PRESSIA
Spiel
Pressia sitzt auf der Kante ihrer Pritsche und wartet. Worauf? Das weiß sie nicht. Sie hat ihre eigene grüne Uniform. Sie passt. Die Hosen haben Bügelfalten und Umschläge. Die Umschläge haben die richtige Länge und streifen beim Gehen über die Stiefel, die schwer und steif sind. Sie bewegt die Zehen in den Stiefeln. Die Socken sind aus Wolle und warm. Pressia vermisst ihre Clogs nicht. Das würde sie ihrem Großvater zwar niemals sagen, doch sie liebt die Stiefel. Stabile Stiefel, die man beim Laufen nicht verliert.
Es ist ihr peinlich zuzugeben, dass sich das alles so gut anfühlt – Kleidung, die warm ist und passt. Ihr Großvater hat ihr erzählt, dass ihre Eltern ein Bild von ihr gemacht haben am ersten Tag im Kindergarten, gekleidet in eine Uniform, neben einem Baum im Vorgarten. Diese Uniform hier gibt ihr das Gefühl von Robustheit und Schutz. Sie ist Teil einer Armee. Sie hat Rückendeckung. Und sie hasst sich selbst für dieses unleugbare Gefühl von Einheit. Sie hasst die OSR. Zutiefst. Doch ihr dunkles Geheimnis, das sie niemandem gegenüber je offenbaren würde, am allerwenigsten Bradwell, lautet, dass sie die Uniform liebt.
Noch schlimmer ist allerdings, dass die Binde an ihrem Oberarm eine geradezu magische Macht auf die übrigen Jugendlichen im Raum auszuüben scheint. Auf der Binde ist das Symbol der OSR eingestickt, eine schwarze Klaue. Das gleiche Symbol, das auch auf ihren Trucks ist, ihren Bekanntmachungen, allen offiziellen Dingen. Die Klaue bedeutet Macht. Die Kids starren genauso auf die Klaue wie auf den Puppenkopf an ihrem Handgelenk, als würden die beiden sich gegenseitig auslöschen. Sie hasst es, dass die Uniform den Puppenkopf nicht verbirgt. Die Ärmel enden genau am Handgelenk. Aber sie hat jetzt so viel Macht wegen der schwarzen Klaue auf der Armbinde, dass es ihr fast egal ist. Sie spürt einen unerklärlichen Drang, ihnen zuzuraunen, dass sie mit einer Puppenkopffaust möglicherweise ebenfalls so eine Armbinde bekommen hätten. Es ist eine verdrehte Mischung aus Scham und Stolz.
Noch eine weitere Sache, für die sie sich irgendwie schämt, ist, dass sie so gut gegessen hat. Ihr Abendessen am Vortag und das Frühstück heute Morgen wurden ihr auf Tabletts serviert. Beide Male eine Suppe, eine fette dunkle Brühe mit Fleischbrocken darin und Zwiebeln. Dazu zwei Kanten Brot, eine großzügige Ecke Käse und ein Glas Milch. Die Milch ist sogar frisch – irgendwo muss es eine Kuh geben, die Milch gibt. Zu essen kommt ihr vor wie eine Kapitulation, wie ein Betrug an allem, woran sie geglaubt hat. Andererseits, wenn sie hier wieder wegwill, braucht sie Kraft. Zumindest kann sie sich damit ein bisschen vor sich selbst rechtfertigen.
Die anderen haben nur Brot bekommen, dazu dünne Scheiben Käse und Becher mit trübem Wasser. Sie haben Pressia misstrauisch und voller Neid beobachtet.
Keiner der Rekruten sagt ein Wort. Pressia kann sich denken, dass sie fürs Reden bestraft worden sind. Doch sie fragt sich auch, ob für sie nicht andere Regeln gelten. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie richtiges Glück gehabt hat. Scheiß-Glück, das hat El Capitán zu ihr gesagt. Ein richtiges Scheiß-Glück! Sie weiß, dass sie diesem Glück nicht trauen darf. Dass sie nichts und niemandem trauen darf. Die Spezialbehandlung hat mit dem Reinen zu tun, mit Partridge. Es gibt keine andere Erklärung, oder? Ohne ihn wäre sie eine lebende Zielscheibe geworden und wahrscheinlich längst tot. Was jedoch genau von ihr erwartet wird, ist ihr nicht ganz klar.
Nachdem die Wache einen Blick in den Raum geworfen hat und weitergegangen ist, nimmt Pressia ihren Mut zusammen und bricht das Schweigen. »Worauf warten wir?«
»Auf unsere Befehle«, flüstert der Einbeinige.
Pressia weiß nicht, woher er das weiß, aber es klingt plausibel. Pressia wartet darauf, dass ihr Training anfängt. Ihr Offizierstraining.
Die Wache erscheint an der Tür und sagt einen Namen, Dreslyn Martus, und einer der Jungen steht auf und folgt ihr nach draußen.
Er kommt nicht wieder zurück.
Der Tag zieht sich in die Länge. Manchmal denkt Pressia an ihren Großvater. Sie fragt sich, ob er die eigenartige Frucht gegessen hat, mit der die Frau für das Nähen ihrer Wunde bezahlt hat. Sie denkt an Freedle. Hat ihr Großvater seine Gelenke geölt? Sie denkt an die Schmetterlinge auf dem Fenstersims. Hat er sie auf dem Markt als Tauschobjekte eingesetzt? Wie viele sind wohl noch übrig?
Sie versucht sich Bradwell bei der nächsten Versammlung vorzustellen. Wird er noch an sie denken? Wird er sich wenigstens fragen, was aus ihr geworden ist? Was, wenn sie der Offizier ist, der eines Tages in eine dieser Versammlungen platzt? Er hat nicht nach ihr gesucht, und das könnte ihre Chance sein, ihn im Hauptquartier abzuliefern. Aber sie würde ihn entkommen lassen – natürlich. Er würde ihr seine Freiheit verdanken. Höchstwahrscheinlich jedoch sehen sie sich nie wieder.
Sie lauscht den Schüssen in der Ferne und versucht eine lockere Abfolge zu erkennen, vergeblich.
Sie denkt ans Essen. Natürlich. Hoffentlich gibt es noch mehr davon. Es ist verwirrend, wie sehr sie sich danach sehnt, dass sich jemand um sie kümmert. Wenn sie es schafft, die Erwartungen zu erfüllen, wird sie vielleicht Offizier und kann Schutz für ihren Großvater organisieren. Wenn sie sich retten kann, dann vielleicht auch ihn.
»Pressia Belze.« Die Wache steht wieder in der Tür.
Pressia steht auf und folgt ihr nach draußen.
Diesmal sehen ihr alle nach.
Draußen im Gang sagt die Wache: »Du bist eingeladen, das Spiel zu spielen.«
»Was für ein Spiel?«, fragt Pressia.
Die Wache sieht sie an, als wollte sie ihr den Kolben des Gewehrs in den Leib rammen, doch Pressia ist Offiziersanwärterin. Sie trägt das Armband mit der Klaue. »Ich weiß es nicht genau«, sagt die Wache, und Pressia begreift, dass sie die Wahrheit sagt. Sie weiß es nicht, weil sie nie eingeladen wurde, das Spiel zu spielen.
Die Wache führt sie einen weiteren Gang hinunter und durch eine Hintertür nach draußen, und dann steht Pressia im Freien. Es ist kalt. Es ist Vormittag. Pressia ist überrascht, dass ihr das Zeitgefühl abhandengekommen ist.
Ein Stück weiter unten, am Fuß des Hanges, ist ein Wald, verkohlt und nackt von den Bomben. Sie kann sich vorstellen, wie er früher ausgesehen haben muss – größere Bäume, raschelnde Blätter, umherfliegende Vögel. »Muss hier wunderschön gewesen sein, im Davor«, sagt sie.
»Was?«, fragt die Wache.
Pressia ist verlegen. Sie wünscht, sie hätte es nicht laut ausgesprochen. »Nichts«, sagt sie.
»Dort. Da unten«, sagt die Wache. »Siehst du ihn?«
Pressia entdeckt El Capitán in den Schatten. Von hier aus sieht er aus wie ein Buckliger, mit seinem Bruder Helmud. Die Spitze seiner Zigarre glüht. Er hat ein Gewehr vor der Brust, dessen Riemen er um sich und Helmud gelegt hat.
Pressia dreht sich zu der Wache um. »Das Spiel wird hier draußen gespielt?«, fragt sie.
Hat sie ein Kartenspiel erwartet? Ihr Großvater hat ihr früher irgendwann mal erklärt, wie man Pool spielt – die bunten Kugeln, die Stöße über Bande, die Taschen, die Queues.
»Jepp. Hier draußen.«
Pressia mag keine Wälder und kein Unterholz.
»Wie heißt dieses Spiel?«, fragt sie.
»Das Spiel«, sagt die Wache.
Die Art, wie sie es sagt, gefällt Pressia nicht, aber sie tut unberührt. »Sehr originell. Als würde man eine Katze Katze nennen.«
Die Frau starrt sie für einen Moment ausdruckslos an, dann gibt sie Pressia eine Jacke, die sie über dem Arm getragen hat.
»Für mich?«
»Zieh sie an.«
»Danke.«
Die Wache antwortet nicht. Sie kehrt in das Gebäude zurück und schließt die Tür hinter sich.
Pressia mag die Jacke – wie sie sich um sie herum aufbläht. Wie ein warmes Federbett. Nichts geht durch, nicht die Kälte, nicht der Wind, der immer wieder in Böen kommt und geht. Das sind die Kleinigkeiten, die die Leute wirklich schätzen sollten. Einfache Freuden. Das ist alles, was sie in diesem Augenblick hat. Die Jacke ist warm, und manchmal sollte man für Kleinigkeiten dankbar sein. Wann hat sie sich zum letzten Mal so behaglich gefühlt wie in dieser Jacke? So warm und geborgen? Sie weiß, dass sie hier draußen sterben kann. Diese ganze Offiziersgeschichte ist Unsinn. Das Spiel könnte darin bestehen, dass sie diejenige ist, auf die Jagd gemacht wird, das weiß sie. Wenigstens, denkt sie, sterbe ich dann in einem warmen Mantel.
Sie geht den Hang hinunter, während sie überlegt, was sie zu El Capitán sagen soll. Wie soll sie ihn anreden? Mit El Capitán? Es ist ein komischer Name. Hat er ihn sich selbst ausgedacht? Und wenn Pressia ihn so nennt, klingt es dann gezwungen oder – schlimmer noch – unaufrichtig? Sie will nicht, dass El Capitán denkt, sie mache sich über ihn lustig. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihm klar wird, dass Pressia keine echte Verbindung zu dem Reinen hat. Sie ist ihm auf der Straße begegnet, zufällig. Sie hat den Reinen zu seiner alten Adresse geführt, zu einem Trümmerhaufen. Das ist alles. Sie hofft, dass sie einen positiven Eindruck bei ihm hinterlassen kann, bevor er das alles herausfindet. Falls Eindrücke hier irgendetwas zählen. Sie beschließt, ihn überhaupt nicht mit seinem Namen anzusprechen.
Als sie am Fuß des Hangs angekommen ist, bleibt sie für einen Moment unentschlossen stehen. Sie weiß nicht, wie sie anfangen soll. El Capitán pafft seine Zigarre, und sein Bruder starrt Pressia aus seinen weit auseinanderstehenden Augen an.
El Capitán wirkt angewidert und kraftlos. Er mustert Pressia aus den Augenwinkeln und schüttelt den Kopf, als könnte er das alles nicht verstehen und als fügte er sich dennoch einer getroffenen Entscheidung. Er reicht Pressia ein zweites Gewehr. »Ich schätze, du hast keine Ahnung, wie man schießt.«
Pressia nimmt das Gewehr in die Hand wie ein Musikinstrument – oder eine Schaufel. Sie hat noch nie ein Gewehr aus der Nähe gesehen, geschweige denn, eins in den Händen gehalten. »Ich hatte noch nie das Vergnügen«, antwortet sie.
»Es geht so«, sagt El Capitán und nimmt ihr das Gewehr unwirsch aus der Hand. Er zeigt ihr, wie man es hält, wie man zielt und abdrückt, dann gibt er es ihr zurück.
Sie hält das Gewehr mit ihrer guten Hand und balanciert den Schaft auf der Puppenkopffaust.
Der Puppenkopf lässt El Capitán stutzen, bemerkt sie. Doch er ist an Verschmelzungen gewöhnt. Er hat sicher selbst seinen Teil an Kommentaren abgekriegt, oder etwa nicht? Ein Mann, der seinen Bruder auf dem Rücken trägt? Er sagt nur: »Kannst du ihn wenigstens am Handgelenk bewegen? Sicher zugreifen?«
Klar kann Pressia das. Sie musste im Laufe der Jahre sicheres Zugreifen lernen.
Dann stößt er sie gegen den Ellbogen, korrigiert so ihre Haltung. Für einen Moment macht er einen fast brüderlichen Eindruck, und Pressia muss unwillkürlich an ihren Großvater denken, wie er ihr beigebracht hat, einen imaginären Golfschläger zu schwingen, indem er die Arme von hinten um sie gelegt und seine Finger auf ihre gelegt hat. Es gab grüne, wellige Rasenflächen, die sich bis in alle Ewigkeit zu erstrecken schienen, hat er erzählt, und die Golfschläger trugen manchmal kleine Strickmützen mit Bommeln. Doch die Milde des Augenblicks hält nicht vor. El Capitán starrt sie an. »Ich begreife das nicht«, sagt er, lässt seine Zigarre fallen und tritt den Stummel mit dem Absatz aus.
»Was?«, fragt sie.
»Wieso ausgerechnet du?«
Pressia zuckt die Schultern, und er starrt sie misstrauisch an. Dann hustet er und spuckt aus. »Schieß nicht sofort, okay? Wir wollen niemandem verraten, wo wir sind. Mach dich mit der Waffe vertraut und übe das Zielen. Atme tief ein, leg den Finger an den Abzug, atme halb aus. Dann drückst du ab.«
»Drückst du ab«, flüstert Helmud, und Pressia zuckt fast zusammen. Sie hat ihn beinahe vergessen.
Pressia zielt und denkt an ihren Atem. Sie atmet ein, hält die Luft an, stellt sich den Knall des Schusses vor und lässt das Gewehr wieder sinken, während sie ausatmet.
»Okay, vergiss das nicht«, sagt El Capitán und drückt den Lauf nach unten. »Und ziel nicht auf mich, während wir gehen.«
Pressia denkt an Helmud. Sollte El Capitán nicht »wir« sagen anstatt »ich«? Ziel nicht auf uns, während wir gehen?
Er klopft ihr auf den Rücken. »Los, komm mit!«
»Los, komm mit!«, flüstert sein Bruder Helmud.
»Aber was ist das für ein Spiel?«, will Pressia wissen.
»Es gibt keine richtigen Regeln. Es ist eine Art Fangen. Bring deinen Gegner zur Strecke – und dann, anstatt ihn zu fangen, schieß.«
»Und was jagen wir?«
»Wen jagen wir«, verbessert El Capitán.
Pressia denkt an ihre Jacke. Es fühlt sich an, als würde sie in warmer Watte gehen. »Wen also?«
»Einen Neuen. Jemanden wie dich. Außer, dass dieser Neuankömmling hier nicht so ein Scheiß-Glück hat wie Pressia Belze.« Sie mag es nicht, wie er immer wieder ihr Glück betont. Als würde er sich über sie lustig machen.
Pressia wirft einen Blick auf Helmud.
»Ist der Neue bewaffnet?«, fragt sie.
»Unbewaffnet. So lauteten die Befehle. Wir fangen auf dem untersten Level mit dir an. Level A. Betrachte das hier als Teil deiner Offiziersausbildung.«
Sie bewegen sich über einen ausgetretenen Pfad durch den Wald, einen Hügel hinab. »Wer hat die Befehle erteilt?«, fragt sie und hofft, nicht zu dreist zu wirken. Andererseits sollen Offiziere ja unerschrocken sein.
»Ingership«, antwortet El Capitán. »Ich hatte gehofft, er hätte das Spiel vergessen. Ist eine Weile her. Aber Befehle sind Befehle.« Was, wenn er den Neuen nicht erschießt, sondern ihn entkommen lässt? Müssen Befehle immer befolgt werden? Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie im Offizierstraining ist. Sie soll lernen, solche Fragen nicht zu stellen.
Pressia hört ein Geräusch hinter ihnen. Ist das der Neue, auf den sie schießen soll? El Capitán dreht sich nicht um, deshalb macht Pressia es auch nicht. Sie will nicht auf einen Neuen schießen, jemanden wie sie selbst, nur mit nicht ganz so viel Glück. Pressia weiß, dass ihr Glück nicht bis in alle Ewigkeit anhält. Das hier ist nur ein Irrtum. Irgendwann wird irgendjemand, vielleicht sogar dieser Ingership selbst, von irgendwoher kommen und sagen, dass sie das falsche Mädchen erwischt haben. Nicht Pressia Belze, werden sie sagen. Wir haben jemand anderes gemeint. Und dann irrt sie hier draußen im Wald herum und wird von El Capitán gejagt und irgendeinem anderen Offiziersanwärter, der noch nie im Leben das Vergnügen hatte, ein Gewehr abzufeuern. Pressia hat Spiele noch nie gemocht. Sie war noch nie gut darin. Bradwell … sie wünscht, er wäre hier draußen bei ihr. Würde er einen Neuen erschießen? Nein. Er würde schnell rausfinden, wie er sich widersetzen könnte, das Richtige tun, seinen Standpunkt vertreten. Sie versucht nur zu überleben. Daran ist nichts verkehrt. Tatsächlich wünscht sie sich fast, er könnte sie jetzt sehen, allerdings nur ein Foto, ein Mädchen im Wald, mit einem Gewehr. Wenigstens sieht es so aus, als könnte sie auf sich selbst aufpassen.
Nach einer Weile bleibt El Capitán stehen. »Hörst du das?«
Pressia hört etwas, ein leises Rascheln, doch es ist nur der Wind in den Zweigen. Sie blickt nach rechts und bemerkt eine Gestalt, die von einem Baum zum nächsten humpelt und dann außer Sicht verschwindet. Eine Redewendung aus ihrer Kindheit kommt ihr in den Sinn: Komm heraus! Komm heraus, wo auch immer du steckst! Es erfüllt sie mit nervösem Grauen. Bleib, wo du bist, drängt sie in Gedanken die Gestalt. Komm nicht aus deinem Versteck, komm nicht heraus!
El Capitán geht ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung, dann bleibt er stehen. Er zeigt mit dem Gewehr auf etwas am Boden. »Sieh mal«, sagt er.
Pressia tritt zu ihm und sieht einen sich windenden rötlichen Pelz und glänzende Augen, eine zarte, schweineartige Schnauze mit drahtigen Barthaaren, doch der Körper ähnelt einem Fuchs. Das Tier ist in einer kleinen Falle aus Stahl gefangen.
»Was ist das?«
»Irgendein Hybride, keine Ahnung. Er ist mutiert, hat sich weiterentwickelt. Er durchläuft die Generationen schneller als vorher. Sieh her.« Er schubst mit dem Lauf die Klaue an, und sie glitzert metallisch. »Nur die Stärksten überleben.«
»Die Stärksten«, sagt Helmud auf seinem Rücken.
»Genau wie bei uns, richtig?« El Capitán sieht Pressia an. Er erwartet ihre Zustimmung, und sie beeilt sich, ihm beizupflichten.
»Richtig.«
»Das ist es jedenfalls, was auch mit unserer DNS passieren wird, im Lauf der Zeit«, sagt El Capitán. »Einige von uns werden Nachkommen mit Verschmelzungen hervorbringen, die sie stärker machen, und andere werden aussterben. Das da ist jedenfalls noch essbar.«
»Wie wird es getötet? Erschossen?«, fragt Pressia.
»Schießen ist nicht gut für das Fleisch. Also lässt du es, wenn du es vermeiden kannst.« El Capitán blickt sich um und hebt dann einen Stein vom Boden auf. Er hält ihn für einen Moment über dem Kopf, zielt, dann schlägt er dem Tier den Schädel ein. Es zuckt. Seine Metallklaue schließt sich, dann werden seine Augen stumpf und glasig.
Die Brutalität lässt Übelkeit in Pressia aufsteigen, aber sie zeigt es nicht. El Capitán behält sie aufmerksam im Auge, versucht ihre Widerstandskraft einzuschätzen. So scheint es zumindest.
»Vor ein paar Wochen habe ich eine Ratte gefangen«, berichtet er. »Sie war so groß wie ein Hund und hatte eine Kette als Schwanz. Das ist wirklich krank hier draußen. Alle möglichen Abartigkeiten.«
»Abartigkeiten«, sagt Helmud.
Pressia ist erschüttert. Ihre Hand zittert. Um es zu verbergen, packt sie das Gewehr fester. »Warum sollte ich herkommen?«, fragt sie. »Nur um das Spiel zu spielen?«
»Von jetzt an ist alles ein Spiel«, sagt El Capitán und entriegelt die Falle. »Wenn du verlierst, bist du tot. Gewinnen bedeutet, dass du weiterspielst. Manchmal wünschte ich, ich würde verlieren. Müde. Ich werde müde, das ist alles. Weißt du, was ich meine?«
Sie weiß es, doch sie ist überrascht, dass er es laut ausgesprochen hat, dass er so ehrlich ist und sich so verletzlich zeigt. Sie erinnert sich an die Zeit, als sie sich ins Handgelenk geschnitten hat. Wollte sie wirklich den Puppenkopf abtrennen, oder war sie in Wirklichkeit einfach nur müde? Für einen Moment fragt sie sich, ob er sie auf die Probe stellt. Soll sie ihm sagen, dass sie keine Ahnung hat, wovon er redet, ihm zeigen, dass sie hart ist, Offiziersmaterial? Doch es ist etwas an der Art und Weise, wie er sie ansieht, und sie kann nicht lügen. Sie nickt. »Ich weiß genau, was du meinst.«
El Capitán deutet auf das tote Tier. Er zieht einen Stoffsack aus seiner Jacke und verfrachtet den Kadaver hinein. Der Stoff färbt sich rot, ein heller roter Fleck. »Das ist das erste Mal seit einer Woche, dass ich eins von den Viechern in der Falle habe.«
»Was meinst du damit?«
»Irgendjemand war an meinen Fallen und hat sie leer gemacht, bevor ich die Beute selbst holen konnte.«
»Und wer soll das sein?«
El Capitán macht die Falle mit dem Stiefel wieder scharf. Über die Schulter spricht er mit seinem Bruder. »Wir können ihr doch vertrauen, oder? Können wir dieser Pressia Belze vertrauen?«
»Belze, Belze!«, sagt Helmud aufgeregt.
»Hör zu«, sagt El Capitán zu Pressia. »Ich bin bereit, mich großzügig zu zeigen. Wir können unser eigenes Fleisch haben, du und ich. Wir sind nicht auf den Scheiß angewiesen, den sie in der Kantine servieren.« Er starrt Pressia an. »Dieses Hähnchen vor ein paar Tagen hat doch gut ausgesehen, oder nicht?«
Pressia nickt. »Aber mein Essen war nicht schlecht«, sagt sie. »Besser als das der anderen.«
»Die anderen haben verdammt noch mal keine Ahnung«, sagt El Capitán. »Und das wird immer so bleiben. Du hingegen …« Seine Augen suchen den Wald ab.
»Was ist mit mir?«
»Bleib dicht bei mir«, sagt er leise. »Ich kann sie hören. Manchmal sind sie so schnell wie Kolibris. Hörst du sie auch?«
Pressia spitzt die Ohren. Kommt nicht heraus. Bleibt, wo ihr seid, wo immer ihr seid. »Auf was muss ich achten?«, fragt sie.
»Die Luft wird elektrisch, wenn sie in der Nähe sind.« El Capitán beugt sich vor und geht weiter, langsam, leise.
Pressia folgt ihm. Sie mag das Gewicht des Gewehrs in ihrer Hand. Sie ist erleichtert, dass es nicht bloß ein Golfschläger ist. Sie wünschte, ihr Großvater hätte ihr mehr über Waffen erzählt anstatt über imaginäre Neuner-Eisen und Putter.
Hinter einem Busch geht El Capitán in die Hocke. Er nickt Pressia zu, sich neben ihn zu kauern. »Sieh dir das an.«
Vor ihr liegt eine Lichtung, auf der mal ein Haus stand. Es ist nur noch ein Trümmerhaufen. Daneben ein Klumpen Plastik, wahrscheinlich ein ehemaliges Klettergerüst. Außerdem eine riesige Metallfaust, zusammengeballt, als hätte sie sich um irgendetwas geschlungen. Pressia kann es nicht genau erkennen.
»Da sind sie«, sagt El Capitán. Er ist eigenartig leise, wie gelähmt.
In den Schatten unter den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung sieht sie schnelle Bewegungen. Ganz anders als die humpelnde Gestalt, die sich hinter den Bäumen versteckt hat. Sie sind groß, leichtfüßig, und sie bewegen sich in einer Art Formation. Pressia sieht zwei von ihnen, dann noch einen dritten. Sie tauchen unter den Bäumen auf, es sind junge Männer mit breiten Gesichtern. Sie tragen enge, aschefarbene Tarnanzüge, die ihre Arme frei lassen. Ihre geschmeidige glatte Haut scheint in ihrer Makellosigkeit zu leuchten. An den muskelbepackten Armen sind Waffen angebracht, massives schwarzes Metall, vielleicht sogar eingebaut. Sie neigen die Köpfe hierhin und dorthin, als hörten sie etwas in weiter Entfernung, und sie schnüffeln prüfend. Ihre Körper sind durchtrainiert. Zwei haben gewaltige Oberkörper, der dritte mächtige Schenkel. Ihre Haare sind kurz geschnitten. Wenn sie sich nicht mit großer Geschwindigkeit bewegen und ihr Atem dampfend hinter ihnen schwebt, dann schreiten sie beinahe elegant. Sie haben übergroße Hände, nein, Klauen, aber sie sind immer noch menschlich. Normalerweise wäre Pressia starr vor Angst, doch wegen der eigenartigen Eleganz dieser Geschöpfe und der hingerissenen Furchtlosigkeit von El Capitán bleibt sie ruhig.
»Ich habe die drei schon früher gesehen. Vielleicht finden sie es gut, dass sie ein Opfer dreiteilen können.«
»Wer sind sie?«, flüstert Pressia.
»Du musst nicht flüstern«, sagt El Capitán. »Sie wissen, dass wir hier sind. Wenn sie uns töten wollten, hätten sie das längst getan.«
Pressia beobachtet, wie einer der drei Männer auf den Plastikhügel springt. Er schaut in die Ferne, als könnte er meilenweit sehen. »Wo kommen sie her?«
Die drei Geschöpfe bewegen sich unablässig, ruhelos, und El Capitán scheint aufgeregt, beinahe jungenhaft. Zum ersten Mal hat sie das Gefühl, dass er nicht so viel älter ist als sie. »Ich hatte gehofft, dass sie sich zeigen, aber ich war nicht sicher. Jetzt hast du sie auch gesehen. Ich bin nicht mehr allein.«
Pressia denkt an den Bruder von El Capitán. Du bist nie allein, denkt sie.
»Sie suchen jemanden oder etwas.« El Capitán dreht sich zu Pressia um. »Du weißt nicht zufällig irgendwas darüber?«
Pressia schüttelt den Kopf. »Worüber?«
»Ich finde es interessant, dass sie zur gleichen Zeit aufgetaucht sind wie du.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich habe noch nie im Leben etwas wie diese drei dort gesehen.« Pressia denkt an den Reinen, wie er mitten auf der Straße gestanden hat. Suchen sie vielleicht ihn? »Ich weiß ja noch nicht mal, wer oder was sie sind.«
»Irgendjemand hat rausgefunden, wie er jede gewünschte Eigenschaft von Tieren oder Gegenständen mit einem Menschen verschmelzen kann«, sagt El Capitán. »Hyper-Gehirn, Hyper-Körper.«
»Das Kapitol?«, fragt Pressia.
»Ja. Das Kapitol. Wer sonst? Aber sie wissen, dass wir hier sind. Warum also töten sie uns nicht?«, sagt El Capitán. »Wir sind der Feind, oder nicht? Oder zumindest essbar.«
»Zumindest essbar«, sagt Helmud.
Pressia beobachtete die Wesen, ihre plötzlichen schnellen Bewegungen, das eigenartige Summen – El Capitán hat recht mit seiner Bemerkung. Es liegt definitiv etwas Elektrisches in der Luft.
»Siehst du den da?« El Capitán zeigt auf einen, der sie direkt anzusehen scheint. »Er hat mich beim letzten Mal schon beobachtet. Er scheint irgendwie menschlicher zu sein als die anderen. Siehst du?«
Pressia ist da nicht so sicher. Alle drei scheinen ihr so vollkommen fremdartig, dass sie Mühe hat, Menschen in ihnen zu sehen. »Vielleicht«, sagt sie.
»Sie sind mit ein paar hübschen Spielsachen verschmolzen, he?«, sagt El Capitán. »Die Waffen sind ultramodern, und ich wäre nicht überrascht, wenn sie auch noch Computerchips implantiert hätten. Intelligente Waffen. Aber es sind auch Tiere in ihnen. Womit auch immer sie verschmolzen wurden, sie wurden auf einer tiefen Ebene zu Tieren. Vielleicht Wildkatzen oder Bären. Vielleicht Falken, wegen der scharfen Augen. Vielleicht sogar ein Sonar wie bei Fledermäusen. Siehst du, wie sie die Köpfe drehen?«, fragt El Capitán. »Ganz egal, was in ihnen steckt – sie wurden blutdürstig.«
»Blutdürstig«, flüstert Helmud.
Beim Klang dieses Wortes drehen alle drei wie auf ein Kommando die Köpfe und starren zu Pressia, El Capitán und seinen Bruder im Gebüsch.
»Beweg dich nicht«, sagt El Capitán.
Pressia wagt nicht zu atmen. Sie schließt die Augen und denkt an ihren Mantel. Die Wärme darin. Wenn ich hier sterbe, dann wenigstens …
In diesem Moment weckt etwas anderes die Aufmerksamkeit der drei Geschöpfe, und sie jagen darauf zu. Elektrisches Summen erfüllt die Luft. Sie brechen durch die Bäume.
Die Luft wird still.
Pressia sieht El Capitán an. »Warum hast du mir das gezeigt?«
El Capitán steht auf, starrt auf seine Stiefel. »Ingership hat seine Befehle dich betreffend geschickt.«
»Wer ist dieser Ingership eigentlich?«
El Capitán stößt ein grunzendes Lachen aus. »Ingership ist der Mann mit dem Plan.« Er sieht Pressia aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich habe noch nie Befehle wie diese erhalten. Einen Kümmerling in die Offiziersausbildung zu stecken, einfach so. Und ein Mädchen obendrein. Ingership will dich sehen – persönlich. Und dann tauchen auch noch diese Wesen auf. Es hat irgendwas mit dir zu tun«, sagt er anklagend.
»Ich wüsste nicht, was. Ich bin ein Nichts. Ein elendes Nichts, wie alle anderen auch.«
»Du musst irgendwas wissen. Du hast irgendwas. Sie brauchen dich aus irgendeinem Grund. Es hängt alles zusammen«, sagt er und wirbelt mit den Fingern in der Luft. »Mir ist nur noch nicht klar, wie. Es gibt keine Zufälle, richtig?«
»Ich weiß nicht«, sagt Pressia. »Vielleicht gibt es ja doch Zufälle.«
»Trotzdem«, sagt El Capitán. »Besser, ich bin nett zu dir. Um meinetwillen.«
»Um meinetwillen«, sagt Helmud. El Capitán blickt über die Schulter zu seinem Bruder, der den Kopf zur Seite geneigt hat.
Genau in diesem Moment ertönt ein Geräusch nicht allzu weit entfernt, ein Aufschrei, lautes Rascheln.
»Wir haben was erwischt«, sagt El Capitán.
Pressia schließt für eine Sekunde die Augen, dann steht sie auf und folgt El Capitán zurück zur Falle.
Dort liegt der einbeinige Junge aus Pressias Zimmer, der einzige, der sie angesehen hat, als sie ankam. Er muss auf allen vieren gekrochen sein, denn es ist sein Oberkörper, den die Falle erwischt hat. Die Metallzähne haben sich in seine Brust gebohrt. Er blutet durch die dünne Jacke hindurch. Er dreht sich um, starrt Pressia an und hustet Blut.
»Also, es ist zwar nicht besonders sportlich«, sagt El Capitán, »aber du könntest ihn erschießen, zur Übung.«
Der Junge sieht Pressia an. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Die Adern an seinem Hals treten blau hervor.
Pressia sagt nichts. Sie hebt das Gewehr. Zitternd.
»Geh wenigstens ein paar Schritte zurück«, sagt El Capitán. »Damit du ein bisschen zielen musst.«
Pressia weicht ein paar Schritte zurück, und El Capitán folgt ihr. Sie hebt das Gewehr, zielt. Atmet tief ein und dann zur Hälfte wieder aus. Hört auf zu atmen. Doch bevor sie den Abzug drückt, wird ihr bewusst, dass sie das Gewehr nur ein Stück weit anheben und nach rechts schwenken muss, um El Capitán und seinen Bruder zu töten. Wenn sie nur diesen einen Schuss hat, dann ist es das, was sie damit tun sollte. Sie weiß es so, wie sie die wirklich wichtigen Dinge in ihrem Leben immer gewusst hat. Sie könnte schießen und fliehen.
Pressia kneift das linke Auge zu und zielt. Sie zielt auf den Kopf des Jungen. Dann atmet sie ruhig ein, genau wie El Capitán es gesagt hat, lässt den Atemzug halb entweichen … doch sie drückt nicht ab.
»Ich kann ihn nicht töten«, sagt sie.
»Warum nicht? Er ist direkt vor dir.«
»Ich bin keine Mörderin«, sagt sie. »Vielleicht können wir ihn zurücktragen, und jemand kann ihm helfen. Ihr habt doch Ärzte, oder?«
»So funktioniert das Spiel aber nicht«, sagt El Capitán.
»Wenn du jemanden umbringen musst für dein Spiel, dann nimm mich. Ich kann ihn nicht töten. Ich kann einfach nicht. Er hat mir nichts getan.«
El Capitán nimmt sein eigenes Gewehr von der Schulter und klemmt es sich unter den Arm. Für einen Moment denkt Pressia, dass er ihr Angebot annimmt. Dass er sie erschießen wird. Ihr Herz hämmert, erstickt sämtliche anderen Geräusche um sie herum. Sie schließt die Augen.
Dann zischt der einbeinige Junge am Boden zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch: »Tu es!«
Pressia öffnet die Augen. El Capitán zielt mit seinem Gewehr auf den Jungen. Sie überlegt, El Capitán wegzustoßen, ihn zu attackieren – als wenn sie das könnte. Aber der Junge will sterben. Sein Blick ist flehend. Er hat El Capitán angebettelt, es zu tun. Und so beobachtet Pressia, wie sich El Capitáns Brustkorb einmal hebt und senkt, und wie er den Abzug betätigt.
Der Kopf des Jungen wird nach hinten gerissen. Sein Gesicht ist verschwunden. Sein Körper erschlafft.
Und Pressia fängt wieder an zu atmen.