sagt diese. »Geschenke von dem Toten, der uns den Reinen gebracht hat. Der Reine ist ebenfalls ein Toter. Für uns sind alle Männer Tote. Aber das weißt du bestimmt.«
Bedeutet das, dass sie noch am Leben sind? Oder töten diese Frauen jeden Mann, dem sie begegnen? Ist das der Grund, warum sie Männer »Tote« nennen?
Hinter Pressia entsteht eine Bewegung. Sie dreht sich um.
Partridge und Bradwell werden in den Raum gestoßen. Sie sind am Leben. Sie sind hier. Sie atmen noch. Pressia ist so erleichtert, dass sie am liebsten losgeheult hätte.
»Auf die Knie, Tote! Auf die Knie vor Unserer Guten Mutter!«, rufen die Frauen.
Partridge und Bradwell knien rechts und links von Pressia nieder. Beide sehen ziemlich mitgenommen aus. Dicke Ringe um die Augen, die Kleidung verdreckt und zerrissen. Trotzdem lächelt Bradwell. Seine Augen glänzen. Er ist glücklich, sie zu sehen, und das wärmt Pressia das Herz und lässt ihre Wangen entflammen.
»Pressia!«, flüstert Partridge. »Sie haben dich gefunden!«
Also wurde sie nicht entführt, sondern gefunden? Haben die beiden die ganze Zeit nach ihr gesucht? Sie war so sicher, dass sie getrennte Wege gehen würden, dass Partridge weiter nach seiner Mutter suchen und Bradwell den Kontakt zu ihm abbrechen würde. Schließlich hat er überlebt, weil er sich nicht mit anderen Leuten abgegeben hat, die ihn belastet hätten. Was also hat es zu bedeuten, dass er sich auf den Weg gemacht hat, um nach ihr zu suchen?
Die Gute Mutter klatscht in die Hände, und alle Frauen und Kinder verneigen sich und ziehen sich zurück. Eine einzige bleibt bei der Tür stehen. Eine Wache.
»Wir dachten, deine beiden Toten hier wären Teil eines Kesseltreibens«, sagt die Gute Mutter zu Pressia. »Wir beteiligen uns nicht an dieser Jagd, doch wenn sie sich, was gelegentlich geschieht, in unser Gebiet verirren, dann töten wir so viele von ihnen, wie wir nur können, bevor sie sich zurückziehen.« Sie schiebt die kleinen Finger in den Griff des Schürhakens.
»Ich bin froh, dass ihr sie nicht getötet habt«, sagt Pressia. Es gibt ihr Hoffnung, dass auch El Capitán und Helmud irgendwie überlebt haben könnten. Vielleicht.
»Ich auch«, sagt die Gute Mutter. »Sie sind auf einer Mission.« Die Gute Mutter erhebt sich schwerfällig; die Längsstrebe des Fensterkreuzes in ihrer Brust macht es erforderlich, dass sie sich mit den Armen hochzieht. Sie bewegt sich steif. »Wir haben ihnen bei ihrer Mission geholfen, zum einen, weil du eine Frau bist. Wir stehen unseren Schwestern bei, wenn es in unserer Macht liegt. Doch es steckt mehr dahinter. Es geht darum, die Mutter dieses Reinen zu finden.« Sie wandert in einem kleinen Kreis durch den Raum. »Ein Reiner ist für mich nicht ohne Wert«, sagt die Gute Mutter. »Auch wenn es vielleicht nur ein ideeller Wert ist.« Sie nickt der Wache zu, die zu Partridge geht und ihm die Spitze ihres Besenstiel-Speers an die Kehle drückt. »Es scheint mir, dass dies keine gewöhnliche Mission, und mehr noch, dass dieser Reine kein gewöhnlicher Reiner ist. Wer seid ihr? Was seid ihr für Leute?«
Partridge sieht mit geweiteten Augen zu Bradwell. Pressia weiß, was er denkt – soll er den Namen seines Vaters nennen? Wird es sein Leben verschonen? Oder ihn erst recht zur Zielscheibe machen?
Bradwell nickt, doch Partridge scheint ihm nicht zu vertrauen. Pressia fragt sich, was zwischen den beiden vorgefallen ist, seit sie von der OSR entführt wurde. Partridge bewegt den Kopf keinen Millimeter, als er jetzt zu Pressia sieht. Er schluckt, und die Speerspitze bewegt sich an seinem Adamsapfel.
»Ripkard«, sagt er. »Ripkard Willux. Man nennt mich Partridge.«
Die Gute Mutter lächelt und nickt. »Sieh mal einer an.« Sie wendet sich Pressia zu. »Erkennst du, wie unaufrichtig er ist? Er hat Informationen zurückgehalten. Er hat Dinge zu sagen, die er uns verschweigt. Alle Toten sind so. Sie können nicht ehrlich sein.«
»Ich verschweige nichts«, sagt Partridge.
»Tote haben nicht zu unserer Guten Mutter zu sprechen, es sei denn, sie werden von ihr dazu aufgefordert!«, sagt die Frau mit dem Speer und versetzt ihm einen Stoß in den Rücken.
Die Gute Mutter wendet sich an Pressia. »Die Bomben«, sagt sie. »Viele von uns waren hier, allein in unseren Häusern oder gefangen in unseren Wagen. Einige gingen nach draußen in die Gärten, um sich den Himmel anzusehen, oder stellten sich – wie ich – an Fenster. Wir hielten unsere Kinder an uns gedrückt. Die Kinder, die wir auf die Schnelle einsammeln konnten. Und es gab die unter uns, die eingesperrt waren. In Gefängnissen oder Anstalten, krank. Wir alle wurden zum Sterben zurückgelassen. Wir waren diejenigen, die die Toten begruben. Die die Sterbenden pflegten. Wir beerdigten unsere Kinder, und als es zu viele wurden, errichteten wir Scheiterhaufen und verbrannten die Leichen. Tote – sie haben uns all das angetan. Früher nannten wir sie Ehemann oder Vater oder Mister oder Herr. Wir sind diejenigen, die ihre schlimmsten Sünden gesehen haben. Während wir gegen die Läden unserer Häuser schlugen wie gefangene Vögel und unsere Köpfe gegen Gefängniswände hämmerten, haben wir sie beobachtet. Wir allein wissen heute, wie sehr sie sich selbst hassten, wie beschämt sie waren, wie schwach, wie selbstsüchtig, wie abscheulich und wie sie diese Gefühle zuerst gegen uns richteten – gegen uns und gegen ihre eigenen Kinder – und schließlich gegen die ganze Welt.« Sie setzt sich wieder auf ihren Stuhl. »Sie ließen uns zum Sterben zurück, und wir tragen heute unsere Kinder mit uns, Kinder, die sich niemals von uns lösen werden, die mit uns verwachsen sind. Unsere Liebe ist unsere Bürde.«
Im Raum ist es still. Einen Moment fragt sich Pressia, was aus dem oder den Kindern der Guten Mutter geworden sein mag. Sie scheint nicht mit einem Kind verschmolzen, sondern lediglich mit den Glassplittern und dem Kreuz des Fensters. Wurden ihre Kinder auf Scheiterhaufen verbrannt?
»Wohin bist du gegangen, als du verschwunden bist?«, will die Gute Mutter von Pressia wissen.
»Die OSR hat mich gefangen und in ein Offizierstraining gesteckt. Zuerst hatte ich keine Ahnung warum. Ich wurde zu einem Außenposten gebracht, einem Farmhaus. Ein Offizier und seine Frau leben dort draußen. Sie arbeiten für das Kapitol. Sie bauen Nahrungsmittel an.«
»Ungenießbare Nahrungsmittel«, sagt die Gute Mutter. »Wir wissen davon. Wir sind bis dorthin vorgedrungen, aber nicht viel weiter. Wir behalten es im Auge.«
»Sie haben meinen Großvater entführt. Er ist im Kapitol. Als Geisel, nehme ich an. Ich habe den Auftrag, den Reinen und seine Mutter zu Ingership zu bringen. Dort draußen streifen Spezialkräfte des Kapitols umher, eine Art halb wilder Superspezies, denen wir Partridge und seine Mutter übergeben sollen.«
»Spezialkräfte?«, fragt Partridge. »Außerhalb des Kapitols?«
»Meine Befehle lauten, nach allem Ausschau zu halten, was nach Medikamenten oder Drogen aussieht, sobald wir deine Mutter gefunden haben«, sagt Pressia. »Sie glauben, dass sie in einer Art Bunker oder Bau ist.«
»Wenn das Kapitol glaubt, dass sie dort ist, dann ist das ein gutes Zeichen, oder?«, fragt Partridge.
»Es bedeutet, dass wir sie finden müssen, bevor das Kapitol sie findet«, sagt Bradwell. »Wir haben Konkurrenz.«
»Ich kann nicht zurück ins Kapitol, und meine Mutter auch nicht. Wir gehen niemals zurück.«
»Wir können helfen«, sagt die Gute Mutter. »Normalerweise spreche ich nicht mit Toten, aber es muss sein. Es ist eine Frage der Bezahlung. Verstehst du, wir haben das Mädchen für euch gefunden, und wenn ihr lebend nach draußen in die Meltlands wollt, um deine Mutter zu finden, dann braucht ihr wohl oder übel unseren Schutz.«
Pressia sieht Bradwell fragend an. Stimmt es, dass sie die Hilfe der Mütter brauchen?
Er nickt.
»Ich weiß nicht, ob wir etwas haben, das euch wertvoll genug erscheint«, sagt Pressia.
Die Gute Mutter betrachtet die Waffen. »Woher habt ihr die?«, fragt sie.
»Aus einer alten Metzgerei«, sagt Bradwell.
»Bist du Metzger?«
»Nein. Ich habe den Laden entdeckt, als ich klein war. Kurz nach den Explosionen.«
»Willst du Waffen als Bezahlung?«, fragt Pressia.
Die Gute Mutter lächelt Pressia an. »Ich habe alle Waffen, die eine Frau sich nur wünschen kann.« Sie streckt die Hand aus. »Gib mir eins von diesen.«
Pressia greift nach unten und hält der Guten Mutter eines der Messer hin, mit gesenktem Kopf und mit dem Griff zuerst.
»Warst du bei deiner Mutter, als es zu Ende ging?«, fragt die Gute Mutter.
»Ja.«
»Verlust ist Verlust ist Verlust«, sagt sie und berührt die Klinge. »Entweder du verstehst es, oder du verstehst es nicht.«
»Was für eine Bezahlung schwebt dir vor?«, fragt Pressia.
Die Gute Mutter beugt sich vor und wendet sich an Partridge. »Wir haben dich schon eine Weile beobachtet, bevor meine Mütter eingeschritten sind. Weißt du, wie oft wir euch inzwischen hätten töten können und auf wie viele Arten?«
Partridge schüttelt den Kopf.
»Wenn du deine Mutter finden willst, brauchst du unsere Hilfe. Die Frage ist also, bist du bereit, dafür ein Opfer zu bringen oder nicht?«
Partridge sieht Bradwell und Pressia an.
»Deine Entscheidung«, sagt Bradwell leise.
Die Gute Mutter zeigt mit dem Messer auf Partridge. »So jedenfalls sehe ich das. Du bist lange genug hier gewesen, oder nicht?«
»Lange genug für was?«, fragt Partridge.
»Um nicht länger ein Reiner zu sein.«
»Ich weiß nicht, was du damit meinst«, sagt Partridge. Pressia denkt an Narben, Verbrennungen, Entstellungen, Verschmelzungen, und dann, im Hinblick auf das Messer, Amputationen.
»Reinheit ist eine Bürde«, sagt die Gute Mutter. »Das haben wir herausgefunden. Wenn du nicht länger ein Reiner bist, wenn du deine Reinheit nicht länger schützen musst, bist du frei.«
Partridge schüttelt heftig den Kopf. »Ich habe nichts gegen diese Bürde.«
»Ich möchte, dass meine Bezahlung zugleich ein Geschenk an dich ist. Ich kann deine Reinheit beenden. Du wirst es nie vollends verstehen, aber ich kann dich zu einem von uns machen, in gewisser Weise.« Sie lächelt ihn an.
Partridge streckt die Hand nach Pressia aus. »Sag ihr, dass das nicht notwendig ist. Uns fällt sicher eine andere Form von Bezahlung ein. Ich bin der Sohn von Willux. Das ist sicher nützlich, oder? Ein direkter Nachkomme?«
»Du bist nicht mehr im Kapitol«, sagt die Gute Mutter.
»Uns fällt sicher etwas anderes ein«, pflichtet Pressia ihm bei.
Unsere Gute Mutter schüttelt den Kopf.
»Worüber genau reden wir hier eigentlich?«, fragt Bradwell leise.
»Ein Symbol, weiter nichts«, sagt die Gute Mutter.
»Was?«, fragt Bradwell. »Einen Finger?«
Pressias Magen zieht sich zu einem Knoten zusammen. Nicht noch mehr Blut, sagt sie sich. Nicht noch mehr Verlust. Nein.
»Ein kleiner Finger«, sagt die Gute Mutter, indem sie den Griff des Messers mit beiden Händen hält. Sie sieht Partridge an. »Die Frauen können dich festhalten.«
Pressia fühlt Panik in sich aufsteigen, als wäre ein Tier in ihr, in ihrem Brustkorb, das tobt und nach draußen will. Sie kann sich gut vorstellen, wie Partridge sich fühlen muss. Er sieht sie verzweifelt an. Bradwell ist der Einzige, der offensichtlich weiß, dass kein Weg um diese Sache herumführt. »Es ist ein Geschenk«, sagt er leise. »Du kommst billig davon. Ein kleiner Finger, mehr nicht.«
»Ich brauche kein Geschenk!«, sagt Partridge. »Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Ich bin froh, dass Pressia wieder da ist. Das reicht mir als Geschenk voll und ganz.«
Pressia will die Gute Mutter bitten, etwas von ihr zu nehmen, doch sie weiß, dass dieser Vorschlag die Gute Mutter in Wut versetzen würde. Die Gute Mutter hasst Tote. Sie würde Pressia verachten wegen ihres Aktes der Selbstopferung. Dann denkt Pressia: Sollte er nicht bezahlen? Immerhin ist es seine Mutter. Er ist hergekommen, um sie zu finden – was hat er denn erwartet?
»Sie schicken uns ohne jeden Schutz nach draußen«, sagt Bradwell. »Wir werden deine Mutter niemals finden, weil wir vorher tot sind.«
Partridge ist wie erstarrt. Er ist bleich. Sein Atem geht stoßweise.
Pressia sieht ihn an. Sie sagt ihm die knallharte Wahrheit: »Wir werden sterben.«
Partridge starrt auf seine Hand. Er sieht Bradwell an. Er hat Bradwells und Pressias Leben schon in Gefahr gebracht. Das hier ist das Mindeste, was er tun kann, und er scheint es zu wissen. Er tritt vor die Gute Mutter und legt eine Hand auf den Tisch. »Halt sie fest«, sagt er zu Bradwell. »Damit ich nicht zurückzucke.«
Bradwell packt Partridges Handgelenk so fest, dass Pressia das Weiße von Bradwells Knöcheln hervortreten sieht. Partridge spreizt den kleinen Finger ab und legt die anderen zusammen.
Die Gute Mutter setzt die Spitze der Klinge neben Partridges kleinem Finger auf die Platte, hebt den Griff an und senkt die Klinge in einer einzigen schnellen Bewegung über Partridges kleinem Finger, genau über dem zweiten Gelenk. Das Geräusch – ein leises Poppen – lässt Pressia nach Luft ringen.
Partridge schreit nicht. Dazu geht es zu schnell. Er starrt auf seine Hand, das hervorsprudelnde Blut, seinen abgeschnittenen Finger auf dem Tisch. Der Stummel muss für einen Moment taub sein, denn Partridges Gesicht ist leer. Dann verzerrt es sich, als der Schmerz einsetzt. Er starrt hinauf zur Decke.
Die Gute Mutter reicht Bradwell einen Lappen und ein Lederband. »Hier. Binde die Wunde fest zu. Und halte sie hoch.«
Bradwell verbindet Partridges Finger. Partridge hält die verwundete Hand mit der anderen Hand fest, dann drückt er sie an seine Brust. Der blutige Verband sieht aus wie ein Bouquet, denkt Pressia. Rote Rosen wie die in Bradwells alten Zeitschriften.
Die Gute Mutter nimmt den abgeschnittenen kleinen Finger und hält ihn wie einen Schatz in der hohlen Hand. »Bringt ihn zurück in euren Raum«, sagt sie zu den beiden anderen. »Frauen warten auf der anderen Seite der Tür. Sie werden euch begleiten.«
»Da ist noch was«, sagt Bradwell.
»Und das wäre?«, fragt die Gute Mutter.
»Der Chip in Pressias Nacken«, sagt Bradwell. »Er arbeitet.«
»Nein, er arbeitet nicht«, widerspricht Pressia.
»Oh doch, er arbeitet«, sagt Bradwell mit Nachdruck.
»Keiner unserer Chips funktioniert noch. Wer sollte sich überhaupt um uns scheren? Wir stolpern mit nichts als unserem nackten Leben hier draußen durch die Ruinen.«
»Aus welchem Grund auch immer, sie haben dich und Partridge irgendwie zusammengetrieben. Es ist ganz offensichtlich für mich«, sagt Bradwell. Er wendet sich an die Gute Mutter. »Gibt es hier Ärztinnen oder Schwestern? Jemanden, der sich mit Chirurgie auskennt?«
Die Gute Mutter geht um Pressia herum und bleibt hinter ihr stehen. Sie nimmt Pressias Haare und hebt sie hoch, sodass der Nacken entblößt ist. Sie betastet die kleine Narbe in Pressias Nacken, einen alten, kaum noch fühlbaren Knoten. Pressia erschauert. Sie will nicht, dass irgendjemand sich an ihrem Hals zu schaffen macht. »Du brauchst ein Messer, Alkohol, saubere Tücher«, sagt die Gute Mutter nüchtern. »Ich lasse dir alles bringen. Du wirst den Schnitt selbst durchführen, Toter.«
»Nein!«, sagt Pressia zu Bradwell. »Sag ihr, dass du das nicht tust!«
Bradwell sieht auf seine Hände. Er schüttelt den Kopf. »Der Chip ist in ihrem Nacken. Es ist gefährlich.«
»Du bist ein guter Metzger«, sagt die Gute Mutter.
»Ich bin genaugenommen überhaupt kein Metzger.«
»Du wirst keinen Fehler machen.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«, fragt Bradwell.
»Weil ich dich töten werde, wenn du einen machst. Es wäre mir ein Vergnügen.«
Das ist kein Trost für Pressia. Bradwell blickt womöglich noch unbehaglicher drein als zuvor. Er reibt sich die Narben auf der Wange.
»Geht jetzt«, sagt die Gute Mutter.
Die Frau mit dem Besenspeer führt sie zur Tür. Partridge geht ein wenig unsicher, als hätte er weiche Knie, und Pressia geht es nicht viel besser. Die Frau öffnet die Tür, und bevor Pressia nach draußen tritt, blickt sie sich noch einmal zur Guten Mutter um, die einen ihrer Arme mit dem anderen Arm wiegt, den Kopf senkt, liebevoll den linken Bizeps ansieht. Pressias Blick folgt dem der Guten Mutter, und da sieht sie, wie sich das hauchdünne Material der Bluse auswölbt und einzieht – alles, was von ihrem Kind übrig ist, einem Neugeborenen, die rosigen Lippen, der dunkle Mund, eingebettet in ihren Oberarm, nichtsdestotrotz lebendig, atmend.