PARTRIDGE

Käfig

Der Weg in die Meltlands führt durch die zerstörte Stadt, und Pressias Zuhause liegt nicht weit ab vom Weg.

»Ich will nach ihrem Großvater sehen«, sagt Bradwell. »Ich weiß, wo sie wohnt.«

Partridge ist völlig vermummt; von seiner Haut ist nichts zu sehen. Bradwell hat ihm außerdem geraten, die Schultern nach vorn zu ziehen, als hätte er einen Buckel, und beim Gehen ein Bein nachzuziehen. Normalerweise würden sie sich an Seitenstraßen halten oder unteridisch laufen, doch dafür ist jetzt keine Zeit.

Sie bahnen sich ihren Weg durch die belebte Marktzeile – je mehr Menschen und Gewimmel, desto einfacher ist es, darin unterzutauchen, hat Bradwell erklärt. Zu beiden Seiten sind Leute, die halbe Roboter sind. Partridge sieht freiliegende Zahnräder und Drähte und Haut, die mit Glas und Plastik verschmolzen ist. Er bemerkt einen Handrücken, der aus einer alten Coladose besteht, eine Brust aus dem weißen emaillierten Metall einer Haushaltsmaschine – einer Waschmaschine? Hier ein Schädel mit einem birnenförmigen Auswuchs an der Seite, Haut, die einen Kopfhörer mit einem Ohr verschmilzt. Er sieht eine Hand mit einem darin eingelassenen Tastenfeld. Ein anderer benutzt einen Stock, weil er ein totes Bein vor sich herrollt. Manchmal ist es so wenig wie Pelz auf einem Unterarm oder eine verkrüppelte Hand, klein wie eine Pfote.

Was ihn jedoch am meisten überrascht, sind die Kinder. Es gibt nicht viele Kinder im Kapitol. Große Familien werden nicht gerne gesehen, und manche Paare dürfen überhaupt keine Kinder bekommen, wenn es Probleme mit ihren genetischen Anlagen gibt.

»Hör auf zu gaffen!«, zischt Bradwell ihm zu.

»Ich bin es nur nicht gewohnt, so viele Kinder zu sehen«, flüstert Partridge zurück.

»Sie verbrauchen zu viele von euren Ressourcen, hab ich recht?«

»Es klingt wie was Schlechtes, wenn du das sagt.«

»Sieh einfach geradeaus, okay?«

»Das ist schwerer, als du glaubst.«

Sie gehen ein Stück weiter. »Woher weißt du, wo Pressia wohnt? Bist du öfter bei ihr?«, fragt Partridge in dem Versuch sich abzulenken.

»Ich bin ihr eine Woche vor ihrem Geburtstag begegnet und hab später noch ein Geschenk vorbeigebracht.«

Partridge fragt sich, was hier wohl als Geschenk gelten mag. Er will auch sehen, wo Pressia lebt. Gleichzeitig fühlt er sich schuldig wegen seines Verlangens, ein Gefühl für das Alltagsleben zu bekommen wie ein Tourist, doch er kann es nicht leugnen. Er will sehen, wie das Leben hier läuft. »Was hast du ihr geschenkt?«

»Nichts, das dir irgendwas bedeuten würde«, antwortet Bradwell. »Ihr Zuhause liegt genau vor uns. Es ist nicht mehr weit.« Allmählich gewöhnt sich Partridge an Bradwell. Mit seiner Antwort meint er sinngemäß: »Halt die Klappe und hör auf, mich mit Fragen zu löchern.«

Die Gasse ist schmal. Es riecht nach Tieren und Moder. Die Behausungen sind in die Trümmer der früheren Gebäude gesetzt. Einige sind kaum mehr als ein paar Bretter, gegen eine Wand gelehnt.

»Hier ist es«, sagt Bradwell. Er geht zu einem Fenster, das aussieht, als wäre es erst vor Kurzem eingeschlagen worden. Im Rahmen stecken noch Glasscherben. Sie sehen in einen kleinen Raum mit einem Tisch, einem umgeworfenen Sessel, einem Bündel Kleidung auf dem Fußboden, das vielleicht ein Bett darstellen soll. Die Rückwand besteht aus Schränken, die Türen sind alle weit aufgerissen. Auf einer Tür sieht er ein Schild: Nur für Personal. »Was für ein Laden war das?«, fragt er.

»Ein Friseurladen, aber er ist zerstört. Das Büro im Hinterzimmer ist alles, was noch übrig ist.«

Partridge bemerkt einen Vogelkäfig auf dem Boden. Die Gitterstäbe auf einer Seite sind verbogen. An der Decke über dem Käfig ist ein Haken.

»Sieht verlassen aus«, sagt er.

»Das ist nicht gut«, sagt Bradwell. Er geht zur Tür und klopft vorsichtig. Die Tür steht einen Spaltbreit offen. Bradwells Klopfen lässt sie weiter aufschwingen.

»Hallo?«, ruft Partridge. »Jemand da?«

»Sie haben ihn mitgenommen«, sagt Bradwell. Er geht im Raum umher, sieht in die Schränke, geht zum Tisch. Er bemerkt etwas an der Wand, tritt näher.

»Vielleicht ist er nur unterwegs«, sagt Partridge und gesellt sich zu Bradwell.

Bradwell antwortet nicht. Er starrt auf ein Bild, das mit ungleichmäßigen Leisten aus Holz gerahmt an der Wand hängt. »Menschen mit Sonnenbrillen in einem Kino?«, fragt Partridge, nimmt das Bild vom Haken und betrachtet es genauer.

»3-D-Brillen«, sagt Bradwell. »Sie mochte dieses Bild sehr. Ich hab keine Ahnung warum.«

»War das das Geschenk, das du ihr gemacht hast?«

Bradwell nickt. Er wirkt erschüttert.

Partridge dreht das Bild um, und auf der Rückseite findet er ein weiteres Blatt Papier. Es ist durchzogen von Faltspuren und grau von Asche. Er kann den Text darauf kaum entziffern: Wir wissen, dass ihr hier seid, Brüder und Schwestern. Eines Tages werden wir aus dem Kapitol treten, um uns in Frieden mit euch zu vereinen. Bis dahin jedoch beobachten wir euch aus der Ferne, voller Gnade. Er sieht Bradwell an.

»Das ist die Botschaft«, sagt Bradwell mit einem Blick auf das kleine Blatt. »Ein Original.«

Partridge spürt eine Gänsehaut auf den Armen. Sein Vater hat das Okay für die Botschaft gegeben. Sie war Teil des Plans, von Anfang an. Brüder und Schwestern. Er hängt das Bild wieder an den Haken. Sein Magen rebelliert.

»Sie haben ihn mitgenommen«, sagt Bradwell und geht zum Fenstersims. Der Boden ist übersät mit Glassplittern und kleinen Stückchen Draht und Metall, manche mit Stoff verkleidet. Bradwell hebt etwas auf und hält es in der Hand.

»Was ist das?«, will Partridge wissen.

»Eins von Pressias Tierchen«, sagt Bradwell. »Sie macht sie selbst. Ihr Großvater hat mir welche davon gezeigt. Er war stolz auf sie.«

Jetzt erkennt Partridge, dass es ein Schmetterling ist. Mit grauen Flügeln und einem kleinen Aufziehwerk aus Draht auf den Rippen.

»Sie hat sie benutzt, um damit auf dem Markt zu handeln. Ihr Großvater hat vielleicht versucht, sie zu retten. Es gab einen Kampf.« Er hat recht. Partridge kann sich die Szene vorstellen, mit dem geborstenen Fenster, dem umgekippten Sessel, dem Käfig, der vom Haken gerissen wurde. »Das ist der einzige Schmetterling, der noch übrig ist.«

Partridge geht zu dem verbeulten Vogelkäfig. Er hebt ihn an dem kleinen Ring an der Spitze hoch und befestigt ihn wieder am Haken.

»Was immer in diesem Käfig war, es ist weg«, sagt Bradwell.

»Vielleicht ist es besser so«, sagt Partridge. »Frei, nicht mehr gefangen.«

»Meinst du?«, entgegnet Bradwell.

Partridge ist nicht sicher, was besser ist in dieser Welt – frei zu sein oder in einem Käfig zu sitzen. Es ist eine Frage, die er eigentlich beantworten können müsste. Wünscht sich ein Teil von ihm zurück ins Kapitol?